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Aya Cissoko: "Ma"
Emanzipation unter Extrembedingungen

Aya Cissoko wurde als Tochter malischer Einwanderer in Paris geboren. Sie war Boxerin, heute ist sie Autorin. Ihre Lebensgeschichte und die ihrer Mutter hat sie in "Ma" aufgeschrieben – ein Roman über Emigration und Emanzipation unter Extrembedingungen. Der ist gerade heute für Jugendliche hochaktuell.

Von Christine Knödler |
    Die Schriftstellerin Aya Cissoko auf der Frankfurt Buchmessse
    Die Schriftstellerin Aya Cissoko auf der Frankfurt Buchmessse (imago / Hoffmann)
    Aya Cissoko ist eine beeindruckende Frau. Aufrecht steht sie da, strahlend, wie eine Königin – ihre Haare die Krone. 1978 wird sie als Kind malischer Einwanderer in Paris geboren. Sie ist Französin. Sie ist Bambara, gehört zu einer ethnischen Gruppe in Südost-Mali. Sie spricht Französisch und Bambara.
    Im Herbst 1986 wird ihre Familie Opfer eines vermutlich von Rechtsradikalen verübten Brandanschlags. Der Vater und die kleine Schwester kommen ums Leben – da ist Aya Cissoko gerade mal sieben Jahre. Sie beginnt zu boxen. Zweimal gewinnt sie die Weltmeisterschaften im Kickboxen. 2006 holt sie sich auch den Weltmeistertitel im Amateurboxen, bevor eine schwere Verletzung sie zum Aufhören zwingt. Wieder muss sie von vorn anfangen, studiert Politikwissenschaften und beginnt zu schreiben.
    Heute ist Aya Cissoko Autorin. Sie spielt Theater. Sie hat eine 5-jährige Tochter. Im September 2017 ist ihr Roman "Ma" in der Übersetzung von Beate Thill im Verlag Das Wunderhorn erschienen. Ein Buch für Erwachsene? Sicher. Aber es ist auch ein Buch, das als Jugendlektüre funktioniert.
    Einblick in die malische Kultur und Gesellschaft
    Denn "Ma" ist nicht nur das ungewöhnliche Porträt einer ungewöhnlichen Frau – Aya Cissokos Mutter. "Ma" erzählt von Immigration und weiblicher Identitätsfindung zwischen Kulturen, über Generationen hinweg. "Ma" ist zudem Bestandsaufnahme der Situation westafrikanischer Frauen in Frankreich: wie sie ihren Alltag bewältigen, ihre Integration organisieren, ohne ihre Herkunft aufzugeben.
    Das lässt sich auf ganz Europa übertragen. Es ist das Universelle, das Aktuelle dieses Buches. Es geht alle, überall, in jedem Alter an.
    Und: "Ma" erlaubt einen Blick hinter die Kulissen, den nur werfen kann, wer Leben und Lebensgeschichten von Innen kennt. Es ist der Blick von Aya Cissoko. Schonungslos könnte man ihn nennen, weil er sich jeder Beschönigung verweigert. Vor allem aber ist er unbestechlich:
    "Meine Mutter ist auf der Hut vor jedem Wort, das mir über die Lippen kommt. "Dieses Kind redet zu viel! Es kennt keine Scham! Schlechte Zeichen für später!" Wenn Ma sich sorgt, wird sie steif und ihr stockt der Atem, als würde sie gleich der Schlag treffen. Sie beklagt sich unentwegt über mein Verhalten: "Kunko b’an da la tuma bee. Immer nur Schwierigkeiten. Ich versteh wirklich nichts bei diesem Kind. Ein ordentliches Mädchen muss unauffällig, zurückhaltend, still sein. Sie muss wissen, wo ihr Platz ist."
    Da beschließt sie, 'mich so richtig ranzunehmen', bevor ich noch schwerer zu bändigen bin. Ma macht es sogar zu ihrer Ehrensache: 'Ich bin 100 Prozent Bambara', wiederholt sie mehrfach, den Finger in den Himmel gereckt, wie um unsichtbare Zuhörer zu Zeugen zu rufen."
    Aya Cissoko wollte immer eins: sich ausdrücken
    I da mine! Halt die Klappe! Der Ton ist rau, der Rhythmus knapp. Satz auf Satz wie Schlag auf Schlag zeigt sich die sperrige Schönheit des Textes, seine Radikalität, sein dokumentarischer Anspruch. Dafür steht auch die Zweisprachigkeit: Im Original heißt das Buch "N’Ba. Ma mère", zweisprachig sind die Kapitelüberschriften, immer wieder wechseln Aya Cissokos Muttersprachen Bambara und Französisch von Satz zu Satz. Nahtlos. Denn es ist möglich, in einer Person beides zu sein: Französin und Bambara. Darauf kommt es Aya Cissoko an.
    I da mine! Halt die Klappe! Sie hat sich nicht daran gehalten.
    "Man muss die Dinge aussprechen. Wenn man das nicht tut und alles in sich einschließt, zerstört es einen! Darum: Sprecht die Dinge aus – ob über den Sport, das Schreiben, den Tanz, den Gesang – das ist egal. Aber die Gefühle müssen raus!"
    Schreiben oder Boxen - es geht um Präzision
    Erst ist es ihr Körper, das Boxen, mit dem Aya Cissoko sich ausdrückt, ihre Wut bewältigt. Dann sind es Worte. Sie sei ruhiger geworden, sagt sie.Den eigenen Ton für ihr Buch muss die Autorin erst finden:
    "Als ich angefangen habe zu schreiben, hab ich versucht, mich irgendwie gefälliger auszudrücken – aber dann hab ich gemerkt: Das geht nicht! Es geht nicht, weil es weder meinem Temperament noch dem meiner Mutter entspricht. Manchmal muss man einfach sehr direkt sein! Was mich derzeit wirklich stört, ist, dass wir versuchen, die Wirklichkeit mittels der Sprache abzumildern: Behinderte etwa nennen wir Menschen mit eingeschränkten Möglichkeiten. Nein! Es gibt die Worte! Wir sollten sie benutzen! Für mich sind das keine Beleidigungen – es ist die Wirklichkeit. Und die Wirklichkeit ist hart."
    Das ist die Haltung einer bemerkenswerten Frau, die in "Ma" auch die Geschichte ihrer Kindheit erzählt. Aya Cissokos Familie ist arm. Sie teilen sich zu sechst ein Zimmer. Nach dem Tod des Vaters ist es "Ma", die das Geld verdient, die Kinder großzieht und Mitglieder des Clans durchfüttert.
    Sie schimpft, sie schreit, sie schlägt. Doch sie zweigt Geld ab für Bücher, damit Aya lesen kann, und sie schickt sie zum Sport, lässt sie boxen. Auch das gehört zum ambivalenten Mutter-Tochter-Verhältnis dazu.
    Erfahrungen aus den Augen des Kindes, der Heranwachsenden, Erinnerungen der Erwachsenen reiht Aya Cissoko im ihr eigenen sperrig-nüchternen Ton aneinander. Wie Stationen sind die Kapitelüberschriften. Sie heißen: "Werdet anständige Menschen", "Zu wenig Geld", "Die französische Schule", "Der Patriarch", "Der Ältestenrat".
    Es sind eingefangene Augenblicke, präzise platzierte Rückblicke – schon ist man mitten unter den Menschen, mittendrin in Gesprächen, Gelächter, dem Lärm, den Farben, und ja – es ist eine andere, eine unbekannte Welt, die die Leserinnen und Leser durch Aya Cissokos Augen zu sehen bekommen.
    Sie sei, sagt sie, eine genaue Beobachterin mit jahrzehntelanger Erfahrung. Präzision und Treffsicherheit des Boxens haben ihr Schreiben geprägt.
    Freiheit statt Helikopter-Eltern
    Andere könnten derartige Erfahrungen in die Knie zwingen.
    Nein – das ist viel zu pathetisch! Und Pathos kann Aya Cissoko überhaupt nicht leiden. Außerdem stimmt es nicht:
    "Wir waren sehr, sehr arm, wir hatten wirklich gar nichts, aber wir hatten trotzdem eine sehr glückliche Kindheit. Die Eltern haben das Notwendige dafür getan (...) Wir hatten zwar kein Spielzeug, aber wir haben alles, was wir zum Spielen brauchten, draußen gefunden: alte Autoreifen, einen Stock – egal! Wir haben daraus ein Abenteuer gemacht."
    Kindern, die hier und heute, in Zeiten überbehütender Helikopter-Eltern, aufwachsen, fehlt genau eine solche Freiheit – es ist noch eine Ebene, auf der der Roman sich lesen lässt.
    Mehr als das Porträt einer starken Frau
    Vor allem aber gibt die Autorin, indem sie erzählt, wie sie erzählt, unmittelbar Einblick in die malische Kultur und Gesellschaft. Ob es die Rolle der Kinder, der Frauen innerhalb der Familien oder das Verhältnis der Familien zu den Clans betrifft, ob Aya Cissoko über Abhängigkeit, Befreiung, Würde schreibt: Wie eine andere Gemeinschaft funktioniert kommt zur Sprache.
    Die ist Umgangssprache im doppelten Sinn des Wortes: "Rotes Arschloch" nennt die Mutter ihre Tochter – dass Worte brutal sein können, ist wieder Teil der malischen Kultur:
    "Man beleidigt sich, um ... damit die Wut sich schon mal legt!"
    Das ist hochinteressant und neu. Und so ist "Ma" auch ein ethnologisches Buch. Wie brisant diese Perspektive ist, hat Aya Cissoko selbst überrascht:
    "Ich wollte kein politisches Buch schreiben, aber je mehr ich geschrieben habe umso klarer wurde mir, dass es ein überaus politisches Buch ist. Wenn man zwischen den Zeilen liest, wird klar, dass, unabhängig davon, woher die Menschen kommen, sie die gleichen Bedürfnisse haben. Sie wollen an einem Ort leben, an dem Frieden ist, sie wollen ihre Kinder erziehen, damit aus ihnen etwas wird. Das ist es, was sich alle wünschen."
    Lesen, sagt Aya Cissoko einmal, heiße für sie: die Komfort-Zone zu verlassen. Sich in Gefahr zu begeben. Das gilt auch für ihren Roman. Wer ihn liest, wird über andere und eigene Werte, über andere und eigene Kultur und Gesellschaft neu nachdenken. Denn "Ma" ist nicht nur ein Denkmal für eine, nein, für zwei unbeugsame Frauen. "Ma" schärft den vorurteilsfreien Blick.
    Und es stimmt, was Aya Cissoko zum Abschied als Widmung ins Buch schreibt: weil das Schreiben den Menschen Menschlichkeit lehrt.
    Damit kann heute, angesichts der Debatten über Migration, Assimilation, Integration, angesichts von zunehmendem Nationalismus und Rassismus, gar nicht früh genug begonnen werden.
    Aya Cissoko: "Ma."
    Aus dem Französischen von Beate Thill.
    Verlag Das Wunderhorn, 202 Seiten, 24,80 Euro.