Eine ganz wesentliche Erkenntnis ereilt die Leser schon auf den ersten Seiten von "My Generation": Das Leben eines Rockstars ist harte Arbeit. Und es ist gefährlich. Aber nicht wegen der Drogen.
Zitat aus dem Buch: "Ich wärmte meine Stimme auf dem Weg in die Arena auf. Bei einer Übung packe ich mit einer Hand meine Zunge mit einem Handtuch, mit der anderen halte ich mein Kinn, während ich seltsame Skalen singe. Es klingt irre und es sieht irre aus, als wäre ich von einem Dämonen besessen. Ich hoffe, das es zumindest ein relativ melodiesicherer Dämon ist, trotzdem will man nicht gerade damit beschäftigt sein, wenn man einen Autounfall hat."
Das weiß die Frau leider nicht, die den Van mit voller Wucht rammt, der Roger Daltrey im Jahr 2000 zu einem Auftritt bringen soll. Und so landet der Sänger nicht zum ersten Mal in diesem Buch in der Notaufnahme. Anschließend tritt er trotzdem auf. Das sagt viel aus über die Disziplin dieses Mannes.
"Talkin' 'bout my generation"
Auch wenn er über sein Leben schreibt, schont er sich nicht. Der märchenhafte Aufstieg von The Who von den mittleren 60er- bis zu den späten 70er-Jahren geht einher mit exzessivem Drogenkonsum, Affären, unehelichen Vaterschaften. Daltrey verschweigt nichts davon.
Und er gibt spannende Einblicke in eine Musikbranche in Goldgräberstimmung. Obwohl The Who Arenen füllten und Dutzende Hits hatten, verdienten sie bis in die 70er-Jahre nicht besonders gut, denn ihre drogensüchtigen Manager gaben das Geld schubkarrenweise aus.
"Wir betraten die Bühne, wir spielten 'Tommy', wir flogen in einem anderen Helikopter zurück nach London. Job erledigt. Wer zahlte die Hubschrauber? Track Records. Wer bezahlte Track Records? Wir!"
Les-Paul-Gitarre als "Schlaginstrument"
Ebenfalls sehr offenherzig beschreibt Daltrey seine impulsiven Gewaltausbrüche, wenn er sich in die Enge getrieben fühlt, etwa bei den Proben für die Tour zum 1973er-Album "Quadrophenia". Ein Kamerateam will Promomaterial für die Tour filmen, Daltrey aber bestimmte komplizierte Songs nur einmal singen, um seine Stimme nicht zu gefährden. Durchaus vernünftig, sollte man meinen, doch Chefkomponist und Gitarrist Pete Townshend sieht das anders.
"Angetrieben von einer fast geleerten Flasche Cognac ging Pete ab wie ein Knallkörper. 'Du tust, was man Dir verdammt nochmal sagt!.' Die Roadies wussten, wozu ich im Stande war, und hielten mich fest. 'Lasst ihn los', schrie Pete. 'Ich bring ihn um den kleinen Scheisser.' Sie ließen mich los. Ehe ich mich versah, schwang er mit einer gut zehn Kilo schweren Les-Paul-Gitarre nach mir. Sie sauste knapp an meinem Ohr vorbei, streifte meine Schulter und hätte The Who um ein Haar ein sehr viel früheres Ende bereitet."
Da reicht es Daltrey, er schlägt einen sauberen Kinnhaken, und Townshend wacht im Krankenwagen auf.
Auch wenn man schon einiges über The Who wusste: So haarsträubend hätte man sich das Bandgefüge nicht vorgestellt. Andererseits sind Genie und Wahnsinn, Talent und Egomanie ja direkte Verwandte, was Daltreys detaillierte Anekdoten über seine Bandkumpane eindrücklich belegen. Dass The Who so fürchterlich laut spielten, lag zum Beispiel laut Daltrey daran, dass Bassist John Entwistle - unbestritten ein Virtuose seines Instruments - immer Angst hatte, nicht wahrgenommen zu werden. Meistens jedenfalls.
"Wir kamen zu dem Konzert, und wie durch ein Wunder spielte John wenn schon nicht leise, so doch wenigstens nicht ohrenbetäubend laut. Man konnte den Gesang hören. Man konnte alles hören. Dann kamen wir zu '5:15' und dem großen Basssolo. Und The Ox legte los. Wow. Ein Kontrast. Ein wunderschöner Moment. Nur dass er für den Rest des Gigs, ein trockenes Lächeln im Gesicht - mit fett aufgedrehtem Verstärker weiterspielte."
Die zwei Übriggebliebenen
Wenn Daltrey über die beiden Toten der Who schreibt, über John "The Ox" Entwistle und Schlagzeuger Keith Moon, ist sein Ton liebevoll, wehmütig und nicht ohne Schuldgefühle:
"Viele Male in meinem Leben musste ich hart zu Menschen sein, die an irgendeiner Droge hingen. Diejenigen, zu denen ich hart war, leben noch. Diejenigen, bei denen ich nicht hart genug war, haben es nicht geschafft. Und daran denke ich oft, wenn wir heute auftreten – wir beide, die wir übrig geblieben sind."
Sich selbst beschreibt der stimmgewaltige Sänger (nicht ohne Selbstironie) gerne als einfachen Anpacker, der sich schnell langweilt. Eine Tourpause in den frühen 70ern im Landhaus sieht etwa so aus:
"Woche eins: die dunkle Beize, mit denen die Viktorianer die Balken behandelt hatten, entfernen. Woche zwei: die Balken abschleifen. Woche drei und vier: die Balken abschleifen. Woche fünf: gelangweilt vom Balken-Abschleifen, deshalb Bau eines Home-Studios."
Ohne Pete wären The Who nicht so erfolgreich geworden
Wenn er dagegen über Pete Townshend schreibt, wirkt Daltrey wesentlich distanzierter, zumindest bei der Schilderung der ersten zwei Jahrzehnte. Doch – und dieser Sinneswandel lässt sich beim Lesen linear nachvollziehen – mit den Jahren wird Daltrey klar, was er an seinem Gitarristen hatte und hat. Ohne den Ideenreichtum von Pete Townshend wären The Who nie so erfolgreich gewesen:
"Wenn ich nachfühlen kann, wo Pete beim Schreiben eines Songs war, bin ich am Ursprung seiner Musik. Und die meisten dieser Songs stammen von einem Ort voller Schmerz, einem Ort der Seele. Anfangs habe ich mich schwergetan, diesen Ort zu finden, und dieses Ringen kann man hören. Aber dann habe ich ihn gefunden und bewohnt. Ich musste nicht Pete werden. Ich musste nur meine eigene Verletzlichkeit finden."
Pete Townshends Autobiographie im Jahr 2011 konnte man als reichlich weinerlich, selbstmitleidig, fast schon unsympathisch empfinden. Die von Roger Daltrey ist dagegen ein echtes Lesevergnügen – und sie bringt uns am Ende auch Pete Townshend wesentlich näher. Fast scheint es so, als bräuchte der Gitarrist seinen Sänger auch als Interpreten des eigenen Lebens. Insofern ist "My Generation" nicht nur das Buch eines Rockmusikers - es ist ein echter Freundschaftsdienst.
Roger Daltrey: "My Generation - Die Autobiografie"
C. Bertelsmann Verlag München, 2019. 384 Seiten, 24 Euro.
C. Bertelsmann Verlag München, 2019. 384 Seiten, 24 Euro.