Leipziger Autoritarismus-Studie
Die Demokratie verliert Anhänger

Die Leipziger Autoritarismus-Studie zu rechtsextremen Einstellungen in Deutschland zeigt einen deutlichen Anstieg der Ausländerfeindlichkeit. Zugleich sinkt die Zustimmung zur Demokratie.

Von Patric Seibel |
    Wolken sind über der Kuppel vom Reichstag zu sehen, auf dem Deutschlandfahnen wehen.
    Der neuen Autoritarismus-Studie zufolge könnte die AfD auch in Westdeutschland zunehmend Wahlerfolge feiern. (picture alliance / dpa / Jens Kalaene)
    Seit über 20 Jahren beobachten Forschende der Universität Leipzig die Entwicklung autoritärer und rechtsextremer Einstellungen in der Bundesrepublik Deutschland. Die Ergebnisse der Untersuchung werden alle zwei Jahre in der Leipziger Autoritarismus-Studie veröffentlicht. Die neuesten Ergebnisse zeigen eine Zunahme chauvinistischer und ausländerfeindlicher Ressentiments bei den Befragten. Auch die Demokratie verliert an Unterstützung. Zudem verbindet der Antisemitismus den Forschenden zufolge rechte und linke Milieus.

    Was untersucht die Leipziger Autoritarismus-Studie?

    Die Leipziger Autoritarismus-Studie (LAS) untersucht seit 2002 Einstellungen der Bevölkerung, insbesondere die Zustimmung zu rechtsextremen Aussagen. Dazu werden per Zufallsstichprobe rund 2.500 Menschen ausgewählt und zuhause besucht. Die Befragten füllen anonym Fragebögen aus.

    Was bedeutet Autoritarismus?

    Das Konzept geht auf die Kritische Theorie seit den 1930er-Jahren zurück. Auf der Suche danach, was den Faschismus für viele Zeitgenossen so faszinierend machte, identifizierten die Forschenden einen „autoritären Charakter“ - angelehnt an die Arbeiten des Psychologen Sigmund Freud.
    Autoritarismus beruht auf einer Kombination von Freiwilligkeit und Zwang. Als Belohnung dafür, sich politischen, gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Autoritären und Zwängen zu unterwerfen, winkt die Zugehörigkeit zur einer dominierenden Gruppe und zugleich auch die "Erlaubnis", andere Menschen, die als „nicht zugehörig“ markiert werden, abzuwerten.

    Wie wird Rechtsextremismus gemessen?

    Die Forschenden messen die Einstellungen in sechs verschiedenen Dimensionen: Verharmlosung des Nationalsozialismus, Autoritarismus, Sozialdarwinismus, Antisemitismus, Ausländerfeindlichkeit und Chauvinismus.
    Zu jeder Dimension werden drei Aussagen präsentiert. Die Antwortskala reicht von Stufe 1: „lehne völlig ab“ bis zu Stufe 5 „stimme voll und ganz zu". Der Mittelwert 3 bezieht sich auf die Antwort: „stimme teilweise zu, lehne teilweise ab“. Daraus ergibt sich ein Gesamtbild. Wer bei allen Aussagen zum Rechtsextremismus mindestens den Wert 3.5 erreicht, also 63 Punkte insgesamt, dem wird ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild attestiert.

    Was für Aussagen sind das?

    In der Dimension "Befürwortung einer rechtsautoritären Diktatur" lautet eine Aussage: „Wir sollten einen starken Führer haben, der Deutschland zum Wohle aller mit starker Hand regiert.“ In der Dimension "Chauvinismus" geht es um Aussagen wie: „Was unser Land braucht, ist ein hartes und energisches Durchsetzen deutscher Interessen gegenüber dem Ausland.“ Bei der Dimension Ausländerfeindlichkeit lautet eine Aussage: „Die Bundesrepublik ist durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maß überfremdet.“

    Wie hoch sind die Zustimmungswerte beim Rechtsextremismus?

    Ein manifest rechtsextremes Weltbild über alle sechs Dimensionen registrierten die Forschenden bei 4,5 Prozent der Befragten. Sie verweisen dabei auf die hohe Zahl von latenter Zustimmung (teils-teils), die als Reservoir rechtsextremer Einstellungen funktionieren. In einzelnen Dimensionen des rechtsextremen Spektrums sind die Zustimmungswerte sogar dramatisch hoch.

    Was macht anfällig für Rechtsextremismus?

    Vor allem Gefühle sind entscheidend, aber auch Bildung, während beispielsweise Arbeitslosigkeit oder geringes Einkommen wenig Erklärungskraft haben. Das hat die Forschenden überrascht. Großen Einfluss auf die Mobilisierung von Ressentiments haben dagegen das Gefühl von Angst sowie der Eindruck, abgehängt zu sein, nichts bewirken zu können, nicht gesehen zu werden und auch das Gefühl, dass es Deutschland insgesamt wirtschaftlich schlechter gehe. Emotionen und Affekte, die auch durch die politische Kommunikation getriggert werden.

    Wie weit verbreitet ist postkolonialer Antisemitismus?

    Die Forschenden messen in den erstmals verwendeten Kategorien "postkolonialer Antisemitismus" und "antisemitischer Antizionismus" sehr hohe Werte - vor allem übrigens in Westdeutschland. Postkolonialer Antisemitismus wird auch innerhalb der politischen Linken geteilt, auffällig vor allem seit dem Terror-Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023.
    In Ost und West stimmen rund 14 Prozent der Aussage voll und ganz zu, dass der Nahostkonflikt „ein Konflikt zwischen weißem Kolonialismus und unterdrückten Minderheiten“ sei. Fast 36 Prozent im Osten und 30 Prozent im Westen stimmen zudem latent zu. „Der Antisemitismus funktioniert als Brückenideologie, er verbindet linke und rechte Milieus“, sagt der Mitherausgeber der Studie, Johannes Kiess.

    Was sind die auffälligsten Ergebnisse der Studie?

    Insgesamt fällt auf, dass die Werte im Komplex Ethnozentrismus (Chauvinismus und Ausländerfeindlichkeit) stark angestiegen sind. Rund 34 Prozent der Befragten stimmen den Aussagen zu: „Die Bundesrepublik ist durch die vielen Ausländer in gefährlichem Maß überfremdet“. 33 Prozent stimmen der Aussage zu: „Die Ausländer kommen nur hierher, um unseren Sozialstaat auszunutzen“.
    Während die Zustimmungswerte im Bereich Ethnozentrismus im Osten seit Beginn der Messungen 2002 stets höher lagen, hat in der aktuellen Befragung der Westen stark aufgeholt. Die Ausländerfeindlichkeit hat sich zu einem bundesweit geteilten Resssentiment entwickelt, so die Bilanz des Forschungsteams.

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    Ein geschlossen ausländerfeindliches Weltbild weisen mit gut 60 Prozent vor allem Wähler und Wählerinnen der AfD auf. Im Vergleich zu knapp 26 Prozent bei BSW-Anhänger und - Anhängerinnen, um die 20 Prozent bei der Wählerschaft von CDU/CSU, SPD und FDP, 12 Prozent bei Wählern und Wählerinnen der Linken und nur knapp drei Prozent bei denen der Grünen.

    Warum sind diese Aussagen so gefährlich?

    Weil sie bis weit in die gesellschaftliche Mitte hin geteilt werden. Damit öffnet sich eine Tür zum Rechtsextremismus, dessen ideologisches Kernelement der angebliche Kampf zwischen Deutschen und Fremden ist. Dahinter steht die Ideologie der Ungleichwertigkeit von Menschen.
    Gerade bei der Aussage „Die Ausländer kommen nur hierher, um unsere Sozialsysteme auszunutzen“ treffen sich zwei Muster: Die Abwertung von „Minderleistern“ und die Abwertung von als „nicht deutsch“ markierten Menschen. Und gerade weil diese Aussagen in der Mitte der Gesellschaft salonfähig geworden sind, erlauben sie es dem Rechtsextremismus, sich dahinter zu verbergen, denn diese Aussagen werden nicht als „extrem“ wahrgenommen, weil sie ja in der „Mitte“ verbreitet sind.

    Ist die Demokratie gefährdet?

    Ein weiterer Trend, der Sorge bereitet, ist die stark gesunkene Zustimmung zur Demokratie: Insgesamt nur noch knapp 46 Prozent sind damit zufrieden, wie die Demokratie in Deutschland funktioniert. Im Osten sind es sogar nur noch knapp 30 Prozent. 
    Für das Studien-Team ist das ein deutlicher Hinweis darauf, dass die Demokratie ihr stützendes Fundament verliert. Die Forschenden halten die Gefahr nicht für ausgeschlossen, dass auch das demokratische System hierzulande durch autoritäre Elemente eingeschränkt werden könnte.

    Was bedeutet die in der Studie gleichfalls erfasste hohe Zustimmung zu sexistischen und antifeministischen Aussagen?

    In Zeiten hoher Unsicherheit funktionieren Wünsche nach gesellschaftlicher Stabilität als private Beruhigungsmittel. Ein Indikator hierfür seien auch die hohen Zustimmungswerte zu Aussagen des Sexismus und Antifeminismus, sagt Ayline Heller: Dadurch solle angesichts von vielen Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft und angesichts der vielen als bedrohlich empfundenen Krisen ein Gefühl von Stabilität erzeugt werden.

    Was könnten Konsequenzen bei den nächsten Wahlen sein?

    Es sei ein Irrtum, zu glauben, dass die AfD nur im Osten große Wahlerfolge erzielen könne, sagt Studienleiter Oliver Decker. Diese Entwicklung stehe dem Westen möglicherweise noch bevor. Dabei habe die AfD ihr eigenes Kernthema – die Fremdenfeindlichkeit – gar nicht selbst als Thema gesetzt, so Decker, sie sei schon immer vorhanden gewesen.
    Allerdings habe sie sich als erste Partei das Thema zu eigen gemacht hat, mit dem Ergebnis, dass Menschen, die vorher demokratische Parteien oder gar nicht gewählt haben, jetzt die AfD wählten.
    Oliver Decker hält es für denkbar, dass sich die Tendenzen der jüngsten Ergebnisse bei der Europawahl und den ostdeutschen Landtagswahlen auch im Westen zeigen könnten: „Ich glaube, wir müssen damit rechnen, dass die AfD im Bund mehr Gewicht bekommt, dass auch diese Ressentiments im Westen mehr und mehr wahlentscheidend werden.“

    Zeigt die Studie auch Wege auf, um dieser Entwicklung entgegen zu treten?

    Ja, es wird das zivilgesellschaftliche Engagement aufgegriffen, das sich in den großen Demonstrationen gegen Rechtsextremismus, gegen die AfD und für die Demokratie gezeigt hat. Das hat die Zivilgesellschaft belebt und vielen Menschen auch Mut gemacht, sich aktiv für die Demokratie einzusetzen.
    Weiter sagen die Forschenden, die Anfälligkeit für Autoritarismus erwerben Menschen schon früh in Familie, Kindergarten, Schule – und mahnen Reformen im Bildungsbereich an.
    Ebenso werden faire Jobs und Mitbestimmung am Arbeitsplatz als Faktoren genannt, die die Menschen wieder für die Demokratie zurückgewinnen können. Auch in der politischen Kommunikation sehen die Forschenden Handlungsbedarf: Die Menschen müssten wieder das Gefühl bekommen, mit ihren Anliegen gehört zu werden. Politische Probleme sollten klar benannt und nicht durch populistische Rhetorik verdeckt werden.