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Azubi ohne Schulabschluss

Verkürzte Gymnasialzeiten und die ausgesetzte Wehrpflicht sorgen dafür, dass sich derzeit mehr junge Leute als üblich für einen Ausbildungsplatz interessieren. Mert Polat hat es dennoch geschafft, auch ohne Schulabschluss einen Ausbildungsplatz zu ergattern.

Von Godehard Weyerer | 04.11.2011
    "Ja, heute müssen wir kurz Lagerbestand aufnehmen, und die Bestellungen für nächste Woche vorbereiten, was wir noch brauchen."

    Okan Sönmez, der Chef des kleinen Getränkevertriebes in Bremen, steht in der Lagerhalle und weist den Lehrling ein. Mert Polat ist seit dem 1. September diesen Jahres im Betrieb und schon mittendrin in allen Arbeitsabläufen - ein Vorteil, wenn ein kleiner Betrieb ausbildet.

    "Ich habe Kundengespräch, Verkauf. Lagerbestand, Lagerräumung, Warenverkauf."

    Merl Polat ist 19 Jahre alt und will Kaufmann im Groß- und Außenhandel werden. Vor kurzem erst ist er nach Bremen gezogen - zu seiner Mutter. Beide lebten zuvor in Hamburg. Die Eltern haben sich scheiden lassen. Merl Polat ist zunächst beim Vater geblieben, brach dann die Schule ab:

    "Ich wollte nur arbeiten und habe mir gedacht, das bringt mir nichts, wenn ich jetzt den Abschluss nachmache. Dann habe ich geguckt, ohne Abschluss und Ausbildung hat das Leben sowieso keinen Sinn, findet man nichts heutzutage. Dann habe ich mich mit meinem Vater hingesessen und habe dann da in Hamburg eine Ausbildung gemacht, habe dann nach dem zweiten Lehrjahr, weil ich da auch eine sechs hatte in der Schule, abgebrochen. Dann bin ich hierher gekommen und habe gesehen, das ist auch meine allerletzte Chance."

    Ohne Schulabschluss in die Lehre. Das geht, vorausgesetzt, der Lehrherr stimmt zu. Als eingetragener Kaufmann ist Okan Sönmez ausbildungsberechtigt.

    "Ich habe ein Jahr zuvor mit dem ersten Auszubildenden angefangen, das ist der San, da bin nach Gesprächen mit der Handelskammer, vorher haben die so was nicht gehabt, auf die Idee gekommen, so was zu versuchen. Ich denke auch, dass das eine sehr gute Idee war, weil ich mit den Jugendlichen auch klar komme, denke ich. Ich hoffe, die auch mit mir."

    Okan Sönmez, der Firmeninhaber, ist in Bremen geboren. Seine Eltern waren aus der Türkei nach Deutschland gekommen. Okan Sönmez machte Mittlere Reife, danach das Fachabitur und wagte mit 21 Jahren den Sprung in die Selbstständigkeit. Vor acht Jahren war das. In der Halle, die er angemietet hat, ist es laut geworden:

    "Das ist das Geräusch von der Kühlanlage, die hier unsere Ware kühlt. Wir verkaufen Milchprodukte und Erfrischungsgetränke. Milchprodukte, Ayran nennen wir das, das ist ein Nationalgetränk der Türkei. Das wird in einer Molkerei in Essen produziert. Wir sind ein Betriebspartner der Firma Ayyo hier in Bremen."

    Ayran, erklärt Okan Sönmez, ist eine Art Buttermilch und auf allen türkischen Märkten, in Gaststätten und Imbissständen zu finden. Außerdem vertreibt er türkischen Joghurt und Fruchtgetränke, die er aus der Türkei importiert. Neben den beiden Auszubildenden sind zwei Mitarbeiter bei ihm fest angestellt.

    Mert Polat, seinen zweiten Lehrling, kennt er bereits von klein auf. Die Eltern gehören zu Okan Sönmez´ Bekanntenkreis:

    "Er hat bei uns vorerst ein dreimonatiges Praktikum, wo ich mich mit ihm intensiv beschäftigt habe und festgestellt habe, dass der seine Schulausbildung nicht geschafft hat, weil es an damaliger Faulheit und persönlichen Problemen wohl gelegen hat. Das habe ich gesehen, weil ich ihn auch vorher aus der Familie ein bisschen kenne und da habe ich mir gedacht, in den drei Monaten, wo wir zusammengearbeitet haben, hat er bewiesen, dass er den Job kann, dass er kaufmännische Talente hat. Da wollte ich ihm die Chance geben, er war auch sehr positiv eingestellt, dass er sich anstrengen wird."

    Die fünf in Deutsch, weswegen Mert Polat den Hauptschulabschluss nicht schaffte, hängt ihm nach. Mitunter hapert es in der Rechtschreibung. Die Geschäftskorrespondenz, soweit der Lehrling sie verfasst, muss der Chef gegenlesen. Von Vorteil natürlich ist, dass Mert Polat Türkisch spricht.

    "Wir hatten Komplikationen, die haben sich inzwischen gebessert."

    Fehltage? Bis jetzt Fehlanzeige. Zweimal in der Woche geht Mert Polat zur Berufsschule. Betriebswirtschaftslehre, Rechnungswesen, Informatik sind Schulfächer in der Ausbildung zum Kaufmann im Groß- und Außenhandel. Mert Polat, der einzige in seiner Klasse ohne Hauptschulabschluss, muss sich da mächtig ins Zeug legen:

    "Mein Wille ist jetzt viel stärker als vorher. Ich habe auch gemerkt, dass ich in der Schule auch weiterkomme. Ich halt auch mit den anderen Schülern mit, ich kann auch was dazu sagen. Ich denke, ich krieg das schon hin, und ich werde es auch schaffen. Es ist meine allerletzte Chance, ich habe keine andere Chance mehr. Ist halt so."

    Nur gut, dass die Arbeitsagentur ausbildungsbegleitende Hilfen anbietet und die Kosten für Nachschulungen bezuschusst. Mert Polat, der ohne Schulabschluss ist, kann das gut gebrauchen. Denn am Ende seiner Ausbildung muss er vor der Handelskammer die Prüfung ablegen. Da wird dann kein Unterschied gemacht, ob die Azubis mit Mittlerer Reife, mit Fachabitur oder ohne Schulabschluss in die Lehre gegangen sind.

    Mert Polat hat bis zur Prüfung noch drei Jahre Zeit. Erst einmal wartet Arbeit in der Lagerhalle auf ihn. Der Chef winkt ihn zu sich:

    "Und es wäre gut, wenn wir die Paletten rechts hochstapeln, die Dosen, das Pfand sortieren und zu unseren Lieferanten schon mal vorbereiten."

    Dann legt er los.

    "Das Ziel ist es, ihn hier vernünftig auszubilden und ihn mit einem guten Abschluss, falls wir zu dem Zeitpunkt niemanden einstellen wollen oder können, hier rausgehen zu lassen. Das ist das Ziel. Aber wenn sich dann irgendetwas ergibt, sind wir nicht abgeneigt, bei uns hier in unserem Unternehmen zu beschäftigen."