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Avernische Vögel
Über Fakten und Poesie

Wenn die Sphären Kunst und Wissenschaft aufeinanderprallen, beginnen dramaturgische Abenteuer, große Erzählungen und lyrische Experimente. Der Lyriker Jan Wagner macht einen essayistischen Parforceritt durch die Literaturgeschichte und schaut auf folgenreiche Begegnungen der Kultur mit den Naturwissenschaften.

Von Jan Wagner |
Vogelfeder am Elbstrand in Kirchwerder, Hamburg, Deutschland
Lukrez beschrieb in einem Gedicht Vögel, die tot in den Avernischen See stürzten (picture alliance/Christian Ohde)
Die Poesie ist keine Währung, die sich größerer Beliebtheit erfreut. Und kaum einer, dem die eigene Rolle in der Welt unzweifelhaft und rundum zufriedenstellend erscheint, wird sich auf ihren unvorteilhaften Wechselkurs einlassen wollen. Dass sich mit Gedichten keinerlei Reichtümer erwerben lassen und sie als Wirtschaftsfaktor keine nennenswerte Rolle spielen, dürfte hinlänglich bekannt sein. Auch, dass die Lyrik die Reichweite und Wirkmächtigkeit, die sie zu früheren Zeiten einmal gehabt haben mag, längst eingebüßt hat und heute eine Nischenexistenz zu führen gezwungen ist – was viele ihr Schicksal, manche ihr Glück nennen –, ist kein Geheimnis. Beides jedoch kann nicht der Grund dafür sein, dass die Blicke der Umstehenden bei der bloßen Erwähnung des Wortes "Poesie" oder der Berufsauskunft "Lyriker" peinlich berührt die Schuhspitzen suchen.
Vielleicht sind die Dichter nicht ganz schuldlos an dem Bild, das man sich von ihrer Tätigkeit macht. Vielleicht, das ist durchaus möglich, kultivieren sie selber allzu oft das Klischee des verträumten Poeten oder ziehen sich auf so vage und vorbelastete Begriffe wie Muse und Inspiration zurück – aus Bequemlichkeit oder um den lästigen Fragen und den anschließenden, mühseligen Erklärungsversuchen aus dem Weg zu gehen. Tatsächlich gerät man selbst heute noch unter Lyriker, denen die Worte "Seele", "Herz" und "Schmerz" allzu leicht über die bebenden Lippen gehen, die Gefühl mit Gefühligem und Kunst mit Aufrichtigkeit verwechseln – oder, schlimmer noch, der Erwartungshaltung ihrer Zuhörerschaft mit umflortem Blick zu entsprechen versuchen. Wie kann es da verwundern, dass auch ein breites Publikum die Poesie für etwas hält, das sich jeder Definition entzieht, das eher wabernd als präzise ist und sich nicht greifen lässt?
Buchcover links: Jan Wagner/Federico Italiano (Hrsg.): “Grand Tour. Reisen durch die junge Lyrik Europas“, Buchcover rechts: Mirko Bonné/Christoph Buchwald (Hrsg.): „Jahrbuch der Lyrik 2019“
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Versuch einer Poesie der Fakten

Vor diesem Hintergrund muss eine "Poesie der Fakten", wie sie dem schottischen Lyriker Hugh MacDiarmid vorschwebte und wie sie von dem deutschen Dichter Arno Reinfrank unter Berufung auf MacDiarmid zum Programm erhoben wurde, muss ein Projekt wie Reinfranks auf zehn Bände angelegte und mit den Jahren in die Tat umgesetzte Faktenpoesie wie ein Widerspruch in sich, ja, wie eine gezielte Provokation erscheinen.
Immerhin wurde das Wort "Fakt" im 17. Jahrhundert aus dem Partizip Perfekt des lateinischen Verbs "facere" gebildet – "factum", all jenes also bezeichnend, das getan und unwiderlegbar ist und damit, kurz gesagt, als Gegenteil der Poesie gelten kann, die sich dem Rationalen geradezu zu entziehen scheint. Die Worte "Fetisch" und "Affekt", die ebenfalls auf die Grundform "facere" zurückgehen, mag man noch so eben mit der Poesie in Verbindung bringen, weniger aber das "Fazit", vom "Effekt" in diesen Tagen ganz zu schweigen. Wie aber erst, wenn mit den Fakten, die hier auf ungebührliche Weise mit dem Gedicht verklammert werden, die Erkenntnisse und die Erzeugnisse der modernen Naturwissenschaften gemeint sind?
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"Ich beziehe mich", sagte Arno Reinfrank in einem Hörfunkgespräch, "auf Fakten, die von der Gesellschaft jetzt hergestellt werden. Für alles, was wir seit der Erfindung der Dampfmaschine Ende des 18. Jahrhunderts geschaffen haben, sind nur minimale Gedichtäußerungen nachzuweisen, so, als gehöre es nicht zu unserer Welt. Man messe daran die Fülle der auf die feudalistische Vorzeit abzielenden Äußerungen! Ich finde es für einen Poeten, dem Avantgarde mehr als ein Spielbegriff ist, unerlässlich, dass er sich mit diesen Dingen beschäftigt."

Vom Eingang der Naturwissenschaften in die Poesie

Ob es nun eine beabsichtigte Anspielung ist oder nicht: Man kann aus diesen Worten Arno Reinfranks den Nachhall einer berühmten Rede vernehmen, die 30 Jahre vor dem zitierten Radiogespräch, nämlich am 7. Mai des Jahres 1959, im Senate House der Universität Cambridge gehalten wurde. "The Two Cultures and the Scientific Revolution" war der Titel der sogenannten "Rede Lecture", die Sir Charles Percy Snow, seines Zeichens Physiker und Autor der elfbändigen Romanreihe "Strangers and Brothers", an jenem Tag seinem Publikum zu Gehör brachte.
Die Argumentation und der Vorwurf ähneln sich, wie man sogleich hören wird: "Es ist seltsam", so C.P. Snow, "wie wenig von den Naturwissenschaften des 20. Jahrhunderts Eingang in die Kunst des 20. Jahrhunderts gefunden hat. Ab und zu nur pflegte man auf Dichter zu treffen, die sich wissenschaftliche Begriffe zu eigen machten und sie falsch benutzten – es gab eine Zeit, zu der in der Lyrik immer wieder und auf mystifizierende Art und Weise das Wort "Refraktion" auftauchte und "polarisiertes Licht" so gebraucht wurde, als stellten sich die Schriftsteller darunter eine ganz besonders herrliche Art von Licht vor. Natürlich kommt die Naturwissenschaft der Kunst so nicht zugute. Sie muss als Teil der Gesamtheit unserer geistigen Erfahrung gelten, sie muss darin einfließen dürfen und ebenso selbstverständlich genutzt werden wie alles Übrige."
Snow, der beiden Sphären, der Kunst und der Wissenschaft, angehörte, machte eine Kluft zwischen der traditionellen humanistischen Kultur und den noch relativ jungen Naturwissenschaften aus, die sich, wie er ausführte, seit den Tagen der industriellen Revolution immer mehr vertieft und schließlich dazu geführt habe, dass sich zwei Gruppen, nämlich Geistes- und Naturwissenschaftler, unversöhnlich gegenüberstünden, ohne einander zu verstehen, ja ohne einander verstehen zu wollen.
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Poesie und Naturwissenschaftler trennen sich

Das gesamte intellektuelle Leben der westlichen Welt sei zunehmend gespalten, so Snow, lebe und arbeite in kompletter Unkenntnis des komplementären Teils – zum Schaden aller. Während die Naturwissenschaftler dabei immerhin noch vom traditionellen Bildungswesen geprägt seien, wüssten die Schöngeister nicht einmal mit den Grundlagen der Mathematik und Physik etwas anzufangen: Mehrere Male habe er, erklärt Snow, bei einer Dinner Party scherzhaft um eine Definition des Zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik gebeten – für ihn schlicht das Pendant zur Frage, ob man jemals ein Werk von William Shakespeare gelesen habe –, nur um mit Schweigen und Desinteresse bedacht zu werden.
Beide Fraktionen seien folglich aus freien Stücken in ihrer Wahrnehmung eingeschränkt, würden sich gar, vor allem die Humanisten, mit ihrem Mangel brüsten. Die Diskussion, die sich an Snows Rede in Cambridge anschloss, wurde mit aller Heftigkeit geführt und hielt noch Jahre an – im Grunde bis heute. Umso kühner, mag man denken, wenn ausgerechnet ein Lyriker, der selber nur einen dunklen Gnadenwinkel hinterm Ofen der humanistischen Kultur bewohnt, eine Symbiose beider Bereiche anstrebt und eine "Poesie der Fakten" propagiert. Allerdings steht er mit dieser Haltung in Wirklichkeit in einer ehrwürdigen und gar nicht mal so jungen Tradition.
Was die Theorie betrifft, so hat die Dichtkunst der Moderne nicht selten auf die Wissenschaften zurückgegriffen und sie in ihren poetologischen Texten zumindest in metaphorischer Art und Weise bemüht – und sei es, um die ungleich größere Gruppe der Musenjünger und Äolsharfenbeschwörer mit dem blanken Technizismus der Ausführungen zu provozieren.
Das fängt an mit dem berühmten Essay "The Philosophy of Composition", in dem Edgar Allen Poe, der nicht nur der Begründer der Detektivgeschichte, sondern vor allem auch Dichter war, die Konstruktion seines Gedichts "The Raven" in gewollt nüchterner Manier mit der Mechanik einer Theatermaschinerie verglich. Es geht weiter mit den Dichterärzten William Carlos Williams und natürlich Gottfried Benn, die ihre Schreibtische mit einer Werkstatt beziehungsweise einem Laboratorium verglichen wissen wollten.

Kein Fremdkörper für Dichter

Doch auch in den Werken vieler moderner Dichter ist die Naturwissenschaft kein Fremdkörper, selbst wenn man von so fortschrittsbegeisterten Romanciers wie dem H.G. Wells der "Zeitmaschine" und vor allem Jules Verne absieht. Je jünger das Entstehungsdatum der Gedichte ist, desto weniger scheint das Zusammendenken von Naturwissenschaft und Lyrik ein Tabu zu sein. Das beschränkt sich nicht auf die maschinen- und geschwindigkeitshungrigen Futuristen um Filippo Tommaso Marinetti oder eine technikbegeisterte sowjetische Poesie, nein, es lässt sich auch an zeitgenössischen Lyrikern beobachten.
Man denke etwa an den schwedischen Dichter und Romancier Lars Gustafsson, der in seinen Versen nicht nur Meteorologen, Ballonfahrern und den Brüdern Orville und Wilbur Wright einen Platz einräumt, sondern in seinem Gedicht "Die Maschinen" auch über die Heronskugel, über die sonderbare pneumatische Kornfege und das Kunstgezeug der Harzer Bergwerke von 1723 zu schreiben wusste.
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Man denke auch an die dänische Dichterin Inger Christensen, die ihr Langgedicht "Alphabet" nach den Regeln der für gewöhnlich nur Mathematikern bekannten Fibonacci-Reihe aufgebaut hat. Die Zahlenfolge lautet hierbei 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21 und so weiter, jede Ziffer stellt also die Summe der beiden vorangegangenen dar – eine Struktur, der in Inger Christensens "Alphabet" die Anzahl der Verse pro Abschnitt entspricht.
Was schließlich den deutschsprachigen Raum angeht, so muss natürlich Hans Magnus Enzensberger erwähnt werden, der nicht nur Gustafssons Gedichte und den genannten Essay ins Deutsche übersetzt, sondern sich auch selber immer wieder mit der Thematik auseinandergesetzt hat: So stößt man in seiner Lyrik, etwa in dem 1975 publizierten Band "Mausoleum", auf Gedichte über Gottfried Wilhelm Leibniz, Frederick Winslow Taylor, John von Neumann, Charles Darwin, Carl von Linné und Wilhelm Reich, um nur einige zu nennen Oder auch auf eine lyrische Hommage an den Logiker und Mathematiker Kurt Gödel.
Begleitet und beleuchtet wird Enzensbergers poetische Auseinandersetzung mit der Materie immer wieder in essayistischer Form. Wer nun aber unter den jüngeren und jüngsten Lyrikern suchte, würde ebenfalls fündig werden: Bei Durs Grünbein zum Beispiel, der sich mit Medizin und Neurobiologie auseinandersetzt, bei Raoul Schrott, der sich in seinen Grazer Poetikvorlesungen mit den Beziehungen von Quantenmechanik und Poesie beschäftigte und überdies Gedichte zur "Physikalischen Optik" schrieb, bei Ulrike Draesner, aber auch bei Raphael Urweider und seinen unter dem Titel "Manufakturen" zusammengefassten Texten über Magellan, Galilei und Pasteur.
Der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger am 26.03.2017 im Theater Münster bei einem Gespräch. 
Der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger im Jahr 2017 (imago images / Rüdiger Wölk)

Versuch der Überwindung des Gegensatzes

All dies sind unübersehbare Brückenschläge, ja fast schon regelmäßig begangene Viadukte über jene Kluft hinweg, die Charles Percy Snow Ende der 50er-Jahre beschrieb und deren Anfänge als haarfeiner Riss man wohl in jener Zeit zu suchen hätte, in der die letzten Exemplare des Universalgelehrten auf Erden weilten, als sich der alles umfassende Begriff Philosophie oder Naturphilosophie, wie es damals hieß, noch nicht unwiderruflich in Geistes- und Naturwissenschaften aufgeteilt hatte.
Goethe, der mit so viel Ehrgeiz an seiner Farbenlehre arbeitete und den Roman "Die Wahlverwandtschaften" nach einem bei chemischen Elementen zu beobachtenden Phänomen benannte, bekam die beginnende Spaltung bereits zu spüren. In einem Kapitel seiner Schriften zur Morphologie der Pflanzen vermerkte er: "Von andern Seiten her vernahm ich ähnliche Klänge, nirgends wollte man zugeben, dass Wissenschaft und Poesie vereinbar seien. Man vergaß, dass Wissenschaft sich aus Poesie entwickelt habe, man bedachte nicht, dass, nach einem Umschwung von Zeiten, beide sich wieder freundlich, zu beiderseitigem Vorteil, auf höherer Stelle, gar wohl wieder begegnen könnten." Soweit Goethe. Die genannten Beispiele aber deuten darauf hin, dass es weit häufiger als allgemein vermutet zu derart freundlichen Begegnungen kommt.
Ist jedoch die Zeit des Lehrgedichts, einer Lyrik also, der es nicht nur auf die Nutzung, sondern auch auf die Vermittlung von Wissen ankommt, vorbei? Wer weiß. Fest steht, dass es seit den Gedichten, die Goethe im Zuge seiner Beschäftigung mit der Pflanzenmorphologie schrieb, kaum noch nennenswerte Versuche in dieser Richtung gegeben hat. Und wenig gefragt scheint zu sein, was der Ahnherr des naturphilosophischen Lehrgedichts, Lukrez, mit aller Kunst betrieb und was Horaz nur wenig später in der berühmten Formel "prodesse et delectare" zusammenfasste: Zu nützen also und gleichzeitig zu ergötzen. Lukrez zieht im ersten Buch seines Werks "De rerum natura", "Von der Natur", einen Vergleich aus der Medizin heran:
"Wie, wenn die Ärzte den Kindern die widrigen Wermutstropfen
Reichen, sie erst ringsum die Ränder des Bechers bestreichen
Mit süßschmeckendem Seime des goldigfarbenen Honigs,
Um die Jugend des Kindes, die ahnungslose, zu täuschen:
Während die Lippen ihn kosten, verschluckt es indessen den bittern
Wermutstropfen. So wird es getäuscht wohl, doch nicht betrogen,
Da es vielmehr nur so sich erholt und Genesung ermöglicht.
So nun wollt’ ich auch selber, weil unsere Lehre den Meisten,
Die noch nie sie gehört, zu trocken erscheint und der Pöbel
Schaudernd vor ihr sich kehrt, mit der Dichtung süßestem Wohlklang
Unsere Philosophie dir künden."
Der Grund für den Niedergang des Lehrgedichts ist vermutlich sehr simpel: Der Wirkungsradius der Poesie ist zu gering, als dass sie noch als taugliches Instrument zur Vermittlung von Wissen dienen könnte. Es wäre aufregend, mitzuerleben, wie Gelehrte mit der Gabe eines Stephen Hawking, komplizierte Zusammenhänge allgemein verständlich zu vermitteln, ihre Erkenntnisse und Ideen in Hexametern oder Blankversen formulieren. Doch werden sie dies aller Voraussicht nach auch in Zukunft in der vom breiten Publikum gewünschten Prosa tun. Versmaß und Reim sind als Hilfsmittel des Erinnerns, die sie einst ja waren, längst nicht mehr vonnöten; es gibt effizientere Medien, weniger mühsame Arten des Memorierens von Wissen.
Wem es also auf die Popularisierung von naturwissenschaftlichen Kenntnissen ankommt, der tut gut daran, sich nicht der Lyrik zu bedienen, deren Leserschaft zwar konstant, leider aber konstant niedrig ist. Und wem daran gelegen ist, von den neuesten medizinischen Entwicklungen zu erfahren, wird ohnehin eher "The Lancet" abonnieren als sich in Gedichtbände vertiefen.

Sprachliche Kraft ist wichtig

Bedenkenswert ist ferner, dass es weniger die Wermutstropfen als die gezielten Dosierungen goldenen Honigs sind, die das lukrezsche Werk bis heute zur lebendigen Lektüre machen, sieht man von der schieren Größe des Weltenentwurfs einmal ab Es ist weniger die Stichhaltigkeit der Fakten, mit denen Lukrez trotz mancher Kuriosität durchaus auf der Höhe seiner Zeit war, sondern seine sprachliche Kraft. Und so berühren uns vor allem jene Stellen, an welchen dem Dichter die bloße nüchterne Nennung nicht genügt und er lieber auf das Bild, auf die Metapher zurückgreift. Uns beeindruckt die berühmte Schilderung der athenischen Pest, mit der Lukrez sein Werk abschließt – oder auch die Beschreibung des sogenannten "Avernusproblems". Es geht bei diesem um den westlich von Neapel gelegenen Lago d’Averno, einen Kratersee bei den Phlegräischen Feldern – und insbesondere geht es um das Phänomen, dass dieser See für die Vögel, die ihn zu überfliegen versuchten, den sicheren Tod bedeutete. Lukrez nennt als Erklärung die schwefelhaltigen Ausdünstungen, die er auch in anderen Binnengewässern auszumachen glaubte:
"Denn sie bringen Gefahr dem gesamten Geschlechte der Vögel.
Wenn sie sich nämlich beim Flug grad’ über den Stellen befinden,
Lassen der Fittiche Segel sie sinken, vergessen des Ruderns
Und kopfüber, erschlafft, mit kraftlos hängendem Nacken
Stürzen sie nieder zur Erde, wenn grade die Stelle derart ist,
Oder ins Wasser, wenn unten vielleicht der Avernische See liegt."
Nichts dergleichen ist heute am Avernersee zu beobachten. Weder gibt es das von Lukrez so eindringlich beschriebene Phänomen, noch lässt sich nachweisen, dass es jemals zu beobachten gewesen wäre. Das könnte durchaus auf die veränderten geophysikalischen Gegebenheiten zurückzuführen sein. Einige der Beispiele aber, mit denen Lukrez die Plausibilität seiner Theorie zu untermauern sucht, waren schon zu seiner Zeit fragwürdig.
Denkbar also, dass Lukrez sich schlicht getäuscht hat – oder, dass er eine zufällige Beobachtung, etwa einen einzigen toten (vielleicht auch nur landenden?) Vogel zum allgemeinen Phänomen geweitet hat – vielleicht auch, dass jemand anders dies tat und die unzuverlässigen Fakten dem Dichter zu Ohren kamen, der sie prompt aufschrieb. Denkbar ist schließlich aber auch, dass Lukrez den poetischen Möglichkeiten, die diese Szene in sich trug, schlichtweg nicht widerstehen konnte. Was davon auch immer zutreffen mag, es spielt längst keine Rolle mehr. Die ursprünglichen Fakten mögen antiquiert oder schon immer falsch gewesen sein: Was bleibt, ist allein das ungeheuerliche Bild der im Himmel plötzlich erstarrenden, aus dem Blau in Schwärmen herabstürzenden Vögel.

Schon zwischen Naturwissenschaftler fällt das Gespräch schwer

Was, fragt man sich, könnte es heute bedeuten, auf der Höhe der Zeit zu sein? Abstrus erschiene wohl der Versuch, das gesamte Wissen, den umfassenden Forschungsstand unserer Tage überblicken zu wollen. Was zu Lukrez', was selbst zu Goethes Zeiten noch möglich, ja erstrebenswert war, ist längst undenkbar geworden. Zu zersplittert ist ja das, was man als Weltwissen bezeichnen könnte. Und längst hat man sich an die Existenz zahlreicher Wissensnischen gewöhnen müssen, an die Notwendigkeit immer neuer und für den Außenstehenden immer schwerer zu begreifender Spezialgebiete. Wenn Charles Percy Snow feststellen musste, dass den Vertretern der von ihm ausgemachten Kulturen der Dialog schwerfiel, so kann man sich heute fragen, ob nicht das gelungene Gespräch sogar innerhalb dieser Kulturen zu einer Seltenheit geworden ist – das Gespräch zwischen, sagen wir, einem Mikrobiologen und einem Quantenphysiker.
"So wie wir heute Eichendorff oder Mörike als Ausdruck ihrer Zeit empfinden (ohne dass sie die jeweils neuesten Zeitvokabeln benutzten)", schrieb Günter Eich einmal, "ebenso kann sich in einem heutigen, ganz privaten Gedicht für Spätere unsere Zeit unverkennbar ausdrücken." In demselben Essay sprach Eich sich gegen die Verwendung von Wörtern wie "Dynamo" und "Telefonkabel" aus. Eich hat ganz zweifellos Recht. Und es ließe sich vielleicht hinzufügen, dass viele Gedichte trotz "Dynamo" und "Telefonkabel" rein gar nichts über ihre Zeit aussagen. Es wäre reine Spekulation, zu fragen, ob ein Anhänger eines geozentrischen Weltbildes nicht trotzdem ein gültiges und dem Beginn des 21. Jahrhunderts angemessenes Gedicht schreiben könnte; ich nehme an, es wäre durchaus möglich.
Niemand muss ja wissen, wie genau ein Dynamo oder ein Telefonkabel funktionieren, um sie in einem Gedicht auf gelungene, also poetisch überzeugende Art und Weise zu verwenden – und verwendet werden können, ja müssen sie, wenn das Gedicht es erfordert, ebenso wie antiquierte Wörter und solche, die es bislang noch gar nicht gibt, in diesem Augenblick erst erfunden werden.
Man muss nicht wissen, dass Schnee ein schlechter Wärmeleiter ist und die Experten bei seinen Kristallen zwischen einfachen Formen wie Nadeln und Plättchen und zusammengesetzten Formen wie dem dendritischen Stern zu unterscheiden pflegen. Man muss nicht zwischen Merino- und Langwollschafen differenzieren und sich mit ihren Jahreswollerträgen auskennen, um aus beidem eine Metapher, aus einer Herde also einen "Blizzard von Schafen" zu machen. Doch lässt sich ebenso sagen, dass die Gefahr, im Klischee und im Altbekannten zu verharren, ohne eine solche Weitung der Kenntnisse größer ist als mit ihr – und dass sich, wer sich einem solchen Wissenszugewinn verweigert, fast fahrlässig neuer, ungekannter Möglichkeiten beraubt.

Neugierde als Fundament der Poesie

Neugierde ist eines der Fundamente der Poesie, ihre Voraussetzung sogar – und es gibt keinerlei Rechtfertigung für den Ausschluss der Naturwissenschaften als Gegenstand dieser Neugierde.
Die Auseinandersetzung zwischen Snow und seinen Gegnern über die "zwei Kulturen" hatte übrigens eine viktorianische Vorläuferdebatte: T.H. Huxley, ein Naturwissenschaftler und Anatom, vertrat eine der Snow’schen verwandte Auffassung und fand seinen Widersacher in dem Kritiker und Schriftsteller Matthew Arnold. Dieser beharrte in seiner Schrift "Literature and Science" von 1882 zwar darauf, dass wahre Bildung erst durch Kenntnis der Literatur, nicht zuletzt der klassischen Literatur gewährleistet werden könne. Er gestand aber immerhin zu, dass der Begriff der Literatur ausgedehnt zu werden verdiene und nicht nur die sogenannte "schöne" einschließen dürfe; vielmehr gehöre auch die Lektüre etwa von Isaac Newtons "Philosophiae naturalis principia mathematica" oder Charles Darwins "The Origin of Species" unbedingt dazu.
Mathematik, Physik, Medizin, Soziologie – all dies kann für die Poesie unverzichtbar sein. Der Lyriker – und insofern passt er gut in eine in unüberschaubar viele Wissensgebiete aufgefächerte Welt – ist ja per se ein Eklektizist, ein Sammler, der nimmt, was sich ihm bietet und es mit dem verknüpft, was er bereits hat. Als solcher wird er die Kluft zwischen den Kulturen nicht schließen, kann sie aber bewohnbar machen. Vielleicht auch haben die recht, die sagen, er könne von den Naturwissenschaften nicht nur Material erhoffen, sondern sich auch zu einer Präzision des Denkens, zu einer Sorgfalt in der Bildbearbeitung ermutigen lassen, die eine gefühlige Schwammigkeit von vorneherein ausschließen.
Vergessen wir aber nicht, dass die Poesie ihre ganz eigenen, von den Naturwissenschaften durchaus verschiedenen, Mittel hat – und dass sie, bei aller Notwendigkeit des Stoffs, den sie von jeder Disziplin gerne borgt, eine ihrer Wurzeln im skeptischen Denken hat. Das macht sie so frei und für viele, die mit einem "So und nicht anders ist es" auf den Wirtshaustisch schlagen, für all die Rechthuber und Begriffsstutzer, unerträglich. Für das Gedicht ist nichts "de facto". Alles muss doch hinterfragt und auf seine Möglichkeiten hin untersucht werden – und auf seine Unmöglichkeiten: Denn auch das Paradox ist eines der vorzüglichsten Instrumente der Lyrik. Mag sie von der Mathematik lernen und leihen – sie darf doch nie eine Gleichung mit nur einer Variablen, nie ganz berechenbar sein.
Fatal wäre es, wenn sie über den Fakten vergäße, was sie ausmacht: die Sprache. Nur dank deren Mitteln, nicht aufgrund des Stoffes, wird aus Fakten Poesie, entstehen daraus schließlich, in Umkehrung der vertrauten Formel von der "Poesie der Fakten", die Fakten der Poesie, die auch dann noch auf der Höhe der Zeit sind, wenn die Vögel längst wieder auf ihr Blau vertrauen können, hoch oben über den Avernersee gleiten und Richtung Neapel verschwinden.