Sarah Zerback: 424 Euro Hartz IV – so viel bekommt ein alleinstehender Erwachsener aktuell. Das soll das Existenzminimum sichern und darf nicht allzu drastisch gekürzt werden, auch wenn Jobangebote nicht angenommen oder Termine nicht wahrgenommen werden. Das hat das Bundesverfassungsgericht am Dienstag entschieden. Ein Arbeitsauftrag an die Politik, da nachzujustieren, und auch an die Bundesagentur für Arbeit, die das dann in der Praxis umsetzen muss. Zuständig für die Jobcenter, die die Empfänger von Arbeitslosengeld II betreuen, von Hartz IV, ist Detlef Scheele, Chef der Bundesagentur für Arbeit, und Sozialdemokrat ist er auch noch. Guten Morgen, Herr Scheele!
Detlef Scheele: Guten Morgen.
Zerback: Was bedeutet denn nun dieses Urteil für Ihre Arbeit in den Jobcentern?
Scheele: Wir haben Klarheit. Das ist gut, dass der Streit um die Frage, darf man sanktionieren oder darf man gar nicht sanktionieren, beigelegt ist. Das höchste deutsche Gericht hat jetzt entschieden, dass Sanktionen bis zu 30 Prozent verfassungskonform sind, dass Fördern und Fordern Bestand hat und dass die Mitwirkungspflicht Bestand hat. Ich begrüße das Urteil. Ich begrüße auch, dass die schärferen Sanktionen untersagt worden sind. Ich habe immer gesagt, wir sind zum Fördern da und nicht zum Bestrafen, und wenn Sie Menschen 100 Prozent sanktionieren und ihnen die Wohnung sanktionieren, dann drohen wir sie zu verlieren, und das ist unvernünftig. Insofern ist es ein ausgewogenes vernünftiges Urteil, das die Jobcenter jetzt gemeinsam mit der Bundesagentur, den Ländern und den kommunalen Spitzen umsetzen werden.
Zerback: Sie müssen das jetzt mit Leben füllen, weil das ist ja noch nicht im einzelnen ausdekliniert. Was passiert denn zum Beispiel mit den Bescheiden, die bereits ausgestellt wurden, für Minderungen, die über diese 30 Prozent, die jetzt noch erlaubt sind, hinausgehen?
Scheele: Wir haben am Nachmittag des Urteils zusammengesessen mit den Ländern, der Bundesregierung, dem BMAS, und den kommunalen Spitzen und haben vereinbart, in den nächsten zwei, drei Wochen zunächst mal keine Sanktionen auszusprechen, auch nicht im Jugendbereich, weil ich vermute, dass Artikel eins als grundrechtliche Norm auch für unter 25-Jährige gilt. Insofern machen wir erst mal gar nichts, sondern gucken uns das Urteil an. Dann können wir auch keinen Fehler machen, denn wir müssen klären, wie wollen wir mit Jugendlichen umgehen, die vom Verfassungsgericht nicht behandelt worden sind, und wir müssen klären, wie wir mit den Ermessensfragen umgehen, die wir jetzt bekommen haben, in Richtung Härtefälle und der Flexibilität von Sanktionen, sie auch eher aufzuheben, wenn jemand auf die Idee kommt, wieder mitzuwirken. Da müssen wir Regeln schaffen, die für unsere Mitarbeiter und auch für die Betroffenen transparent und nachvollziehbar sind, und das kann man nicht ad hoc über Nacht. Darum haben wir uns gemeinsam mit unseren Partnern entschieden, hier zunächst mal gar nichts mehr zu machen, bis wir Klarheit haben.
"Wir haben vor Terminen mit einer SMS an den Termin erinnert"
Zerback: Herr Scheele, das ist ja interessant. Ich habe gerade bei Ihnen einen wichtigen Punkt herausgehört. Sie haben das so formuliert, dass die Menschenwürde da nicht vom Alter abhängig ist. Da muss man vielleicht dazu sagen, dass junge Hartz-IV-Empfänger unter 25 besonders scharf sanktioniert wurden in der Vergangenheit und dass das jetzt auch nicht Teil des Urteils ist. Würden Sie dann schon sagen, dass das Urteil jetzt gar nicht weit genug geht? Verstehe ich Sie da richtig?
Scheele: Ich befasse mich nicht mit dem Urteil, sondern ich gucke mir an, was steht in dem Urteil der über 25-Jährigen. Dann vermute ich aber, dass Artikel eins für alle Menschen in Deutschland gilt, und ich vermute, …
Zerback: Das ist, glaube ich, mehr als eine Vermutung, Herr Scheele.
Scheele: Ja, ist ja alles gut. Wenn wir jetzt eine Regelung für über 25-Jährige schaffen, dann wird der Streit um die unter 25jährigen beginnen, und den möchten wir gerne gemeinschaftlich vermeiden. Dafür brauchen wir aber ein bisschen Zeit und dafür haben wir zurzeit keine Rechtsnorm. Das Gesetz ist, wie es ist, und es ist vom Verfassungsgericht nicht für verfassungswidrig angesehen worden bei den unter 25-Jährigen. Darum brauchen wir ein bisschen Abstimmungszeit, wie wir das rechtlich konform ordentlich machen.
Zerback: Gleichzeitig kann man sagen, auch Sie als Bundesagentur für Arbeit müssen nicht immer alles machen, was die Verfassung gerade noch zulässt. Sie haben da ja auch in der Vergangenheit schon einen gewissen Ermessensspielraum gehabt. Warum wurde das denn in vielen Fällen doch noch bis zu aller Härte durchgezogen?
Scheele: Ich weiß nicht, warum die öffentliche Diskussion sich nicht ums Fördern dreht, sondern ums Sanktionieren. Denn wir haben auch in der Vergangenheit rund drei Prozent aller Hilfebedürftigen, die bei uns Leistungen beziehen, im Monat nur gekürzt und davon 75 Prozent nur wegen Meldeversäumnissen, um zehn oder 20 Prozent. Wir haben unser Ermessen immer zu Gunsten der Hilfebedürftigen ausgelegt. Wir haben vor Terminen mit einer SMS an den Termin erinnert. Wir sagen jedes Mal, wenn ihr wichtige Gründe vortragt, dann sanktionieren wir nicht. Uns kann, glaube ich, wirklich niemand vorwerfen, dass wir nicht alles getan haben, um das schärfste Mittel, wenn man so will, nicht einsetzen zu müssen.
"Wir laufen den Leuten wirklich, wirklich eher nach"
Zerback: Nun gut, Herr Scheele. Jedes Mal und alle Mittel, das sind ja doch Superlative, die kann ich so nicht stehen lassen, weil es ja doch viele Fälle gibt, in denen das genau passiert ist. Und wenn Sie sagen, drei Prozent, …
Scheele: Drei Prozent sind nicht viele Fälle.
Zerback: Ja! Aber man muss auch sagen, die Zahl, die auch auf 2018 zutrifft, ist, dass im Verlauf des kompletten Jahres 8,5 Prozent, wenn man nicht nur die neuen Fälle betrachtet, der Erwerbsfähigen mindestens eine Sanktion bekommen haben. Das sind ja mehr als die drei Prozent.
Aber wir wollen uns auch gar nicht um Zahlen streiten, sondern es geht darum: Einen wichtigen Satz haben Sie gerade gesagt, dass Sie möchten, dass in der Debatte das Fördern eine größere Bedeutung bekommt als das Fordern. Dass das Fördern diese Dimension nicht hat, vielleicht liegt das auch daran, dass das im gelebten Alltag gar nicht immer im Vordergrund steht. Das empfinden ja viele Betroffene so.
Scheele: Ich habe vor wenigen Wochen mit dem Bundesarbeitsminister in Mannheim einen Mann kennengelernt. Der war 42 oder 43 Jahre alt. Von diesen 42 Lebensjahren war er 20 Jahre arbeitslos, wohnungslos, hatte mal eine Ausbildung gemacht und hatte nun eine Förderung (den Paragraphen lassen wir mal weg), eine befristete Beschäftigung, sozialversicherungspflichtig bei einer Waldorfschule im Garten für fünf Jahre. Dieser Mann sagte zu uns, ich hätte nie gedacht, dass ich wieder arbeiten kann. Aber wir kümmern uns genau um diesen Personenkreis. Wir kümmern uns auch um die, die von sich aus schon sagen, ich habe eigentlich keine Chance mehr. Und wir schicken gewiss niemanden weg, der eine Weiterbildung machen möchte, sondern wir laufen den Leuten wirklich, wirklich eher nach. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es auf einem Jobcenter einen Fall gibt, bei dem jemand gefördert werden will und gefördert werden kann, und zwar eher unter persönlichen Bedingungen gefördert werden kann, dem wir sagen, wir wollen das nicht.
"Wir möchten die Jobcenter zu Kümmerern machen"
Zerback: Herr Scheele, wenn ich Sie da einmal unterbrechen darf? Da gilt ja dann doch der Faktor Mensch, wenn zum Beispiel geschaut werden soll, wer ist einsichtig. Wie stellen Sie denn sicher, dass das wirklich in der Fläche immer fair zugeht?
Scheele: Ich würde nicht behaupten, dass es bei ungefähr 50.000 Mitarbeitern immer fair zugeht. Das kann keiner sicherstellen. Aber das, was wir sehen, ist, dass die Förderung in den Jobcentern im Mittelpunkt steht. Wissen Sie, in Duisburg ist es so, da kümmern wir uns zurzeit vorrangig um alleinerziehende Frauen. Die bekommen es aus welchen Gründen auch immer nicht hin, einen Kita-Platz zu organisieren, Absprachen mit den Arbeitgebern über den Beginntermin der Arbeit zu treffen, der die Fahrt zur Kita und dann die Fahrt zur Arbeit mit einbezieht. Da gehen wir mit, treffen die Absprachen mit den Arbeitgebern, treffen die Absprachen mit der Kindertagesstätte. Wir möchten die Jobcenter zu Kümmerern machen, denn wir sind die Nachfolgeorganisation der ehemaligen Sozialämter, und wir müssen und werden auch diese Verantwortung ernst nehmen und um uns diese Menschen kümmern.
Zerback: Gut, Herr Scheele. Da nehmen wir Sie beim Wort. Ich darf Ihnen aber auch noch mal die Kritik vom Erwerbslosenforum Deutschland zitieren, die sagen, dass viele Jobcenter-Mitarbeiter völlig fehlende Qualifikationen aufweisen und dass gute Beratung auch intensive pädagogische und psychologische Kenntnisse voraussetzt, weil das Ganze sowieso schon eine belastende Situation ist, erst recht, wenn dann noch die Sanktionen dazukommen. Müssen Sie da nachschulen?
Scheele: Ich räume ein, dass wir in der Beratungsqualität Defizite haben. Als erstes haben wir mal den Befristungsanteil drastisch gesenkt, weil die zu hohen Befristungen auch dazu führen, dass Menschen, die gerade eingearbeitet sind, wieder gehen und wir wieder mit der Einarbeitung beginnen. Wir sind jetzt dabei, einen stabilen Personalkörper in den Jobcentern zu etablieren. Und dann muss in Qualifizierung investiert werden. Aber ich darf Sie daran erinnern: Ich bin nicht der Chef der Jobcenter. Die Jobcenter sind gemeinsame Einrichtungen von uns und den Kommunen, und die Trägerversammlung entscheidet über den Haushalt der Jobcenter und wieviel in Qualifizierung der Mitarbeiter gesteckt wird. In der Bundesagentur, im SGB III entscheiden wir. Aber ich entscheide über keinen einzigen Haushalt eines deutschen Jobcenters.
"Wir haben den ganzen letzten Winter eine Sozialstaatsdebatte geführt"
Zerback: Aber Sie können natürlich schon eine Linie vorgeben.
Scheele: Die geben wir ja auch vor!
Zerback: Die Verantwortung ist ja schon da. Wo wir bei den Sanktionen sind. Da gibt es schon den einen oder anderen, politisch sowieso, aber auch derjenigen, die jetzt die Betroffenen, Ihre Kundinnen und Kunden, wie Sie sie selber nennen, unterstützen, die sagen, es ist sowieso fraglich, ob wir diese Sanktionspolitik da weiterführen sollen, und auch, ob Hartz IV und Sanktionen tatsächlich was bringen, um Langzeitarbeitslose wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Woher wollen Sie das überhaupt wissen, dass das funktioniert?
Scheele: Das Verfassungsgericht hat sich in seinem Urteil, wenn Sie es sorgfältig lesen, sehr damit auseinandergesetzt, ob wir in der Verhandlung und durch eingereichte Beiträge haben nachweisen können, dass Sanktionen in das grundrechtlich geschützte Existenzminimum einen Beitrag zur Eingliederung in Arbeit zielführend sind. Das hat es verworfen für 100 Prozent Sanktionen und auch für 60 Prozent Sanktionen. Es ist unserer Argumentation, dass wir bei 30 Prozent Sanktionen so etwas als ultima ratio brauchen, ausdrücklich gefolgt. Insofern ist diese Argumentation nun grundrechtlich einmal entschieden. Die kann man natürlich immer wieder aufmachen.
Zerback: Das kann man machen. Wenn wir in der politischen Debatte gerade sind, Herr Scheele, dann könnte man ja sagen, Sie möchten nicht, dass sich da Ihre Kundinnen viel häufiger als Bittstellerinnen fühlen. Die haben ja einen Rechtsanspruch auf die Leistungen und da kann man sagen, da guckt man eher, dass man ein Bonussystem als ein Malussystem schafft und genau die irgendwo fördert, die sich an die Regeln halten. Das wäre auch eine Möglichkeit, Herr Scheele, oder?
Scheele: Na ja. Wir haben den ganzen letzten Winter eine Sozialstaatsdebatte geführt. Ich habe immer gefragt bei denen, die das sich wünschen – ich habe Herrn Habeck gefragt, ich habe Herrn Kühnert gefragt, werde sie auch wieder fragen -, sie sollen einen Gesetzestext vorlegen, in dem steht, was über das hinausgeht, was wir schon tun. Denn ehrlicherweise: Alles was ich höre findet statt. Es gibt nur einen kleinen, kleinen, kleinen Personenkreis, der das nicht macht, aus welchen Gründen auch immer, und ich finde, ob wir jetzt die Verlaufszahl übers Jahr nehmen, oder die Monatszahl, eine kleine Gruppe, die falsch parkt, eine Steuererklärung zu spät abgibt oder sonst etwas macht, gibt es in jedem Regelsystem des Staates. Es sind im SGB II nicht viele. Die über-, über-, übergroße Mehrzahl, nahe 100 Prozent, verhalten sich völlig ordentlich, wollen gefördert werden, nehmen die Hilfe in Anspruch, streiten sich vielleicht auch mit uns. Aber es gibt überhaupt nichts zu kritisieren an dem Verhalten von arbeitslosen Menschen in Deutschland.
"Anrufung des Bundesverfassungsgerichts kann einen schwerlich ärgern"
Zerback: Das lassen wir mal so stehen. Das ist ein wichtiger Satz, Herr Scheele. Ich möchte Sie zum Schluss noch fragen, warum es jetzt einmal mehr so kommen musste, dass das Bundesverfassungsgericht im Prinzip die Sache der Politik erledigt und da einen Rahmen vorgibt? Das frage ich Sie auch als Sozialdemokrat. Ärgert Sie das?
Scheele: Die Anrufung des Bundesverfassungsgerichts kann einen schwerlich ärgern, muss ich mal sagen.
Zerback: Die Politik hätte ja die Rahmenbedingungen vorgeben können. Man hätte ja nicht warten müssen, bis das aus Karlsruhe kommt.
Scheele: Dazu kann ich nichts sagen, weil ich bin kein Politiker. Ich muss ehrlich sagen, das müssen Sie Herrn Heil oder die Bundesregierung oder die Länder fragen, warum das nicht anders geregelt worden ist.
Zerback: Ich frage Sie nach Ihrer Einschätzung, nach Ihrer Meinung. Die können Sie ja haben in dem Punkt.
Scheele: Ich glaube, dass es gar keinen Konsens über die Frage gegeben hätte ohne Verfassungsgerichtsurteil, und so ist es gut. Jetzt wird es umgesetzt und das finde ich super, wenn ich das so sagen darf.
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