Sigrid Fischer: Mehr Output in einem Schriftstellerleben kann es kaum geben: 50 Romane, über 100 Kurzgeschichten, Bestseller fast allesamt, etliche Filmklassiker sind daraus hervorgegangen - ob "Shining", "Dolores", "Carrie", "Es", "Die Verurteilten" ... Nach der Kritik, die wir eben gehört haben, wird es seine achtteilige Romanserie "The Dark Tower" vermutlich schwer haben, ein Leinwandklassiker zu werden. Zu Stephen Kings 70. Geburtstag im September kommt außerdem "Es" ins Kino, als Remake des Fernsehfilms der 90er. Bei soviel Quantität stellt sich eben die Frage nach der Qualität. Und die stelle ich dem Berliner Film- und Kulturwissenschaftler Marcus Stiglegger. Guten Tag nach Berlin!
Marcus Stiglegger: Guten Tag!
Fischer: Ja, steht bei Ihnen der Name Stephen King grundsätzlich erst einmal für sehenswert, lesenswert?
Stiglegger: Stephen King ist natürlich ein wichtiger Teil meiner Jugend. Ich habe zwischen elf und sechzehn die frühen Romane verschlungen in den 80er-Jahren. Das ist ein typisches Phänomen dieser Zeit. Man hat Romane wie "Shining", "Cujo" und "Carrie" - das war einfach Teil der damaligen populären Kultur - und natürlich auch die Filme, die dazu gehörten. Man hat das sehr parallel wahrgenommen. Das ist ein wichtiges Phänomen, das ist ein wichtiges Genre-Phänomen der damaligen Zeit, aber eben auch bis heute in dieser Kontinuität. Von daher - absolut, ja.
Literarisch wertvoll?
Fischer: Aber das klingt gerade so bei Ihnen, als ob solche Kategorien wie "Ist das eigentlich literarisch wertvoll?" oder so spielen dann keine Rolle mehr. Weil auch ganz viele Menschen - genau wie Sie natürlich - so geprägt sind.
Stiglegger: Also ich muss sagen, ich war damals sehr fasziniert davon, weil natürlich die Stephen-King-Romane an etwas rühren, was man in der beginnenden oder in der Pubertät also als sehr interessant empfindet, womit man sich beschäftigt und auseinandersetzen muss. Das sind natürlich Dinge wie Vergänglichkeit, Abschied-nehmen-Können, Ur-Ängste, Körper-Ängste und solche Dinge, Sexualität selbstverständlich. Romane wie "Christine", also über dieses besessene Auto, sind ja wirklich teenageraffin, die sind ja an dieses Publikum gerichtet als Film und als Roman. Die Frage, ob das qualitativ ist, würde ich zunächst einmal danach bewerten, ob das funktioniert. Und offensichtlich hat das ja eine massive Spur hinterlassen. Und Filme wie "Shining" und "Carrie" sind natürlich große, bedeutende Klassiker der Filmgeschichte geworden. Und was das auslöst, muss zumindest in einem gewissen Rahmen Wert haben und funktionieren.
Fischer: Ja nur, seltsamerweise, in den literarischen Kreisen hat er nie diese Ehrung bekommen. Da heißt es dann "Fließbandliteratur", "Groschenheft-Qualität" und so weiter. Was dem Mainstream natürlich generell auch - tendenziell - eher anhaftet. Aber diese hohe Produktivität mit all dem, was Sie da gerade beschreiben, was er ja auch an Themen hat - können Sie das nachvollziehen, dass man da so eins nach dem anderen wirklich raushaut?
Wir haben noch länger mit Marcus Stiglegger gesprochen -
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Stiglegger: Naja, er hat natürlich Schwächen. Es ist so, dass er offensichtlich damals schon ja täglich gearbeitet hat. Also er hat das ja als seinen Job kultiviert und den Vormittag offensichtlich mit Schreiben verbracht. Ich stelle mir das so vor, dass er verschiedene Projekte auch gleichzeitig zum Teil bearbeitet und eben an den Dingen weiter macht, die ihn gerade da inspirieren. Andererseits entsteht daraus natürlich nicht das eine große Werk. Für Stephen King, würde ich sagen, kann man sagen: Das King-Universum hat eine große Spur hinterlassen. Wenn man einzelne Romane herauspickt, gibt es natürlich bestimmte, die jetzt eine größere Eigenfunktionalität besitzen. Aber andererseits denke ich, die Qualität bei ihm ist in der Tat dieser gesamte, massive Output, das Universum, das er kreiert hat.
"Eine Auseinandersetzung mit der amerikanischen Moderne"
Fischer: Das haben Sie ja eben schon ein bisschen umrissen, indem Sie so genannt haben, Themen, die Sie eben auch damals beeindruckt haben schon als Jugendlicher. Kann man aber eigentlich dieses Univerum wirklich charakterisieren? Ist das wiedererkennbar? Oder ist es nicht eigentlich zu vielseitig, denn wir haben ja nicht nur Horror: Wir haben es mit Fantasy, mit Science-Fiction, mit Psychodramen, mit Western-Elementen zu tun. Kann man das eigentlich so umfassen?
Stiglegger: Naja, man muss sagen: Die Grundelemente sind eine Auseinandersetzung mit der amerikanischen Moderne. Und Stephen King ist ja - auch nach seinen eigenen Aussagen - sehr stark geprägt von bestimmten Ereignissen der amerikanischen Geschichte, die Ermordung von John F. Kennedy ist das natürlich. Dann die Auseinandersetzung eben mit seinen eigenen Erlebnissen: seine Begegnung mit dem Tod - es gibt ja diesen bekannten Unfall, den er miterlebt hat in seiner Kindheit - und solche Dinge. Das sind alles Elemente, die quasi eine zutiefst modern motivierte Auseinandersetzung mit der amerikanischen Gesellschaft der 60er-Jahre bis in die Gegenwart ermöglichen. Und daraus speisen sich auch seine Fantasy-Stoffe. Denn wenn man jetzt auch aktuell an "Der Dunkle Turm" denkt - das ist natürlich eine Parallelwelt, eine fantasybasierte, fantastische Welt, die aber gleichzeitig Reflexionen und Berührungspunkte zur Gegenwart hat und zur Moderne hat. Und wo eben Mythos und Technik sich berühren. Das ist, denke ich, etwas, was sehr geschickt ist bei ihm in dieser Verbindung und was auch belegt, warum er so aktuell geblieben ist.
Fischer: Und wenn wir einmal auf "Es" schauen, der ja jetzt im September dann auch noch einmal ins Kino kommt. Älterer Stoff - hat der dann so eine Art zeitlose Aktualität?
Stiglegger: Ich fand ja Stephen King immer eine Form von Jugendschriftsteller auch. Also auch wenn er erwachsene Themen - in Anführungszeichen - beschreibt, sind doch diese Erinnerungen an die Kindheit, der Verlust der Unschuld der Kindheit und der Jugend für ihn sehr wichtig. Und "Es" ist natürlich der wesentliche, prägnante Roman und dann natürlich in der Fernsehverfilmung auch etwas, was sehr oft zitiert wird. Obwohl der Fernsehfilm gar nicht so stark ist, wenn man aus der Distanz noch einmal sieht, berührt das offenbar etwas. Es geht darum, sich an die Kindheit zu erinnern. Diese Nostalgie in einer Ambivalenz zu erleben, aber auch zu merken, wo eben die Ängste ihre Wurzeln besitzen und wie man sich diesen Ängsten stellen muss und so weiter.
"Daran denkt man, wenn man einen Clown sieht"
Fischer: Welchen Einfluss muss man eigentlich Stephen King zugestehen - auf die Popkultur, auf Serien zum Beispiel, die wir heute gucken?
Stiglegger: Auf Fernsehserien hat das natürlich einen Einfluss gehabt. Während die frühen Versuche, Fernsehserien zu machen … Stephen King hat ja selbst eine "Shining"-Serie geschrieben, um den Film wieder richtigzustellen. Solche Dinge funktionierten nicht immer. Aber "Stranger Things" zum Beispiel ist umgekehrt keine Verfilmung von einem Werk von Stephen King, aber sehr stark inspiriert von diesen kindheitsbezogenen, kindheitsangstorientierten Szenarien, die natürlich in einer Mischung mit den 80er-Jahre-Modellen, die wir auch aus "Goonies" und "Explorers" und so weiter kennen, funktioniert. Und da ist sehr viel Stephen King drin.
Also Stephen King ist Teil der amerikanischen Popkultur geworden, wird entsprechend erinnert. Also jeder wird irgendwie wissen, Pennywise, der Horrorclown aus "Es" … Daran denkt man einfach. Also daran wird man auch denken, wenn man einen Clown sieht, weil sich das so stark und prägnant verwurzelt hat. Und andererseits ist Stephen King selbst natürlich jemand der die Popkultur reflektiert hat, der sehr oft Fernsehserien, also Sitcoms, Soap-Operas und natürlich vor allem Popsongs und Oldies und so weiter immer wieder zitiert und darauf aufbauend eben sich inspirieren lässt.
Fischer: Ab Donnerstag im Kino: "Der Dunkle Turm" und am 21. September das Remake von "Es,", beide nach Stephen King. Marcus Stiglegger, vielen Dank!
Stiglegger: Sehr gerne.
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