Kaum 60 Meilen südlich von Huntsville in Alabama, wo einst Wernher von Braun die Raketen für die Reise der Menschen zum Mond baute, liegt die Stadt Cullman. Das Land rund um die Stadt könnte auch irgendwo im Alpenvorland liegen. Wandert man durch die Straßen der Stadt, fallen immer wieder deutsche Namen auf, und das hat seinen Grund erzählt uns Natalie Bonner, deren Namen schon verrät, dass ihre Vorfahren ebenfalls aus Deutschland kamen.
"Unser Gründer war Johannes Gottfried Kullmann. Er gründete die Stadt 1873. Man benannte die Stadt nach seinem Namen, den man dann aber etwas amerikanisiert hatte. Man schrieb den Namen mit 'C' und hat am Ende das Doppel-N auf ein 'N' reduziert. Er ermunterte damals um die 100.000 Deutsche, in die USA zu immigrieren, vielen von ihnen siedelten sich in und um Cullman an. Wir bewahren uns deutsches Erbe. Wir feiern unter anderem jedes Jahr unser Oktoberfest. Dann haben wir eine historische Gesellschaft, die regelmäßig nach Deutschland reist und unsere deutschen Freunde besuchen uns hier, damit unsere Kultur und das Brauchtum an beiden Orten lebendig bleibt."
Erste Niederlassung der Benediktiner in Nordamerika
Diese Glocken sind nicht die Glocken der katholischen Kirche in Cullman, aber sie stehen in einer Beziehung zu Cullman, besser gesagt zur Benediktiner Abtei in Cullman. Der 1809 in Thalmassing bei Regensburg geborene Bonifaz Wimmer war Benediktinermönch im traditionsreichen Kloster Metten in Bayern und gründete 1847 in Latrope, Pennsiylvania, die erste Niederlassung der Benediktiner in Nordamerika. Wie die Benediktiner dann nach Cullman kamen erzählt uns Bruder Joel Martin.
"Der Bischof von Alabama erbat von Abt Bonifaz Wimmer, er möge Deutsch sprechende Mönche nach Alabama entsenden, wo sich in verschieden Regionen viele deutsche Katholiken angesiedelt hätten. Bonifaz Wimmer entsprach dieser Bitte. Nach einiger Vorbereitung wurde dann 1891 unsere Abtei St. Bernard hier gegründet."
Alles begann im bayerischen Metten
Weite Wiesenflächen wechseln sich mit sanft dahin schwingenden Hügeln ab, die von Pinien- und Laubwäldern bewachsen sind. Keine Frage, für jemanden, der in der üppigen Landschaft Bayerns aufwuchs, musste diese Gegend in Alabama fast wie ein Zuhause wirken. Die von den Benediktinern Zug um Zug hier aufgebaute Abtei hat allerdings auch etwas typisch amerikanisches, sie hat viel Platz. Die Gebäude verlieren sich geradezu locker über das Hügelgelände und die Täler. Die Abteikirche ist die größte Sandsteinkirche Amerikas, deren Architektur so bemerkenswert ist, dass Bauingenieure aus aller Welt anreisen um sie zu studieren. Und doch, so erzählt Bruder Joel, zieht es uns manchmal zum Ursprung, und berichtet von seiner Reise nach Metten in Bayern, wo alles begann.
"Es war eine wunderbare Reise nach Europa, und natürlich besuchte ich die Abtei in Metten, die praktisch unsere Großmutter ist. Es ist ein magischer Ort. Die Barockkirche der Abtei ist einfach beeindruckend. Sie hat eine unglaubliche Geschichte, da sind wir hier Kleinkinder im Vergleich zu den Benediktiner Abteien in Europa, besonders auch die Abtei in Metten. Als ich im Zug von München nach Metten fuhr, kam ich durch einige Orte, die die Heimatorte von Mönchen waren, die in unserer Abtei lebten. Ich sah auch einige historische Gebäude, die Bruder Joseph, der aus Landshut stammte, hier in seiner Miniwelt aufbaute. Schauen Sie, dort oben steht die Burg Trausnitz, und hier drüben seine Taufkirche, das ist die Kirche mit dem großen Ziegelstein-Turm."
Während Bruder Joel von Bayern und Metten schwärmt, wandern wir im hügeligen Gelände zu einem ganz besonderen Bereich der Abtei in Cullman, der Ave Maria Grotto. Das ist nicht nur die Grotte einer Marienstatue, sie war der Beginn zum Bau einer ganzen Miniaturwelt. Der Baumeister war Joseph Zoettl, der ebenfalls mit jenen jungen Auswanderern kam, die Abt Bonifaz Wimmer aus Metten mitbrachte.
"Bruder Joseph kam im Alter von 14 Jahren nach Alabama wo er zunächst zur Schule ging. Er studierte später auch hier an unserer Schule der damals neu gegründeten Abtei. Im Alter von 18 Jahre legte er sein Gelübde als Benediktiner-Mönch ab. Seine eigentliche Aufgabe hier in der Abtei war es, die Heizungskessel und Öfen des Klosters zu betreuen. Er arbeitete somit in einem dunklen Umfeld, während seiner Freizeit liebte er es, draußen zu sein. Und dort entstand sein Hobby, Miniaturen der berühmtesten Gebäude und Plätze der ganzen Welt nachzubauen. Alles und jedes, was er fand und nicht benötigt wurde, benutzte er als Baumaterial."
Stein-Miniaturen von Bruder Joseph
Die ersten der Stein-Miniaturen baute Bruder Joseph bereits im Jahre 1912, und diese Leidenschaft sollte ihn mehr als 40 Jahre seines Lebens beschäftigen. Faszinierend sind nicht nur die Gebäude selbst, sondern zumeist die Geschichten, die sich um jedes der kleinen Monumente ranken. Ein Glasfenster war beispielsweise einst der blaue Trinkbecher eines Mädchens, das irgendwo in Irland eine schlimme Krankheit glücklich überstanden hat. 125 dieser Gebäudekomplexe, die teilweise zu ganzen Displays zusammengefasst sind, liegen an unserem Weg. Die Welt der kleinen Bauwerke schart sich um einen Brunnen, der in einer Talmulde still vor sich hin plätschert. Neben dem Brunnen schaut die lebensgroße Bronzefigur von Bruder Joseph Zoettl in die Miniaturwelt, als müsse er noch etwas an einem der Miniaturgebäude verbessern. Unweit des Brunnens klebt das Kloster Montserrat an einer Felswand, einige Schritte weiter überragt die Kirche mit dem größten Ziegelsteinturm der Welt die Szene, es ist die Martinskirche von Landshut, der Geburtsstadt von Bruder Joseph. Rom, als das heutige Zentrum der Katholiken ist in Bruder Josephs kleiner Welt eine ganze Stadt, die alle berühmten Gebäude aufweist, selbst das Mini-Colloseum. Zentraler Punkt ist natürlich der Petersdom.
"Für die Kuppel des Doms von St. Peter benutzte er einen Vogelkäfig, den ihm jemand geschenkt hatte. Und hier daneben... die anderen Kuppeln hat er zum Teil aus Toilettenschüsseln gebaut. Das erzählen wir natürlich nicht dem Vatikan, solche Sachen hat er hier an etlichen Stellen verbaut."
Während er diese Dinge baute, beobachtetenn ihn natürlich die Besucher bei seiner Arbeit und sahen, welch ungewöhnliche Materialien er für die jeweiligen Gebäude verwendete. Die Leute sahen das und schickten ihm aus der ganzen Welt Schachteln und Kisten mit allen möglichen Dingen. Selbst Rohedelsteine und Uhren waren dabei, und die hat Bruder Joseph überall verbaut. Von Rom bis nach Jerusalem sind es gerade mal 50 Meter, und in Jerusalem ist nicht nur der bis ins Detail nachgebauten Tempel und die Burg Antonia zu sehen, sondern auch etwas abseits auf einem kleinen Hügel die Kreuzigungs-Szene Jesu.
"Das hier sind seine frühen Gebäude, die er baute. Die Gebäude zeigen die typische Architektur des Heiligen Landes. Wir nennen es Little Jerusalem"
In Little Jerusalem werden manche Szenen, die wir aus dem Neuen Testament kennen lebendig. Über die Jahre breitete sich Bruder Josephs Miniatur-Welt in der hügeligen Landschaft von St. Bernard auf einer Fläche von immerhin 16.000 qm aus. Das letzte Werk, das er hier im alten Eichenwald der Abtei baute, war die Wallfahrtskirche von Lourdes, das war im Jahre 1958. Drei Jahre später starb Bruder Joseph Zoettl im Alter von 83 Jahren. Glücklicherweise fand sich jemand, der sein Werk instand hielt, erzählt Bill Ellis, der General Manager der Ave Maria Grotto.
Der Tornado, der den Turm von Babel zerstörte
"Ein Gentleman namens Leo Schwaiger hat, als Bruder Joseph von uns gegangen war, noch einige weitere Häuser gebaut und sie in Josephs Miniaturwelt ergänzt. Wir kamen auf Leo, als ein Tornado, der durch Cullman fegte und den Turm von Babel zerstört hatte. Alle sagten: "Frag Leo, der kann das reparieren". Ansonsten kümmert sich meine Frau um all die Blumen und Pflanzen, sie ist unsere Landschaftsgärtnerin."
Der Tornado hatte nicht nur Joseph Zoettls Turm von Babel in seiner Miniatur-Welt zu Fall gebracht, er hat auch in der Stadt, namentlich an einer der Kirchen von Cullman große Schäden angerichtet.
"Bruder Joseph ahnte nie, welche Bedeutung sein Werk später erlangen sollte. Er wollte eigentlich immer Priester werden. Das konnte er wegen einer Behinderung durch einen Unfall leider nicht werden. Das, was er hier geschaffen hat, hat einen wesentlich größeren Einfluss auf unsere Geschichte gehabt, als das Werk von mancher sogenannten wichtigen Person."
Bruder Joseph fand seine letzte Ruhe fast in Sichtweite seiner Werke. Der Friedhof der Benediktiner liegt in einem angrenzenden Waldstück, zu dem sich eine Wanderung im Anschluss lohnt. Friedhöfe, allemal historische Friedhöfe bieten uns Lebenden oftmals einen sehr direkten Kontakt zu Menschen, deren Lebenswerk wie ein Buch voller lebendiger Seiten war. Die Namen auf den schlichten Steinplatten dieses Abtei-Friedhofs klingen bayerisch vertraut, ich lese: Gerhard Staudinger 1880 bis 1963, Ambrosius Holzner 1881 bis 1901 oder Theodor Osterrieder 1867 bis 1961. 144 Brüder des St. Bernhard-Ordens, die einst aus Bayern kamen, haben hier ihre letzte Ruhe gefunden, in der Erde von Alabama.
Sweet Home Alabama
Die Hymne von Alabama. Veronica Headly, einst Schülerin des Abtei-Kollegs sang sie für uns in der Sandsteinkirche der St. Bernhard Abtei in Cullman. Die Orgel, deren Klänge nun unsere Wanderung durch die Miniaturwelt von Bruder Joseph Zoettl beschließt, ist die Orgel der Klosterkirche in Metten, wo die Wege vieler begannen, deren Spuren und Lebensgeschichten wir hier in Cullman, Alabama, fanden.