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"b.26" Ballett
Der neue Tanzabend des Balletts am Rhein in Duisburg

Von Nicole Strecker |
    Das kann man in Zeiten eines kriselnden Europas wohl kaum ignorieren: Johannes Brahms zitierte einst in seiner 1. Sinfonie aus Beethovens Neunter, auch bekannt als Europa-Hymne. Nähme ein Choreograf in der aktuellen Lage diese Anspielung nicht thematisch auf, man würde das Ballett wohl mal wieder als weltfremde Elfenbeinkunst abtun. Dies kann man einem Terence Kohler gewiss nicht vorwerfen. Er gibt gleich ein bisschen den Johann Kresnik des zeitgenössischen Balletts und lupft die Tagespolitik auf Spitzenschuhe. Europa, Flüchtlinge und die Folgen.
    Kaum hebt sich der Vorhang, sind die Menschen auf seiner Bühne auch schon am Verzweiflungshöhepunkt. Sie bibbern und rasen, stürmen gegen glatte Betonmauern und -quader, mit denen im Bühnenbild von Verena Hemmerlein diese gepeinigte Gesellschaft gefangen ist.
    Dirigent Axel Kober und die Duisburger Philharmoniker preschen in dramatischem Tempo durch Brahms 1. Sinfonie, selbst in zarten Passagen scheint Gefahr zu lauern. Dazu aggressive Hebefiguren mit verkrampften Körpern, zitternde Finger, die unsicher einen Weg weisen. Das funktioniert zunächst fantastisch. Und vor allem die Ensemble-Choreografien des gebürtigen Australiers und einstigen Zöglings der Karlsruher Ballettprimadonna Birgit Keil sind eine Wucht.
    Vielleicht hätte man Terence Kohler sogar die fragwürdige Provokation nachgesehen, dass ausgerechnet der dunkelhäutige Hüne Chidozie Nzerem die winzig-wehrlose Marlucio do Amaral am brutalsten von allen durch die Luft wirbelt. Ein Bild, das wohl auf die stereotype Angst vorm schwarzen Mann anspielt, und die Rassismusalarmtaste beim Zuschauer drückt.
    Allerdings: Sobald Kohler mit Duos oder Soli irgendwelche Statements abgeben will, versagt ihm die choreografische Fantasie. Im letzten Satz der Sinfonie wird eine Leiter herein geschleppt, mit deren Hilfe die Mitglieder des 40-köpfigen Ensembles nacheinander die Grenzmauer überwinden. Die Kraxelei will kein Ende nehmen. Aber anders als zuvor darf man hier die künstlerische Einfallsarmut als Sinnbild nehmen für die gesellschaftspolitische Ratlosigkeit angesichts der Fluchtbewegungen - das passt ganz gut: eine Tanzverweigerung mit der Frage quo vadis Europa?
    Kohlers Stück mit dem Eine-Welt-Titel "One" ist das letzte des Abends und von diesem Schluss aus betrachtet kann man den harmoniegetränkten Auftakt des Programms erst wertschätzen: Getanzt werden Auszüge aus Werken von August Bornounville, dem Meister des ballettösen Füßelns. Bei ihm wird nicht einfach das Bein gehoben, es wird vorher immer noch mal geschlenkert und getupft. Eine technische Virtuosenschau mit Frauen als Tüllpuppis in Pastellfarben und neckischen Jungs im heiter-lichten Tanz-Elysium. Man muss ein echter Ballettfan sein, um sich nicht am Vintage-Look der Choreografie zu stören.
    Anders bei Stück Nummer zwei des Abends: "Dark Elegies" zu den Kindertotenliedern von Gustav Mahler, 1937 choreografiert vom Briten Antony Tudor ist ein zeitlos schönes Trauerballett. Eine fast nüchterne Analyse der Stadien eines unfassbaren Schmerzes. Tudor gilt als begnadeter Kummer-Choreograf. Pina Bausch war einst seine Studentin. Und seine "Elegies" machen überraschend diese Linie sichtbar: sanfte Wiegebewegungen und schwere Arme wie bei der Tanztheaterfrau, sinnlich-eigenwillige Berührungen der Körper, eine tiefe Innerlichkeit, die vom Ballett am Rhein wunderbar getanzt wird. So groß das Leid, so stark ist dennoch der Zusammenhalt der Gemeinschaft bei Tudor. Womit sich der immerhin teilweise gelungene Abend auch lesen lässt als dreifache Reflexion über gesellschaftliche Kollektive – mit großer Hoffnung auf ihre produktive Kraft.