Wie oft spielen Künstler vor leeren Rängen und sind darüber sehr zerknirscht, denn leere Ränge bedeuten leere Kassen und letztere im schlimmsten Falle leere Mägen. Wenn niemand hereinkommt, gibt es kein Einkommen: das gehört zu den harten Wahrheiten des künstlerischen Unternehmertums. Und jeder, der dieses Business von der Pike auf gelernt hat, kennt die Gewissensfrage, ab wie vielen Besuchern man eine Vorstellung stattfinden oder ausfallen lassen soll. Jenseits ökonomischer Erwägungen geht es dabei auch um so wolkige Dinge wie Ehre und Erfolg. Ehre steckt schon in dem Wort Honorar, und Erfolg bemisst sich am Applaus. Kein Künstler wäre ganz zufrieden, wenn er nur Geld bekäme, doch keine Anerkennung. Und Anerkennung zählt nach Köpfen. Jeder möchte viel gelesen werden, große Hallen füllen, Zulauf haben und Publikumsrekorde brechen. Meist unausgesprochen und uneingestanden lechzt jeder nach Quote.
Jedenfalls gilt das in der Moderne. Früher herrschte ein ganz anderes Kunstverständnis. Die Werke mittelalterlicher Maler waren nicht für die Öffentlichkeit bestimmt; der Begriff 'Öffentlichkeit' existierte noch gar nicht. Von den mittelalterlichen Bildern sollten im Einzelfall Heil und Gesundung ausgehen; es handelte sich um sakrale Gegenstände, bei denen es weniger darauf ankam, wer sie ansah, es genügte, dass sie da waren.
Ungefähr so verhält es sich wohl auch mit Wolf Wondratscheks neuem Roman, der, wie man hört, nur in Form eines einzigen Exemplars existiert. Der Dichter hat es an einen Privatmann veräußert, der es bloß besitzen und keineswegs publizieren möchte. Das heißt, der Text hat einen Leser, dessen exorbitantes Interesse sich in dem gezahlten Preis von 40.000 Euro ausdrückt.
Dazu kann man nur gratulieren, und mancher Autor wird fast platzen vor Neid. Denn es ist wie ein Literaturpreis, allerdings ohne den damit verbundenen Gestank des Literaturbetriebs, von dem Wondratschek sowieso weitgehend geschnitten wird. Stattdessen hat die Sache das edle Gepräge eines ordentlichen Kaufaktes. Nur dass das Publikum aus einer einzigen Person besteht.
Das exklusive Gefühl des Gemeintseins
Seit langem versuchen Künstler, ihre Kunst aus der anonymen Sphäre der Allgemeinheit zu reißen und das Publikum direkter anzusprechen. Manche Musiker sind vor nur einem Zuhörer oder einer Zuhörerin aufgetreten und auch im Theater gab es schon Experimente, bei denen ein Darsteller vor einem Zuschauer spielte. Andererseits gibt es Mäzene, die ganze Vorstellungen en bloc aufkaufen, um sich das exklusive Gefühl des Gemeintseins zu verschaffen. Doch wenn man dann allein im Zuschauerraum sitzt, kommen keine anderen Empfindungen auf, als wenn man als einziger Passagier in einem Jumbojet herumgeflogen wird. Man grinst wie blöde über die absurd exorbitante Geldausgabe – und geht hinterher was essen.
Wahrhaftig, mit dem großen Publikum haben alle Sensiblen gewaltige Probleme. Muss man sich als anspruchsvoller Künstler wirklich gemein machen mit der Masse? Geht's nicht auch ein bißchen distinguierter, exquisiter, adäquater? Mancher Autor schreibt aus besagten Gründen bloß für die Schublade, in der festen Überzeugung, dass sich dereinst die Nachwelt die Augen reiben und vor Begeisterung überschlagen wird, sobald die Hinterlassenschaft ans Licht der Öffentlichkeit kommt.
Aber so einer ist Wondratschek keineswegs. Hoffentlich hat er von seinem Roman wenigstens eine Kopie behalten. Denn es könnte ja sein, dass ihm nach einiger Zeit etwas fehlt, und zwar nicht nur der Wortlaut der eigenen Sätze, sondern etwas, wonach sich jeder Schreibende sehnt, nämlich der Zuspruch der Lesenden – oder zumindest die Vorstellung davon. Ganz ohne die Droge der Publizität kommt kein Autor aus. Ein Wondratschek zumal, der seinen Star-Status mit zuweilen rührender Radikalität pflegt, wird sich von der Idee des Publikumserfolgs nicht freiwillig und dauerhaft verabschieden.