Sofern Amazon tatsächlich die selbst gewonnen Daten auch dazu verwende, Bücher produzieren zu lassen, die viel Zielgruppe haben, dann bedeute das auch eine wirkliche Verarmung unserer Buchkultur, sagte Wolfgang Thierse. Amazons Argument, dass Bücher billiger werden müssten und könnten, weist er zurück. Es würden nur bestimmte Bücher billiger werden. Es gehe auch um etwas sehr Kostbares, was verteidigt werde müsse, nämlich die Buchpreisbindung. Die habe die Vielfalt erst ermöglicht.
Es sei nicht allein eine Auseinandersetzung über Rabatte, sondern er glaube schon, dass es bei der Debatte auch um die Zukunft des Buches gehe. Ob es jemandem gelinge, die gesamte Verwertungskette einzunehmen. Und das sei eine Gefahr, sagte Thierse. Er fordert deshalb die Verlage und die Autoren auch dazu auf, nicht mehr mit Amazon zu kooperieren. "Dies ist eine Selbstverteidigung der Verlage", sagte er. Das gut funktionierende System müsse man gegen Amazon verteidigen.
Das Interview in voller Länge:
Peter Kapern: Weit mehr als 1.000 deutsche Autoren, Schriftsteller und Publizisten haben eine Protestresolution gegen Amazon unterzeichnet. Der Online-Händler, der anfänglich Bücher und CDs verkauft und heute so ziemlich alles verscherbelt, erscheint den Kulturschaffenden mittlerweile als große Gefahr. Amazon fälsche Empfehlungslisten, benachteilige bestimmte Autoren und bediene sich insgesamt erpresserischer Methoden. Dahinter steht ein knallhartes wirtschaftliches Feilschen, Amazon will von den Verlagen, deren Autoren benachteiligt werden, damit größere Rabatte eingeräumt bekommen, um mehr am Verkauf der Bücher zu verdienen. Und bei uns ist jetzt am Telefon Wolfgang Thierse, der frühere Bundestagspräsident und heutige Vorsitzende des Kulturforums der Sozialdemokratie. Guten Morgen, Herr Thierse!
Wolfgang Thierse: Guten Morgen, Herr Kapern!
Kapern: Herr Thierse, wie sehen Sie die Auseinandersetzung zwischen den Autoren und Amazon?
Thierse: Es geht ja nicht nur um eine Auseinandersetzung um Rabatte, da müsste man vielleicht mit Staunen oder Befremden zuschauen, sondern ich glaube schon, dass es bei dieser Auseinandersetzung geht um die Zukunft des Buches, um die Zukunft unserer doch sehr reichen Literaturlandschaft, um die Frage, ob sich einer hier durchsetzt, eine Monopolstellung gewinnt, indem er die Konkurrenz durch Preise in die Knie zwingt. Ob es ihm gelingt, gewissermaßen die ganze Verwertungskette zu kontrollieren, also nicht nur Händler zu sein, sondern Produzent zu werden, und zwar eben als Monopolist. Und das ist eine wirkliche Gefahr für unsere Buchkultur.
"Künstlerische Produkte nicht nur als Waren behandeln"
Kapern: Aber nun gibt es noch immer in Deutschland sehr viele Buchhandlungen, und gerade die kleinen Buchläden, so war kürzlich zu lesen, erleben doch durchaus einen Aufschwung auch in dieser Zeit, während die großen Ketten möglicherweise Schwierigkeiten haben. Ist die Gefahr eines Monopolisten auf dem Buchmarkt tatsächlich gegeben?
Thierse: Nehmen wir doch mal die Autoren ernst. Es ist doch nicht aus Jux und Dollerei, dass über 1.000 Autoren und Schriftsteller unterschiedlichster Prominenz sich an diesem Protestbrief beteiligen. Da ist eine wirkliche Sorge um die Vielfalt der deutschen Literatur. Wenn es nämlich gelingt, was wahrscheinlich Amazon vorschwebt, über die Daten, die sie über ihr Vertriebssystem, erst recht über E-Book bekommen, sozusagen dann auch gewissermaßen Literatur produzieren zu lassen, die genau den festgestellten Kenntnissen, Wünschen der Leser entspricht, dann bedeutet das auch eine wirkliche Verarmung unserer Buchkultur. Und im Übrigen geht es auch darum, dass wir etwas sehr Kostbares verteidigen, was diesen Reichtum überhaupt erst ermöglicht hat, nämlich die Buchpreisbindung. Das ist schon eine Schlüsselstelle, um die es geht.
Kapern: Warum eigentlich, Herr Thierse, gibt es niemals einen Aufschrei der Empörung, wenn VW oder Opel ihre Zulieferer zu Preissenkungen zwingen, und warum dieser öffentliche Aufschrei der Empörung im Fall Amazon? Hat das auch etwas mit der Meinungsmacht von Autoren zu tun, die vielleicht von wirtschaftlichen Vorgängen etwas unbeleckt sind?
Thierse: Ich glaube schon, dass es einen Unterschied zwischen Autos und Büchern gibt. Unsere geistige Kultur ist etwas anderes als die materielle Kultur. Dass wir in Deutschland im Unterschied zu manchen anderen Ländern eine besonders reiche Kulturlandschaft haben, bezieht sich nicht nur auf die Verlage, die Buchhandlungen, also Literatur, sondern auch auf Theater, die Musikszene et cetera. Hat auch damit zu tun, dass wir ein System haben des Schutzes, ein System der Förderung von Kultur, weil eben Kultur nicht nur einfach eine Ware ist. Künstlerische Produkte dürfen nicht einfach nur als Waren behandelt werden, dann geht der Reichtum der Kultur verloren. Das ist ein qualitativer, ein riesiger qualitativer Unterschied.
"Autoren und Verlage müssen zusammenhalten"
Kapern: Aber ich möchte noch mal auf das Buch als Ware schauen und die These in den Raum stellen: Wenn Bücher billiger werden durch das, was Amazon tut, dann finden die auch mehr Leser.
Thierse: Sind Sie sicher? Und wenn Bücher billiger werden, welche werden denn billiger? Dann geht es doch nur darum, dass man möglichst nur noch Bestseller produziert und die Kreativität zu reduzieren, zu strangulieren auf die Produktion des Gängigen. Das ist doch eine wirkliche Gefahr der Verarmung. Und deswegen verstehe ich die Autoren sehr gut und ich wünsche mir, dass sie, zumal wenn sie Prominente sind, wenn sie Bestsellerautoren sind, mit ihren Verlagen vereinbaren, dass diese Verlage nicht mehr mit Amazon kooperieren. Also, dass sie nicht mehr sich gewissermaßen über Amazon vertreiben lassen, sondern über die bisherigen ja doch ganz gut funktionierenden Vertriebssysteme. Wir haben ein System der Buchpreisbindung, das dazu führt, dass Autoren einigermaßen anständige Honorare bekommen und dass zugleich Bücher nun wirklich nicht zu teuer sind.
Kapern: Wenn Sie nun Verlage dazu auffordern, ihre Bücher nicht mehr über Amazon zu vertreiben, fordern Sie damit die Verlage zum ökonomischen Selbstmord auf?
Thierse: Nicht unbedingt. Ich sage es doch noch einmal, wir haben ein ganz gut funktionierendes Vertriebssystem, das muss man verteidigen gegen einen Monopolisten, der anstrengt, gewissermaßen auch Verlage zu zerschlagen und ihnen sozusagen das, was sozusagen ihre Gewinne ausmacht, wegzunehmen. Also, es ist doch auch eine Selbstverteidigung der Verlage, wenn sie sich gegen Amazon wehren, es ist nicht nur eine Sache der Autoren, sondern da müssen Autoren und Verlage durchaus zusammenhalten.
Kapern: Nun fordern Sie also die Verlage auf, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Jetzt haben wir den Politiker Wolfgang Thierse zu diesem Interview gebeten, um zu hören, ob denn auch die Politik in dieser Sache was unternehmen kann oder gar muss.
Thierse: Das ist nicht ganz so leicht, aber zunächst einmal ist schon das Kartellamt gefragt, genauer hinzuschauen und zu sagen, ist das etwas, wo wir eingreifen müssen. Das wird abzuwarten sein und dann wird, je nachdem, wie die Entscheidung ist, man in der Politik noch einmal überlegen müssen, welche Maßnahmen zur Verteidigung der Buchpreisbindung überhaupt noch möglich sind in einer solchen Situation. Das halte ich für ganz offen, da bin ich, ehrlich gesagt, auch unsicher, was politisch möglich ist, in den Markt einzugreifen, um den es ja auch geht. Das ist nicht so leicht. Aber deswegen haben wir ja das Instrument einer Kartellbehörde, die eingreifen muss, wenn hier einer sich auf unziemliche Weise zum Monopolisten macht.
"Im Interesse der Freiheit des Einzelnen und des Reichtums unserer Kultur"
Kapern: Aber da klingt durchaus Skepsis heraus, Herr Thierse. Sind Sie möglicherweise der Meinung, dass, wenn das Kartellrecht nicht greift, die Politik wehrlos ist?
Thierse: Ich bin ein bisschen skeptisch und sage, es geht auch um die Selbstverteidigungskräfte der kulturellen Szene, der Verlage, der Autoren. Und dann bleibt nur, dass wir politisch das unterstützen, also in der öffentlichen Auseinandersetzung Partei ergreifen für die Autoren, für die Verlage, für den Reichtum unserer kulturellen Struktur.
Kapern: Nun hat ja kürzlich der SPD-Chef Sigmar Gabriel auch Google ins Visier genommen und angekündigt, man müsse Google an die Kandare nehmen. Müssen wir die gesamte digitale Wirtschaft noch mal unter die Lupe nehmen und schauen, ob sie unsere Wirtschaft- und Kulturordnung vielleicht zerstört?
Thierse: Das ist so, da haben Sie genau recht. Aber gerade weil wir mittendrin sind in diesem Prozess der Digitalisierung der Gesellschaft, unserer Kultur, ist eben noch nicht klar, wo die Stellen sind, wo man eingreifen kann, wo man eingreifen muss. Da sind wir miteinander, das muss man ehrlich zugestehen, in einem Lernprozess. Die Politik, die Justiz, der kulturelle Bereich, wir müssen miteinander genau hinschauen, was passiert da eigentlich, wo werden Rechte des Individuums, informationelle Selbstbestimmungsrechte gefährdet, wo werden auf einseitige Weise Entwicklungen vorangetrieben, die nicht im Interesse sozusagen der Freiheit des Einzelnen und des Reichtums unserer Kultur sind?
Kapern: Wolfgang Thierse, der frühere Bundestagspräsident heute Morgen im Deutschlandfunk. Herr Thierse, danke, dass Sie Zeit für uns hatten! Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag!
Thierse: Wünsche ich Ihnen auch, auf Wiederhören!
Kapern: Auf Wiederhören!
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