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Avi Primor
„Die deutsch-israelischen Beziehungen sind die allerbesten, die wir haben können“

Auch wenn die Beziehungen unter der Regierung von Kanzlerin Merkel sehr gut gewesen seien, fürchte er in Zukunft um die bedingungslose Unterstützung, sagte der ehemalige Botschaft Israels in Deutschland, Avi Primor, im Dlf. „Es gibt viel Ärger über die israelische Politik in den besetzten Gebieten.“

Avi Primor im Gespräch mit Birgit Wentzien |
Porträt des ehemaligen israelischen Botschafters in Deutschland und Autor Avi Primor bei der Frankfurter Buchmesse 2013
Der ehemalige israelische Botschafter in Deutschland Avi Primor wusste schon sehr früh, dass er "für den Staat" arbeiten wollte (picture alliance / photothek / Michael Gottschalk)
Ein diskret-verschwiegener Beamter, der stets hinter den Kulissen wirkt und ausweichende Antworten auf heikle Fragen gibt? Nicht Avi Primor. Er war Diplomat von einem anderen Schlag: greifbar, humorvoll, ein Menschenfreund. Als Botschafter Israels in Deutschland setzte er auf Dialog und Haltung, zeigte Gesicht im wahrsten Sinne des Wortes, war präsent in der Öffentlichkeit, in den Medien. Während seiner Amtszeit in den 90er-Jahren wurde er zu einer der bedeutendsten Stimmen in den deutsch-israelischen Beziehungen. Und das, obwohl er viele Jahre einen großen Bogen um Deutschland und die Deutschen gemacht hatte. Die Annäherung erfolgte in kleinen Schritten und zunächst aus der Ferne.
Als Diplomat arbeitete er in den 60er-Jahren auf dem afrikanischen Kontinent, später war er Gesandter in Frankreich, Sprecher der israelischen Delegation bei der Genfer Friedenskonferenz und Botschafter bei der Europäischen Gemeinschaft, in Belgien und in Luxemburg. Dazwischen lagen etliche, durchaus einflussreiche Stationen im israelischen Außenministerium. Als Botschafter in Deutschland verabschiedete sich Primor 1999, wenige Monate nachdem er mit einigen Äußerungen im israelischen Wahlkampf für Wirbel gesorgt hatte.
Avi Primor, ehemaliger Botschafter Israels in Deutschland, lobt anlässlich des Volkstrauertages die Erinnerungskultur in Deutschland.
Avi Primor, ehemaliger Botschafter Israels in Deutschland, lobt anlässlich des Volkstrauertages die Erinnerungskultur in Deutschland. (dpa / Jörg Carstensen)
Doch den Rückzug ins stille Kämmerlein trat Primor auch im Ruhestand nicht an. Bis heute setzt er sich für die Beziehungen seines Landes zu Deutschland und Europa ein und nicht zuletzt für den Dialog und den Frieden in Nahost.

Kindheit: Ein Wilder und eine Wüste

Birgit Wentzien: Erev tov, Mar Primor, nach Tel Aviv!
Avi Primor: Oh, erev tov, das ist aber schön!
Wentzien: Guten Abend, Herr Primor!
Primor: Ja, guten Abend, das haben Sie schon auf Hebräisch gesagt!
Wentzien: Ich versuche, ich versuche, und habe gleich eine nächste Frage bitte: Wer ist Avraham-Aharon Halpern?
Primor: Das war mal, ja, so bin ich geboren. Das waren meine Großeltern, die darauf bestanden haben, mir diesen Namen zu geben. Also Halpern war der Familienname auf jeden Fall, und die haben mir einen Doppelnamen gegeben, also haben Aharon … Aharon habe ich dann gestrichen, weil es mir zu schwer war, ich wollte es nicht benutzen, und Avraham war auch ein Name, den meine Eltern nicht gerne akzeptiert haben, und so haben sie mich Avi genannt seit meiner Geburt, und ich hieß immer Avi für alle, abgesehen von den offiziellen Papieren. Aber abgesehen von Dokumenten war ich immer Avi für alle. Und dann kommt der Familienname, das ist bei uns üblich oder ich soll eher sagen, das war damals für uns üblich, dass man hebräische Namen sucht, dass man nicht mehr die alten Namen benutzt. Es gab auch Druck seitens der Behörden, dass man sich hebräische Namen sucht, besonders, wenn man für die Regierung arbeitet. Und da ich schon ganz früh wusste, dass ich irgendwie für die Behörden arbeiten werde, ich wusste nicht, ob das unbedingt die Diplomatie sein würde, das Auswärtige Amt, aber mir war klar, ich arbeite für die Regierung, das wollte ich. Und so habe ich ganz früh meinen Namen hebraisiert und habe daraus Primor gemacht. Ja, und jetzt habe ich Enkelkinder, die Primor heißen.

Geboren als palästinensischer Bürger und britischer Untertan

Wentzien: Ich will noch mal ganz kurz festhalten. Wir sind jetzt mit Ihrer Geburt, lieber Herr Primor, im Jahr 1935 in Tel Aviv.
Primor: Ja
Wentzien: In Ihrer Geburtsurkunde steht unter Nationalität „Palästinenser“.
Primor: Richtig.
Wentzien: Und in Klammern daneben: „Britischer Untertan“.
Primor: „Untertan“.
Wentzien: Genau. Nehmen Sie uns bitte mit in diese Zeit. Was war das für eine Zeit, 1935?
Primor: Ja, das war die britische Herrschaft. Das Land lebte etwa 500 Jahre unter türkischer Herrschaft des Osmanischen Reiches, und Ende des Ersten Weltkrieges haben die Briten das Land erobert und es behalten. Das war nicht sofort so klar, weil man damals nach dem Ersten Weltkrieg keine Kolonien mehr erlauben wollte. Also war das nicht eine Kolonie, sondern sogenannt ein Mandat des Völkerbundes, aber in Wirklichkeit war das eine britische Kolonie, so wie jede andere Kolonie. Und jeder, der damals in dem Land geboren ist, das heißt, nicht nur Juden, sondern auch Briten besonders, aber auch Araber, alle, die da geboren sind, haben es genauso bekommen wie ich: palästinensischer Bürger, britischer Untertan.
Wentzien: Und als Sie den Namen geändert haben, da wurde ja dann auch quasi mit der Zeit und der Anerkennung der Unabhängigkeit dann auch die Nationalität geändert?
Primor: Nee, das war viel früher.
Wentzien: Ah so!
Primor: Die Briten haben uns verlassen 1948, da war ich genau 13 Jahre alt. Und den Namen habe ich erst geändert, als ich 20 wurde.

Familiengeschichte mit vielen unbeantworteten Fragen

Wentzien: Ihre Mutter Selma Goldstein kam aus Frankfurt am Main, Ihr Vater und seine Familie kamen aus den Niederlanden und aus der Ukraine. Was wussten Sie von deren Vorfahren und von deren familiärem Hintergrund, der Mutter und des Vaters?
Primor: Also leider, das bedaure ich so sehr, weiß ich nicht genug, weil ich in meiner Jugend nicht genug Fragen gestellt habe, das hat mich nicht äußerst interessiert. Erst später in meinem Leben, als ich die Fragen nicht mehr stellen konnte, bin ich neugierig geworden und bedaure es, dass ich nicht mehr Fragen meinen Eltern gestellt habe. Immerhin, wie Sie sagen, meine Mutter ist in Frankfurt am Main geboren, ihr Vater, ja, mein Großvater, den ich nie gesehen habe, war Gymnasiumlehrer und ist dann mit der gesamten Familie in dem Holocaust umgekommen. Meine Mutter hat Deutschland früh verlassen und das war reiner Zufall. Meine Mutter war 1932, da war sie 19 Jahre alt, da ist sie als Touristin mit einer Jugendgruppe nach Palästina gekommen, das war so eine Schifffahrt, um den Nahen Osten zu besuchen, verschiedene Länder.
Unter anderem haben sie einen Tag in Palästina gehabt, nur einen Tag, aber an dem Tag hat sie zufällig meinen Vater kennengelernt, meinen zukünftigen Vater kennengelernt, und weil sie so jung war, hat sie sich sofort entschieden, sie bleibt vor Ort und bleibt mit diesem Mann, was ihre Eltern natürlich überhaupt nicht verstehen konnten. Erstens haben sie nicht verstanden, wieso sie so eine Entscheidung so schnell trifft, und zweitens, wieso will sie da in einer Wüste, so nannten sie das Land, unbedingt leben, beziehungsweise mit einem Wilden, haben sie geschrieben. Den Brief haben wir noch in der Familie.
Und bei meinem Vater war das ganz anders, also seine Eltern sind in der Ukraine geboren, in irgendeinem Dorf, ich habe mal den Namen gekannt, habe ich schon vergessen. Und die waren ein ganz junges Paar, nicht einmal 20 Jahre alt, als es Pogrome gab. Das war damals sehr oft so, es ist vorgekommen in dem Russischen Reich, in dem Russischen Kaiserreich, und da sind sie geflohen, so wie viele Juden geflohen sind. Wohin, wo läuft man hin? Also in Richtung Westen natürlich. Und die sind gelaufen und gelaufen und gelaufen, bis sie am Strand waren, am Meer, und dann hat man ihnen gesagt, sie würden sich befinden in einem Land namens Holland, und dass die Leute hier, so sagt man, sie sind sehr, sehr nett und sehr angenehm, die akzeptieren Ausländer. Also sind sie vor Ort geblieben. Sie haben sowieso keine Alternative dazu gehabt. Und mein Großvater hat sich dort sehr schön aufgebaut, aber hat sich nie zu Hause gefühlt, weder er noch meine Großmutter. Aber dann sind sie nach dem Ersten Weltkrieg, als die Türken nicht mehr da waren, sind sie nach Palästina gekommen.


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Wentzien: Hat man den Holocaust damals beschwiegen, weil Sie ja auch sagen, Sie bereuen im Nachgang, dass Sie da keine Fragen gestellt haben, hat man das beschwiegen, bewusst auch nicht darüber gesprochen?
Primor: Das war sehr unterschiedlich. Aber im Hintergrund hat man schon davon gehört, man konnte es nicht ganz verschweigen. Ich habe weniger gehört, weil ich ein Kind war, und mit den Kindern hat man über solche Sachen auf jeden Fall nicht gesprochen. Na, ich kann mich erinnern, das hat auf mich einen sehr, sehr starken Eindruck gemacht. Ich war, glaube ich, acht Jahre, sieben oder acht Jahre alt, ja, 43, glaube ich, war das, da war ich mal krank nachts, und meine Eltern haben den Arzt gerufen, und der Arzt war ein deutscher Jude, und er kam zu uns in der Mitte der Nacht, ich weiß nicht, wie viel Uhr es war, und hat mich behandelt. Aber dann wollte er nach Hause, und meine Eltern haben ihm angeboten, noch etwas da mit denen zu trinken oder zu essen, und er ist noch ein bisschen geblieben und dachten, dass ich geschlafen hätte. Und da haben sie von dem Holocaust gesprochen.
Meine Eltern haben ihn gefragt, weil er auch Deutscher war, was er davon hält, wie er das versteht, und da ist er wütend geworden, und deshalb habe ich so gut hören können, und hat geschrien, was für eine Verleumdung das wäre, was für Horrorgeschichten man da über Deutschland erzählt, das wäre alles Kriegspropaganda. Und er selber ist ja von Deutschland geflohen wegen den Nazis, wegen Antisemitismus, aber er konnte von dem Holocaust nicht … Das war ihm zu viel. Und meine Eltern haben sich bemüht, ihn zu beruhigen. Er hat so geschrien, dass ich es wirklich nie vergessen habe. Er wollte es nicht glauben. Ich gehe davon aus, dass er es nicht wirklich, wirklich verleugnet hat, dass er es vertrieben hat. Er wollte es nicht glauben, das war für ihn zu schmerzlich. Aber das weiß ich nicht, das kann ich mir nur so vorstellen.

Herausforderungen eines Diplomaten-Lebens

Wentzien: Herr Primor, das ist relativ ungewöhnlich, dass man in so jungen Jahren schon weiß, dass man dem Staat dienen will, so haben Sie es ja ausgedrückt. Der Staat Israel, das Land, das war Thema in Ihrer Familie. Wie kamen Sie darauf? Sie waren Kind, oder ein junger heranreifender Erwachsener.
Primor: Ja. Sie können auch Kind sagen, das war in meiner Kindheit auch so. Wir sind so aufgewachsen, das war unser Umfeld: riesengroße Patrioten, vor allem Patrioten. Das jüdische Land, der jüdische Staat, das war unser Ziel, so haben wir es zu Hause gehört, so haben wir es vor allem in der Schule gelernt. Das war wirklich unsere Grunderziehung. Wir wurden als verrückte Patrioten unterrichtet. Ich sehe das heute so, ja, damals habe ich es natürlich nicht so verstanden. Und deshalb war mir klar und auch den meisten meiner Freunde: Wir wollen für den Staat arbeiten. Also bei mir ist es letzten Endes das Auswärtige Amt geworden, aber das hätte auch die Wirtschaft sein können oder die Streitkräfte.
Wentzien: Wir springen bitte, Herr Primor, und zwar: Studium, dann der Wirtschaft, der Politikwissenschaft und der internationalen Beziehungen in Jerusalem an der dortigen hebräischen Universität, Militärdienst, dann Studium an der Sorbonne in Paris, und ...
Primor: Nein.
Wentzien: Nicht? Ah!
Primor: Studium an der Sorbonne in Paris, das habe ich erst dann gemacht, als ich Diplomat in Paris war.
Wentzien: Ah, genau.
Primor: Ja, aber sonst habe ich in Israel studiert und in den Vereinigten Staaten.
Wentzien: Genau. Und als Sie in Paris waren, haben Sie dort einen Studentenjob dann auch angenommen und haben nebenbei gearbeitet und haben Bücher verkauft.
Primor: Ja, da war ich noch kein Student, da wollte ich Student sein.
Wentzien: Ah so.
Primor: Ich wollte in Paris studieren, habe aber keine Möglichkeit gefunden, wovon ich da leben sollte. Und da habe ich diese Arbeit gefunden durch eine Annonce im „New York Herald Tribune“, ich kann mich noch genau erinnern, was da stand: „Make 200 Dollars a week and more!“ Das war ein Vermögen damals, ein Vermögen war das. Und da habe ich dort angerufen, das waren tatsächlich Amerikaner, und die Arbeit war, amerikanische Enzyklopädien den amerikanischen Soldaten in Frankreich zu verkaufen.
Wentzien: Also es war ja eine Menge Geld, wie Sie sagen, ganz klar, aber war das auch anstrengend? Ich meine, amerikanische Enzyklopädien an amerikanische Soldaten in Frankreich zu verkaufen und dort ja auch im privaten Türrahmen zu stehen und zu sagen, das müssen Sie jetzt haben – also ist das eine gute Vorbereitung für den diplomatischen Dienst?

"So eine fürchterliche Arbeit war diese Lobbyarbeit"

Primor: Ja, genau! Ja.!
Wentzien: Warum?
Primor: Weil an die Tür zu klopfen bei unbekannten Leuten und versuchen, irgendwie sich hereinzudrängen, da muss man schon sehr viel Mut haben. Und das war immer sehr schwierig für mich. Ich habe immer ein bisschen Angst gehabt, habe mich nicht wohl gefühlt und so, aber musste mich selber zwingen. Und dann im diplomatischen Dienst, in unserem diplomatischen Dienst, nicht in einem normalen diplomatischen Dienst, musste ich auch so eine Arbeit leisten.
Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Wir waren als Land von den meisten Ländern der Welt nicht anerkannt. Ja. Wer hat es offiziell bestimmt, dass es einen Staat Israel geben soll? Das war die Vollversammlung der Vereinten Nationen. Und wir sind ein Staat geworden. Jetzt jeder neue Staat wird fast automatisch als Mitgliedsstaat der UNO akzeptiert, sofort. Nicht so Israel. Es hat ein Jahr gedauert, ein volles Jahr, bis man uns als Mitgliedsstaat der UNO akzeptiert hat, weil es so viel Widerstand seitens der Araber, seitens der Dritten Welt, seitens hier und so gegeben hat. Es gab keine Mehrheit, um uns das zu ermöglichen, Mitgliedsstaat der Vereinten Nationen zu werden.
Also was bedeutet das? Dass wir eigentlich von den meisten Ländern der Welt, einschließlich auch mancher europäischen Länder damals, nicht akzeptiert wurden. Und wenn wir etwas durchbrechen wollten, mussten wir viel, sagen wir, Fantasie haben. Und zum Beispiel so haben wir begonnen, unsere Beziehungen mit den afrikanischen neuen Ländern, und ich habe auch da gedient von Anfang an. Und in New York oder in Genf mussten wir dann Lobbyarbeit leisten.
Meine Arbeit war es, Lobby zu leisten bei den afrikanischen Diplomaten und sie davon zu überzeugen, für uns zu stimmen. Und das war nicht einfach. Die wollten nicht immer, manches Mal wollten sie mir keinen Termin festlegen, manches Mal haben sie sich versteckt, sie haben mir einen Termin gegeben und da waren sie nicht da.
Und ich kann mich sogar erinnern, einmal habe ich erfahren, dass mein Gesprächspartner oder gewünschter Gesprächspartner gehört hat, dass ich im Hause war, da ist er in die Toilette gegangen, und ich bin auch da hingegangen und vor der Tür gewartet. Das kann ich mich erinnern. So eine fürchterliche Arbeit war diese Lobbyarbeit. Also sehen Sie, das mit den Büchern – habe ich was gelernt.
Wentzien: Vielen Dank für diesen Blick hinter die diplomatischen Kulissen, Herr Primor. Sie haben Afrika erwähnt, dazwischen lag jetzt die Ausbildung im Auswärtigen Amt, in der Asienabteilung, in der Wirtschaftsabteilung. Und die erste Auslandsstation in Afrika war Bamako in Mali, und dann Abidjan in der Elfenbeinküste.
Primor: Richtig.
Wentzien: Und Deutschland war für Sie im diplomatischen Dienst damals weiterhin der weiße Fleck auf der Landkarte.
Primor: Richtig.
Wentzien: Sie haben in einem Ihrer vielen Bücher geschrieben: „Es war mir klar, dass ich mit Deutschland nie etwas zu tun haben und mit Deutschen niemals verkehren noch sie überhaupt jemals kennenlernen würde.“
Primor: Ja.

Erste Berührungsängste in und mit Deutschland

Wentzien: Jetzt springe ich, wir springen, das muss sein, und zwar in das Archiv des Deutschlandfunk, lieber Herr Primor, und ich habe ein Manuskript gefunden eines Interviews, das Sie unserem Sender gegeben haben im Juli 1999. Und da lautet die erste Antwort: „Deutschland ist mir überhaupt nicht mehr fremd, es ist mehr als ein bekanntes Land. Ich habe sechs sehr intensive Jahre in Deutschland verbracht und Deutschland ist für mich ein Stück Leben geworden. Nicht nur ist es nicht fremd, sondern es ist ein bisschen Teil von mir geworden und von meiner Familie auch.“ Jetzt müssen Sie uns helfen. Wie kamen Sie jetzt von der einen Einschätzung, weißer Fleck, hin zu, Deutschland ist ein Stück von meinem Leben?
Der israelische Botschafter in der Bundesrepublik Deutschland, Avi Primor (l), hat am 26.11.1993 in der Villa Hammerschmidt in Bonn Bundespräsident Richard von Weizsäcker (r) sein Beglaubigungsschreiben überreicht.
Avi Primor überreichte am 26.11.1993 in der Villa Hammerschmidt in Bonn Bundespräsident Richard von Weizsäcker (r) sein Beglaubigungsschreiben (picture-alliance/ dpa / Nicole Maskus)
Primor: Ja, ich gehe davon aus, dass Sie an Claus von Amsberg denken, und Claus von Amsberg war tatsächlich der erste Deutsche, den ich jemals kennengelernt habe, weil er es mehr oder weniger erzwungen hat, er hat sich gedrängt. Das war in Afrika, in der Elfenbeinküste. Ich war der zweite Mann der israelischen Botschaft, und wissen Sie, warum ich der zweite Mann war? Weil wir nur zu zweit waren. Und das war der Anfang meiner Karriere. Und Claus von Amsberg war der zweite Mann der deutschen Botschaft. Und es war damals so: Ein neuer Diplomat muss seine Kollegen besuchen, ja, einen Antrittsbesuch abstatten, jedem Kollegen.
Prinz Claus der Niederlande am 3. März 1982. Am 9. September 1926 wurde er als Claus von Amsberg in Dötzingen bei Hamburg geboren. Der Diplomat lernte 1964 auf einem Polterabend auf Schloss Kronberg die niederländische Kronprinzessin Beatrix kennen. Die Hochzeit des Paares am 10. März 1966 wurde wegen der deutschen Abstammung des Bräutigams in den Niederlanden von teils heftigen Protesten begleitet. Prinz Claus konnte jedoch die Herzen der Niederländer erobern und zählte bald zu den beliebtesten Perönlichkeiten des Landes.
Mit dem ehemaligen Diplomaten Claus von Amsberg und späteren Prinzgemahl der niederländischen Königin Beatrix verband Primor eine lebenslange Freundschaft (picture-alliance / dpa)
Es gab in der Elfenbeinküste damals zehn Botschaften, das war nicht sehr kompliziert, die alle zu besuchen. Mein Botschafter hat mir auch sofort als Vorschrift gesagt: Sie müssen jetzt alle Nummer Zweien der verschiedenen Botschaften besuchen, und so weiter, und so weiter. Nach einer Weile hat er mich gefragt, ob ich das alles getan habe und alle Kollegen schon besucht habe, weil das so üblich war. Da habe ich gesagt, hm, ja, ja, ja, schon, schon, mehr oder weniger. Da sagt er, was heißt das, mehr oder weniger? Seien wir offen: Den deutschen Kollegen, haben Sie den besucht? Sage ich so: Nein. Da hat er gesagt: Sie haben diesen Beruf gewählt, also müssen Sie alles mitmachen, ob es angenehm ist oder nicht, so wie in jedem Beruf. In jedem Beruf gibt es unangenehme Sachen. Bei uns ist eben das so. Sie müssen auch den deutschen Kollegen besuchen. Da habe ich gesagt, natürlich, natürlich, was soll ich ihm denn sagen, aber habe es doch nicht getan. Ich konnte mich dazu nicht bringen.
Und da eines Tages ruft mich der deutsche Kollege an und stellt sich vor und sagt, ah, ich habe gehört, dass Sie neu hier sind, ich möchte Sie besuchen. Da sagte ich: Oh, nein, nein, ich muss Sie besuchen, Sie sind ja älter im Amt hier und so. Da sagt er, ach Quatsch, ich bin gerade gegenüber Ihrer Botschaft, darf ich vorbeikommen, nur hallo zu sagen und so? Das konnte ich natürlich nicht absagen. Und er kam und saß, ich weiß nicht, vielleicht 20 Minuten, so weit ich mich erinnern kann, und wovon haben wir gesprochen? Von der Elfenbeinküste, von dem Wetter, von der Hitze und so weiter, solche Sachen. Aber alles nur neutrale Themen. Und er ist weggegangen und ich war ganz glücklich, na, jetzt habe ich meine Pflicht getan, ich habe den deutschen Kollegen kennengelernt, jetzt muss ich nicht mehr in die deutsche Botschaft gehen. Aber er hat nicht nachgelassen. Und nach einem … Na, wollen Sie diese Geschichte höre!?
Der israelische Botschafter in der Bundesrepublik Deutschland, Avi Primor, am 06.12.1993 in seinem Büro in Bonn.
"Ich habe sechs sehr intensive Jahre in Deutschland verbracht und Deutschland ist für mich ein Stück Leben geworden", sagt Avi Primor über seine Zeit als Botschafter in Deutschland. (picture-alliance/ dpa / Tim Brakemeier )
Wentzien: Ja, Sie müssen sie erzählen! Bitte!
Primor: Ja, ja, gut. Eines Tages, wir haben, meine Frau und ich, wir waren jung verheiratet, haben ein Haus gemietet neben dem Weg zum Flughafen. Eines Abends ruft der deutsche Kollege an und sagt, ach, ich bin gerade am Flughafen und fahre zurück in die Stadt, darf ich da einen Sprung zu euch nach Hause machen? Er wusste schon natürlich, wo wir wohnten. Und ich konnte natürlich nicht absagen. Ich war ganz verwirrt, was soll ich ihm sagen? Der kommt zu mir nach Hause, der Deutsche. Und der Kollege kam. Diesmal ist er nicht 20 Minuten bei uns geblieben, sondern den ganzen Abend, weil er ziemlich schnell den Holocaust angesprochen hat, Zweiten Weltkrieg und Holocaust, erzählt hatte, dass er selber deutscher Soldat war, am Ende des Krieges, aber immerhin, und hat sofort den Holocaust ganz offen und ehrlich angesprochen, was uns sehr empört hat, weil wir haben immer gehört, die Deutschen würden nie die Wahrheit über den Zweiten Weltkrieg sagen, über den Holocaust und so verschiedene Ausreden oder leugnen oder was immer.
Und da saß vor uns ein Deutscher, der ganz offen und ehrlich über diese Geschichte gesprochen hat. Und da sind wir wirklich große Freunde geworden. Er ist bei uns sehr lange an dem Abend geblieben, und seitdem waren wir immer Freunde. Als er gestorben ist, habe ich die Trauerrede gehalten, um Ihnen zu sagen, wie nah wir einander geworden sind. Er ist allerdings nicht als Deutscher gestorben, sondern als Holländer, er hat die holländische Kronprinzessin geheiratet, die Beatrix, die dann Königin war, und ist in Holland gestorben. Und die Königin, die Beatrix, hat mich eingeladen, um eine Trauerrede zu halten.
Alte Verbündete, neue Zeiten – Israels Partner und der Nahost-Konflikt
Wentzien: Paris, Brüssel, Israel, Bonn am Rhein, wir schreiben das Jahr 1993, Sie werden Israels Botschafter in Deutschland, und das bis 1999.
Primor: Ja.
Wentzien: Und Deutschland ist Ihnen seither überhaupt nicht fremd. Ihre Nicht-Verlängerung damals, Herr Primor, hier als Botschafter, die erregte damals einiges Aufsehen. Ich habe versucht, die Geschichte zu rekonstruieren, und ich hoffe, Sie empfinden das nicht als Zumutung, wenn ich jetzt sage: Sie waren ja auch manchmal als Diplomat ganz schön undiplomatisch. Oder?
Primor: Ja.
Wentzien: Und deutlich.
Primor: Ja, ja, ja.
Wentzien: Und haben Ihrer Regierung auch manchmal dann auch Mores gelehrt. Sie hatten gesagt, Sie haben die ultraorthodoxe Schas-Partei als undemokratisch kritisiert und dann kam Post aus Tel Aviv, nehme ich an, oder ein Anruf.
Primor: Aus Jerusalem.
Wentzien: Aus Jerusalem, ja, ja.
Primor: Ich wurde aber nicht abberufen, wie man es gesagt hat, das nicht. Man hat mich nach Jerusalem gerufen und der Außenminister, später Ministerpräsident, hat mich gerügt, und im Auswärtigen Amt habe ich auch eine, wie soll ich sagen, eine Rüge bekommen schriftlich, ich durfte solche Sachen nicht sagen und so weiter. Aber ich bin zurück nach Deutschland. Ich bin dann in Deutschland so lange geblieben, bis ich in den Ruhestand gehen musste oder fast. Ich wurde nicht abberufen, wie man es gesagt hat.
Wentzien: Also ich halte fest: Es war eine Nicht-Verlängerung als Botschafter, keine Abberufung, und Sie haben bei der Feier Ihres Abschieds dann, auf dem Petersberg fand das statt, gesagt: Diese israelische Regierung hat mich nicht abberufen, diese Regierung ist abgewählt worden. Applaus wahrscheinlich an der Stelle.

„Die Netanjahu-Regierung hätte ich nicht vertreten können“

Primor: Tatsächlich, weil als ich zurückkam nach Israel, war die Regierung sowieso schon eine andere.
Wentzien: Von heute aus betrachtet, Herr Primor, und im Wissen um Ihre Einschätzung, Ihre Kommentierung, Ihre Bücher, Ihre Distanz auch zum langjährigen früheren israelischen Premier Netanjahu und dessen Politik: Könnten Sie mit dem Wissen von heute den Posten eines israelischen Botschafters in Deutschland nochmals wahrnehmen?
Primor: Nein, weder in Deutschland noch anderswo. Ich kann diese Regierung nicht vertreten. Also die heutige Regierung ist schon etwas einfacher für mich, aber die Netanjahu-Regierung hätte ich nicht vertreten können, obwohl ich sie vertreten habe in den 90er-Jahren, als Netanjahu zum ersten Mal Ministerpräsident wurde, er war damals allerdings ziemlich anders. Wir haben uns auch ganz gut persönlich gekannt. Wir waren ja mal Kollegen im Auswärtigen Amt und wir haben uns gut gekannt und haben offen miteinander gesprochen. Ich wusste genau, was seine Meinungen waren, weil er mir ganz offen gesagt hat, was für ein Nationalist er war.
Aber danach, als er Ministerpräsident geworden ist, und besonders, als er zurück an die Macht gekommen ist, war das eine Verfremdung für mich. Ich kann diese Politik nicht unterstützen, ich kann sie nicht rechtfertigen. Ich habe schon damals Schwierigkeiten gehabt, wie Sie es damals erzählt haben, die Regierung zu rechtfertigen, aber heute hätte ich es bestimmt nicht tun können.

„Es gibt sehr viel Ärger über die israelische Politik in den besetzten Gebieten“

Wentzien: Wo stecken die deutsch-israelischen Beziehungen heute, im Jahr 2021?
Primor: Ach, die deutsch-israelischen Beziehungen sind die allerbesten, die wir haben können. Aber ich stelle mir immer die Frage, wie lange kann das noch andauern? Aus zwei Gründen. Erstens: Also sagen wir so, wenn wir von Tatsachen sprechen, wie man auf Hochdeutsch sagt, Tacheles, dann sind die Beziehungen wirklich die allerbesten. Aber ich weiß, bei der Frau Merkel gab es sehr viel Ärger. Die Frau Merkel hat mich paar Mal empfangen, als ich schon längst nicht mehr Botschafter in Deutschland war und sie Bundeskanzlerin, und hat mir offen gesagt, wie, ja, sagen wir es vorsichtig, unglücklich sie mit der israelischen Politik war.
Wentzien: Sie drücken sich diplomatisch aus.
Primor: Also es geht um … Nee, sie hat schon offen gesprochen.
Wentzien: Okay.
Primor: Es geht immer wieder um die palästinensische Frage, das ist das Problem zwischen uns, ja. Und die Deutschen versuchen, die Palästinenser im Westufer, in dem besetzten Westufer zu unterstützen, materiell zu unterstützen, das wird dann von der israelischen Regierung abgelehnt, wenn nicht regelrecht zerstört. Also es gibt viele Meinungsverschiedenheiten, und was die israelische Politik anbelangt, auf jeden Fall.
Aber bei der Frau Merkel, wusste ich, wird es nie eine Änderung in der deutschen Politik geben, weil die Frau Merkel mir erzählt hat, und das war noch während meiner Amtszeit, sie hat mir gesagt: Aus zwei Gründen würde ich nie was gegen Israel tun, zunächst einmal wegen des Holocausts, okay, das ist nichts Neues und ich bin nicht die Einzige, aber mir liegt es am Herzen, auch Israel zu unterstützen wegen Ostdeutschland. Ja, weil sie ist ja in Ostdeutschland aufgewachsen, sie ist dort nicht geboren, aber sie ist dort aufgewachsen und weiß, was für eine Propaganda – und nicht nur Propaganda – man gegen Israel geführt hat, wie die ostdeutsche Regierung nicht nur Palästinenser unterstützt hat, sondern palästinensischen Terror unterstützt hat, hat sogar Terroristen ausgebildet.
Und sie sagt, das kann ich nie vergessen und das kann ich nie verzeihen, und deshalb werde ich immer Israel unterstützen, was auch immer Israel tun wird. Okay. Und so hat sie es auch gemacht. Sie war sehr bitter gegen unsere Politik im Nahen Osten, aber hat uns absolut unterstützt, in jedem Bereich, auch im militärischen Bereich. Und das geht bis heute noch.
Aber ich stelle mir die Frage: Wie lange werden die Deutschen, die jungen Deutschen noch so bedingungslos Israel unterstützen können? Die Zeit vergeht, die Dinge ändern sich, Israel ist nicht mehr die Juden im Holocaust, und es gibt sehr viel Ärger über die israelische Politik in den besetzten Gebieten. Ich glaube nicht, dass das die größte Sorge der Deutschen ist, ja, die Deutschen kümmern sich um andere Sachen, aber wenn sie an Israel denken, dann können sie nicht an Israel ohne Besatzung denken, ohne Palästinenser denken. Und deshalb weiß ich nicht, wie lange diese bedingungslose Unterstützung noch halten kann.
Wentzien: Das sind düstere Töne, Herr Primor, wenn Sie nach vorne schauen.
Primor: Aber wichtige.
Wentzien: Wichtige, natürlich. Ihr Credo hat immer gelautet: Es muss, sage ich, Avi Primor, möglich sein, Kritik an Israel zu artikulieren, das ist nicht antisemitisch, und wenn wir gute Freunde sein wollen, müssen wir ehrlich miteinander sprechen, auch öffentlich.
Primor: Richtig, ja.

„Amerikaner sind bereit sind, Druck auf Israel auszuüben“

Wentzien: Wenn Sie jetzt in die europäische, in die amerikanische, in die deutsche politische Landschaft schauen, gibt es da überhaupt jemanden, dem das gelingen könnte, und gibt es überhaupt jemanden, Herr Primor, der es versucht, zu sprechen?
Primor: Ob es jemanden gibt, der es versucht, da sage ich klipp und klar nein. Ob es möglich wäre: Ja, schon. Und es muss in Amerika beginnen. Ich glaube nicht, dass die Europäer die eine Führungsrolle in dieser Sache haben wollen. Wir sind auch von den Europäern nicht so abhängig, wie wir von Amerika abhängig sind. Wir sind ja von Amerika total in jedem Bereich abhängig, in jedem Bereich, militärisch, diplomatisch, wirtschaftlich, alles.
Mit Europa, mit der Europäischen Union, haben wir sehr wichtige Beziehungen, besonders wirtschaftliche Beziehungen, der allergrößten, der wichtigsten wirtschaftlichen Beziehungen, die wir überhaupt haben, aber die Europäer können nicht wirklich Druck auf Israel ausüben. Sie können uns drängen, aber nicht Druck auf uns ausüben. Und die Amerikaner können das. Die Amerikaner, wenn sie wollen, ja, die Amerikaner können sagen, okay, dann geht euren Weg und wir gehen unseren Weg und verlangt von uns gar nichts. Da können wir gar nicht existieren, da können wir nicht überleben, nicht in dem Nahen Osten. Aber die Amerikaner wollen es nicht, aus verschiedenen Gründen, besonders aus innenpolitischen Gründen.
Und so lange die Amerikaner nicht bereit sind, Druck auf Israel auszuüben, was sie nie getan haben, nie, sie haben immer gedroht und sie haben gedrängt, aber sie haben nie wirklich Druck auf Israel ausgeübt, … Wenn die Amerikaner das machen, machen die Europäer mit, davon bin ich überzeugt, und dann hat Israel überhaupt keine Wahl und muss nachgeben. Das ist aber heute immer noch nicht der Fall, nicht einmal mit der heutigen amerikanischen Regierung, die eigentlich nicht von Israel begeistert ist, weil Netanjahu alles getan hat, um mit der Demokratischen Partei nicht gut zu stehen, ich sage da eine Untertreibung. Also gibt es sehr viel Bitterkeit in der Demokratischen Partei Israel gegenüber. Aber wir haben auch den Netanjahu nicht mehr. Es ist also ein bisschen weniger arg.
Wentzien: Aber man hat nicht das Gefühl, dass sich Amerika jetzt im Nahen Osten großartig interessiert, oder?
Primor: Stimmt.
Wentzien: Denn die Vereinigten Staaten orientieren sich ja gerade etwas um.
Primor: Richtig. Aber sie wollen auf den Nahen Osten nicht total verzichten. Und wenn sie Einfluss in dem Nahen Osten haben wollen, und das wollen sie trotz allem, sie wollen nicht engagiert sein, aber sie wollen schon Einfluss haben und ihre Interessen schützen – ihre Interessen sind nicht nur Israel, Jordanien zum Beispiel und noch andere –, aber da brauchen sie Israel, weil Israel viel Gewicht in dem Nahen Osten hat. Besonders heute, wo Israel schon diplomatische Beziehungen, mehr als diplomatische Beziehungen mit mehreren arabischen Ländern hat, da werden die Amerikaner auf uns nicht verzichten. Ganz auf den Nahen Osten verzichten werden sie nicht, also Interesse haben sie doch, nicht so wie vorher, aber doch.

„Ich will, dass Israel Experten in Sachen Europäische Union bekommt“

Wentzien: Sie leben inzwischen wieder in Ramat Gan, einem Vorort von Tel Aviv.
Primor: Ja, richtig.
Wentzien: Und Sie haben nach Ihrer Rückkehr nach Israel ein trilaterales Zentrum für Europäische Studien gegründet.
Primor: Ja.
Wentzien: Und Sie setzen, glaube ich, mit diesem Studiengang, den Sie gegründet haben, in Israel, in Jordanien und auch dann in Düsseldorf hier in Deutschland darauf, dass es einer Generation in kommenden Zeiten bedarf, die von gegenseitigem Wissen profitiert und darauf aufbauen kann. Ist das richtig, so übersetzt in einer kurzen Zusammenfassung?
Primor: Das ist schon mein Ziel und meine Hoffnung, ja. Schauen Sie, ich bin zur Schlussfolgerung gekommen, als die Botschaft da in Brüssel war und auch bei der Europäischen Union akkreditiert war, dass wir in Israel von Europa, von der Europäischen Union so gut wie überhaupt nichts verstehen. Wir verstehen von Europa als Tourismusort, aber nicht viel mehr – der durchschnittliche Israeli, meine ich. So, jetzt: Ich weiß, wie wichtig Europa zumindest wirtschaftlich für uns geworden ist mit der Europäischen Union, und wir haben auch sehr, sehr wichtige unentbehrliche Verträge mit der Europäischen Union geschlossen, ich war Teil davon damals und ich hatte mir als Ziel gesetzt, wenn ich in den Ruhestand gehe und in die Universität gehe, da will ich unbedingt die Europäische Union unterrichten, ich will, dass Israel Experten in Sachen Europäische Union bekommt.
Und das mache ich bis heute. Nur dann habe ich es, das ist eine lange Geschichte, mit Jordanien und mit den Palästinensern zusammengebaut und wir haben ein trilaterales Zentrum der Europäischen Studien gegründet. Das geht so: Ein Jahr studiert man in Europa vor Ort, bei mir in der Universität in Tel Aviv, in der palästinensischen Universität al Quds und in Amman, in Jordanien. Und im zweiten Jahr fahren jeweils zehn Studenten aus jeder Universität nach Düsseldorf und studieren da ein zweites Jahr und bekommen ihren M.A. von Düsseldorf, nachdem sie zusammen gelebt haben in einem Studienheim und zusammen studiert haben. Das ist natürlich immer jedes Jahr eine Herausforderung, aber jedes Jahr gelingt es immer und die Stimmung wird auch gut und die Beziehungen zwischen den Studenten entwickeln sich.
Wentzien: Es gibt eine Geschichte, die spielt in Dahomey, dem heutigen Benin. Es ist eine Ihrer diplomatischen Stationen in Afrika. Sie waren als amtierender Botschafter an einer Hochschule des Landes eingeladen zu einem Vortrag über Israel und die Juden. Der Rektor sagte gleich beim Reinkommen, also, lieber Herr Primor, halten Sie sich kurz, Sie haben eine Stunde Zeit, und reden Sie über das jüdische Volk, seine Geschichte und Israel. Das haben Sie getan, und da kann man ja auch mehr als eine Stunde erzählen, und einer der Studenten sagte nach dem Vortrag zu Ihnen: Sie haben in Ihrer Rede ganz kurz den sogenannten Holocaust erwähnt, die Geschichte, wie die Deutschen Sie verfolgt haben.
Das verstehe ich nicht. Vor einem Monat hatten wir Ihren Kollegen, den deutschen Botschafter zu Gast, er sieht genauso aus wie Sie, Sie sind ja beide genauso weiß, also ist das doch eine Geschichte, wie es für einen Holocaust gar nicht möglich ist. Sie haben durchgeatmet damals und Sie haben entgegnet: Na ja, wenn man sich so an die Geschichte des heutigen Benin, des damaligen Dahomey erinnert, da gab es ja auch Afrikaner, die andere Afrikaner überfallen haben und als Sklaven dann an die Portugiesen und die Araber verkauft. Ich meine, dass in dieser Geschichte von damals für heute ganz, ganz, ganz viel anderes noch steckt, nämlich ein afrikanischer Student, der mit seinen Augen auf eine deutsche, eine europäische, eine israelische Geschichte schaut, und er will diese Geschichte aus seinem Dasein heraus verstehen. Ist das berechtigt, ist das nachvollziehbar? Was sagen Sie?
Primor: Ich kenne Afrika in den letzten Jahren nicht mehr, ich war schon längst nicht mehr da, aber ich kann Ihnen erzählen aus meiner Zeit, als ich dort war, und auch paar Besuche danach. Ich war mal Leiter der Afrikaabteilung im Auswärtigen Amt und dann habe ich Afrika überall bereist. Ich glaube, dass die Afrikaner heute viel mehr verstehen, als sie damals verstanden haben. Vergessen Sie nicht, ich war damals 27 Jahre alt. Damals war ich ja auch nicht in der Lage, wirklich den Holocaust zu erklären, einem Menschen, der davon gar nichts weiß. Also hätte ich damals mit einem Europäer beziehungsweise mit einem Deutschen gesprochen, da hätte ich einen Dialog über den Holocaust führen können. Mit einem Afrikaner konnte ich es gar nicht. Ich musste ihm die Grundlage erklären, und das wusste ich gar nicht, wie man das macht. Also ich wiederhole, ich war damals erst 27 Jahre alt.
Wentzien: Herr Primor, und Sie sind jetzt etwas älter, und ich bitte um …
Primor: Etwas, etwas.
Wentzien: … etwas älter, und ich bitte um eine Schlussantwort auf eine undiplomatische Frage.
Primor: Bitte.

Sorge um die Zukunft Israels

Wentzien: Werden sich kommende Generationen, Ihre Enkel-, Urenkel-Generationen anders erinnern und anders gedenken?
Primor: Ich mache mir große Sorgen über die Zukunft meiner Enkelkinder in Israel als Israelis, weil … Ich weiß, Sie wollen eine Antwort über Deutschland hören, aber ich will Ihnen zunächst sagen, dass mich …
Wentzien: Es gehört zusammen, es gehört zusammen, denke ich, ja.
Primor: Schauen Sie, wenn es kein Wunder passiert, und ein Wunder kann vorkommen, Ben-Gurion hat ja immer gesagt, wer an Wunder nicht glaubt, ist kein Realist, aber wenn es kein Wunder gibt und es so weitergeht, wie es heute geht, werden wir die besetzten Gebiete annektieren, einschließlich den Gazastreifen, weil er nicht alleine leben kann. Irgendwann kommt das. Und wenn wir sie annektieren, werden wir keine Wahl haben als die, jenen die israelische Staatsangehörigkeit zu gewähren, obwohl es viel Widerstand geben wird in Israel und man wird Apartheid vorschlagen wollen und so weiter.
Letzten Endes in der modernen Welt wird es nicht anders gehen als das, dass wir den Annektierten die Staatsangehörigkeit versprechen oder gewähren. Und dann, angesichts der Geburtsrate der Araber, werden sie in kurzer Zeit die Mehrheit in diesem Land sein. Und was für Land werden wir dann haben, was für Israel werden wir haben? Einen jüdischen Staat schon nicht mehr. Ich weiß nicht, wie das aussehen wird. Das bereitet mir große Sorgen, weil ich glaube, dass die Juden immer noch, auch in der modernen Welt, einen unabhängigen Staat brauchen, so wie jede Bevölkerung, so wie jedes Volk.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.