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Autorin Julia Schramm
"Bei Böhmermann hat Merkel ihren Grundsatz gebrochen"

FDP, Piratenpartei, Die Linke - die Politikwissenschaftlerin und Feministin Julia Schramm war schon in vielen Parteien Mitglied. 2012 zog sie sich aus der aktiven Politik zurück und betreibt inzwischen einen Merkel-Blog, aus dem ein neues Buch entstanden ist: "50 Shades of Merkel". Im Corso-Gespräch geht sie hart mit der Kanzlerin ins Gericht.

Julia Schramm im Corsogespräch mit Marietta Schwarz |
    Porträt der Politikwissenschaftlerin Julia Schramm
    Politikwissenschaftlerin Julia Schramm präsentiert ihre vier Säulen für erfolgreiche Politik. (Imago/Sven Simon)
    Marietta Schwarz: Ja, was interessiert Sie eigentlich so an der Person Angela Merkel?
    Julia Schramm: Naja, erstmal ist es natürlich sehr offensichtlich, dass Sie eine spannende Persönlichkeit ist. Sie ist die erste Frau in dieser Position. Sie ist eine der mächtigsten Menschen, die wir momentan auf der Welt beim Politikmachen beobachten dürfen. Also es gab viele Gründe, mich mit ihr auseinander zu setzen. Natürlich auch meine eigenen Erfahrungen in der Politik und so ein bisschen die Frage, was hat sie anders gemacht als ich? Und ich bin auch Politikwissenschaftlerin, also da kommt man nicht darum herum, sich auch mit einzelnen Köpfen in der Politik auseinanderzusetzen.
    Schwarz: Sind Sie ihr denn auch persönlich begegnet für diese Recherche?
    Schramm: Sie einmal über mich gelästert, auch im Zuge dieses Shitstorms, den Sie gerade angesprochen haben und der Piraten-Zeit. Ich habe sie dann mal bei Veranstaltungen gesehen, aber ich habe dann das Buch sehr schnell geschrieben und hatte dann auch mal überlegt, ob ich sie jetzt nochmal kontaktiere und so weiter und sofort, und dann dachte ich: Eigentlich wäre es spannender, das nicht zu machen. Weil: Solange sie in der Position ist, in der sie ist, würde sie meine Fragen sowieso nicht ehrlich beantworten.
    Schwarz: Und wenn Sie sagen, Sie haben sie erlebt in Natura, war ist das dann für ein Verhältnis? Also ist das die Politikwissenschaftlerin, die die Politikerin analysiert oder die Politikerin, die die Kollegin analysiert oder die Bloggerin, die sich das Alles mal anguckt? Also wie würden Sie das für sich klarkriegen?
    Schramm: Also in dem Moment, wo ich sie natürlich beobachte, spielen alle diese Ebenen natürlich eine Rolle, das ist ganz klar. Aber für das Buch war natürlich jetzt schon der politikwissenschaftliche Blick im Fokus, und sie so zu erleben, ja, das ist dann auch ein bisschen ein Wechselbad der Gefühle, weil: Aus politikwissenschaftlicher Sicht analysiere ich natürlich die Sachen und denke mir, was macht sie jetzt hier? Und was macht das jetzt für Sinn und so weiter und sofort? Und als Bloggerin ist natürlich auch immer die Frage, wie wirkt das digital? Wie verwertet sie sich selber? Wie inszeniert sie sich auch in unseren digitalen Zeiten? Und als Politikerin ist es natürlich auch immer die Frage - gut, ich bin ja jetzt nicht mehr bei den Piraten - aber die Frage, wie macht sie Politik? Wie beherrscht sie ihr Handwerk? Und das ist immer faszinierend zu beobachten.
    Schwarz: Und das beherrscht sie ja ganz gut, oder?
    Schramm: Ja, durchaus. Es gibt ab und an ein paar ruckelige Momente, wo man denkt: Hach, okay, jetzt hat sie es doch nicht so...
    Schwarz: Zum Beispiel?
    Im Zweifel Schweigen ist ja ihr Grundsatz
    Schramm: Naja, gerade aktuell sehen wir ja, wie sie im Konflikt mit Erdogan und dieser Böhmermann-Geschichte doch so in die Defensive durch die Abhängigkeit zur Türkei gerät, dass sie tatsächlich ihren sonstigen Grundsatz des Schweigens - also im Zweifel Schweigen ist ja ihr Grundsatz - ein bisschen gebrochen hat und sich zu der Böhmermann-Sache positioniert hat und das hat mich überrascht. Das heißt, nicht überrascht, aber das zeigt, wie sehr sie unter Druck steht in der politischen Auseinandersetzung mit der Türkei, und das ist natürlich die Flüchtlingsfrage. Also, dass die Türkei jetzt auch diese starke Position hat, hat auch mit ihrer Politik der letzten Jahrzehnte zu tun. Vielleicht kriegt sie auch das wieder hin. Also meine Erfahrung ist: Sie findet immer einen Weg, egal wie hoch der Druck ist, dann doch anderen Leuten die Verantwortung oder die Schuld zu geben, oder eben selber die Wogen zu glatten.
    Schwarz: Ja, das Buch ist nach meiner Wahrnehmung alles andere als ein Merkel-Verriss. Also ich hatte fast so etwas wie Bewunderung zwischen den Zeilen gelesen. Also Sie haben auch selbst gesagt, dass das mit Ihnen und mit Ihrer politischen Karriere zu tun hat. Darf ich das auch so ein bisschen als "Ich-Abgleich" verstehen, dieses Buch? Also: Was macht Merkel richtig, was mir vielleicht in meinen jungen Jahren dann doch noch nicht so gelungen ist?
    Schramm: Ja, ich gebe es ehrlich zu. Ja, natürlich, also es ist schon so eine Frage. Ich natürlich eine Linke, das ist eine andere Position, aber es ist natürlich schon die Frage, wie so eine mächtige Frau sich in diesem männerdominierten Umfeld durchgesetzt hat. Und da kommt natürlich auch ganz platt ein großes Maß an Bewunderung meinerseits. Aber unabhängig davon war mein Anliegen eben nicht die klassische, manchmal auch sehr kleingeistige Kritik an ihr zu üben, für Politik, die sie innerhalb Sachzwänge tut, die eine Bundeskanzlerin auch immer beachten muss. Und ich wollte sie eigentlich für die Sachen kritisieren, für die man sie wirklich kritisieren kann...
    Zunehmend zu einer Verteidigungsschrift geraten
    Schwarz: Wo denn? Ich habe das gar nicht gefunden.
    Schramm: (lacht) Naja, mit der Wirtschaftskrise zum Beispiel, da habe ich ihr doch auch einige Sachen hart in Rechnung gestellt. Die Austeritätspolitik, mit der sie einen sehr nationalistischen Weg in der EU gegangen ist und auch zur Desintegration in der EU beigetragen hat. Und auch die neoliberale Wende der letzten 15 Jahre hat sie massiv mit vorangetrieben. Und da muss man jetzt sehen, dass das die Früchte sind, auch, die in Form von AfD, Pegida und so weiter sich zeigen. Und da hat sie schon ganz klar Verantwortung für, aber man muss auch sagen: Im Laufe des Schreibens ist das Buch zunehmend zu einer Verteidigungsschrift geraten, weil einfach die politischen Verhältnisse sich in kurzer Zeit so rapide verändert haben. Und ich habe gemerkt, dass selbst eine differenzierte Sicht auf sie schon als Verteidigung wahrgenommen wird, was eigentlich zeigt, wie weit der öffentliche Diskurs auch nach rechts verrückt ist.
    Schwarz: Wen haben Sie denn da als Leser vor Augen? Weil: Das sind ja jetzt nicht unbedingt Neuigkeiten, die in Ihrem Buch beschrieben werden.
    Schramm: Meine Zielgruppe sind eigentlich Menschen, die sich nicht so intensiv mit ihr beschäftigen. Vom Lidl-Verkäufer bis hin zur Gemüseverkäuferin - das sind eigentlich die Menschen, die ich erreichen wollte und denen ich auch ein differenzierteres Bild von Merkel, aber auch vom politischen System vermitteln wollte. Also ich wollte ihnen zeigen, dass diese ganzen Verschwörungstheorien und diese Verkürzungen, die besonders im Netz unterwegs sind, dass die dem nicht gerecht werden, was Merkel eigentlich tut.
    Schwarz: Verstehe ich Sie richtig, dass Sie eigentlich mit dem Buch andere Leute erreichen wollen als die, die Sie mit dem Blog eh schon haben?
    Schramm: Genau, das ist der Knackpunkt an der Sache. Also man hat einfach mit so einem Blog, man hat ein jüngeres Publikum meistens, auch ein internetaffines und so weiter. Da sind auch die Schwerpunkte anders. Und mit dem Buch wollte ich ein ganz breites Publikum ansprechen. Und deswegen auch die ganz breite Kapitelwahl: also von Fußball, über sonstige Themen, die vielleicht für Menschen auch zugänglicher sind. Und dann muss man auch sehen...
    Schwarz: Popkultur!
    Schramm: Popkultur, genau!
    Schwarz: Sie haben da ein interessantes Zitat im Buch: "Mit Ende des 20. Jahrhunderts wurden die großen, politischen Erzählungen durch die Popkultur abgelöst." Jetzt frage ich mich: Wie beurteilt so eine Julia Schramm das, die das dann ja auch irgendwie verwertet. Oder die, glaube ich, auch eine Freude an der Popkultur hat. Aber: Was macht das denn mit dem Politikbetrieb, diese Popkultur?
    Schramm: Also ich habe eine große Freude an Popkultur, das stimmt. Ich beobachte das ambivalent. Ich habe auf der einen Seite schon das Gefühl, dass es Politik und politische Fragen zum Teil zugänglicher machen kann, auch in dieser Infotainment-Form. Auf der anderen Seite fehlt dann doch oft die Tiefe und auch die Ernsthaftigkeit, wenn alles auf so einer Ironie-Ebene verhandelt wird. Und das habe ich im Buch ja auch ausgebreitet, dass das Thema Ironie und Popkultur und so weiter dann doch durchaus eine Gefahr für eine ernsthafte, politische Auseinandersetzung sein kann.
    Schwarz: Ziehen Sie da für sich auch Konsequenzen, dass man vielleicht dann als Politiker - Sie sind ja jetzt glaube ich wieder politisch aktiv in der Linkspartei? Haben Sie zumindest angekündigt...
    Schramm: Ja, ich unterstütze die Linke, genau. Ja, ich arbeite daran. Nein, das ist natürlich diese ironische Ebene und dieses Haltungslose, sich über die Ironie, über die eigentlichen Themen und die auch Schwere der Probleme erheben, hat natürlich was Leichtes und was Schönes und was Angenehmes in unseren Zeiten. Aber das ist auch der Grund, warum ich mich doch wieder entschieden habe, eine Partei zu unterstützen, weil ich denke: Dafür ist die Lage zu ernst.
    Vier Säulen für erfolgreiche Politik
    Schwarz: Ihr eigener Aufstieg, Ihr eigener steiler Aufstieg, und auch der steile Aufstieg der Piraten - warum ist der eigentlich so schnell verpufft? Ist ja auch kein Ironie-Problem gewesen, oder?
    Schramm: Bedingt. Ich glaube, im Kern lag es einfach daran, dass es eigentlich eine Bewegung war, die ganz konkrete Themen bearbeitet hat: also Zensur und Internet und so weiter und sofort, und dass aber im Laufe des Prozesses klar wurde, dass die Menschen, die sich in dieser Bewegung gesammelt haben, mit dem Ziel eben, das Netz auch als sozusagen lebenswerte Umgebung zu gestalten, dass die plötzlich festgestellt haben: Ha, wenn es um Sozialpolitik geht, haben wir ganz andere Ansichten. Und zwar so andere und unterschiedliche Ansichten, dass die nicht zusammenzubringen waren. Also in den anderen Parteien hat man ja auch Flügel und Strömungen und so weiter, aber man hat doch einen Kern irgendwo, auf den sich dann die meisten doch einigen können. Und das war bei den Piraten dann irgendwann nicht möglich, weil auch tatsächlich die Bewegung am Anfang sehr unpolitisch war und dann kamen diese politischen Fragen. Und dann kamen Fragen nach Macht und so weiter und sofort, und hat das Ganze verunmöglicht auf lange Sicht.
    Schwarz: Julia Schramm, was nehmen Sie denn von Angela Merkel mit, für Ihre eigene, weitere politische Laufbahn?
    Schramm: Ich denke, was ich von Merkel mitgenommen habe und was ich gelernt habe, oder was ich destillieren konnte, ist die Fähigkeit zu Schweigen, gute Netzwerke zu gründen oder zu haben, eine ordentliche Portion Humor zu haben und den ironischen Zeitgeist zu verstehen und damit arbeiten zu können, und das sind meiner Meinung nach die vier Säulen für erfolgreiche Politik und mal gucken, ob ich die in meiner Zukunft auch entsprechend umzusetzen vermag.
    Schwarz: Julia Schramm über die Piratenpartei und über ihr neues Buch "50 Shades of Merkel", erschienen beim Verlag Hoffmann und Campe, danke Frau Schramm für dieses Gespräch.
    Schramm: Ich danke Ihnen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    Julia Schramm: Fifty Shades of Merkel. Hoffmann und Campe Verlag. 256 Seiten.