Die Rue Edel ist nicht weiter auffällig, die Mietshäuser stammen aus dem 20. Jahrhundert, ein großer Komplex mit Sozialwohnungen noch aus der Gründerzeit. Wenn Barbara Honigmann in Straßburg jemandem erzählt, dass sie in der Rue Edel wohnt, dann hört sie oft die Antwort: Ach ja, da haben wir am Anfang auch gewohnt. Es ist also eine "Straße des Ankommens" folgert die Autorin, deren Herkunft aus Berlin auch nach 30 Jahren in Frankreich noch unüberhörbar ist:
"Als wir einzogen, am Anfang, vor langer Zeit, sagten wir ja auch, das Haus ist hässlich, die Straße trist, die Gegend öde, nahe dem öden Neubauviertel, wir ziehen nur jetzt schnell ein, damit wir erst einmal einen Platz für uns und die Kinder und unsere Kisten und Kartons haben und unsere Koffer auspacken können, nach Wochen, in denen wir in provisorischen Unterkünften nur aus dem Koffer gelebt haben, und danach, bald, in den nächsten Monaten, werden wir in Ruhe eine neue Wohnung in einer anderen schöneren Gegend suchen. Und haben nur das Nötigste ausgepackt, Küchengerätschaften und Kleider und Spielsachen und Bücher. Vieles andere ließen wir in den Kisten und Kartons liegen, wo es zum Teil immer noch liegt, denn wir sind hier nie ausgezogen und wohnen noch heute in der Straße, in der man eigentlich nur "am Anfang" wohnt."
"Chronik meiner Straße" nennt Barbara Honigmann ihr neues Buch, aus dessen Anfang sie hier vorgelesen hat. Sie berichtet von Menschen die ankamen und wieder wegzogen, die hier verstarben, wie ihre alten jüdischen Nachbarinnen, oder die in ein anderes Leben aufgebrochen sind, wie ihre beiden Söhne. Viele Einwanderer wohnen in der Rue Edel; sie kommen aus Asien und Afrika, aus Osteuropa und auch aus Deutschland. Die alteingesessenen Franzosen fühlen sich dazwischen manchmal etwas fremd. Das Buch endet aber mit einer Idylle, nämlich dem multikulturellen Begegnungsfest "Fête de la Musique", sodass es scheint, als würde sich das Nebeneinander langsam in ein Miteinander verwandeln. Hat sich die Rue Edel denn im Laufe der 30 Jahre, in der Barbara Honigmann hier wohnt, positiv verändert?
"Ich hab das Gefühl, es hat sich in den letzten Jahren besser vermischt. Es war nie ganz so schlimm wie so eine ferne Banlieue, dazu ist es einfach zu nah auch an der Stadt und zu nah den Unis. Gemischt, aber im Sinne von nachbarschaftlich, dass die verschiedenen Völker und die verschiedenen sozialen Gruppen nachbarschaftlich ganz gut nebeneinander leben."
Die Kurden mit den kleinen Geschäften, die Kaukasier mit den dicken Automobilen und den schicken Frauen, die alten jüdischen Witwen und die Junkies vor dem Sozialbau gegenüber; sie alle gehen durch die Rue Edel, begrüßen sich flüchtig oder wechseln ein paar Worte. Als der Kurde bei schönem Wetter ein paar Tische auf die Straße stellt, ist das schon ein Ereignis, das auch zu mehr Kommunikation führt, - was Barbara Honigmann mit ihrer Neugier auf Menschen sehr entgegenkommt.
"Ich hab dieses Buch lange mit mir rumgetragen, einfach weil - in jedem Haus, in jeder Wohnung gibt's eine Lebensgeschichte, und jede Lebensgeschichte ist interessant; und es hat mich immer fasziniert und fasziniert mich auch weiter, dass man mit wem auch immer man ins Gespräch kommt, da tun sich Welten auf, und die in Andeutungen zu erzählen, weil ich sie auch nur in Andeutungen erfahren habe, oder mit engen Nachbarn mehr erlebt habe, die zum Teil tragisch waren, zum Teil traurige Geschichten."
Sehr traurig ist zum Beispiel die Geschichte einer Nachbarin, die auch aus Deutschland stammte, eine Künstlerin, mit der Barbara Honigmann sich anfreundete, bis diese Nadja sich zunehmend zurückzog und eines Tages Mann und Sohn verließ. Bald danach erfuhr die Autorin, dass sie sich umgebracht hatte. Diese Erfahrung führte dazu, dass die Honigmanns zu ihren Nachbarn auf mehr Distanz gingen und sich so an das Nebeneinander in der Rue Edel anpassten.
Meist liest sich die Chronik dieser Straße jedoch heiter und leicht. Die Ich-Erzählerin berichtet mit großer Gelassenheit über das Leben in Straßburg, auch über den jüdischen Alltag, der hier mit einer Selbstverständlichkeit gelebt werden kann, die vor 30 Jahren in Berlin nicht möglich war, was damals die Honigmanns ja auch zum Umzug bewegt hatte. Sie erzählt von skurrilen Gestalten, die zum Straßenbild gehören, von Haustieren oder von ihrem unaufgeräumten Balkon, den sie beim Schreiben stets vor Augen hat. Konflikte sozialer oder religiöser Art werden erwähnt, erhalten aber durch das Verstreichen der Jahre etwas Beiläufiges. Das gibt dem Buch einen tiefsinnigen, fast philosophischen Humor. Woher kommt diese Gelassenheit bei einer Autorin, die ja auch sehr streitbar schreiben kann?
"Ich weiß nicht, ob das mit dem fortschreitenden Alter zu tun hat. Na ja, ich komme zwar vom Theater, aber es war in meinem Schreiben glaube ich immer so, dass ich so ein gewisses Understatement anstrebe, und ich hab es ja nicht umsonst auch eine Chronik genannt, wo die Sachen halt nebeneinander aufgezeichnet werden, und auch deswegen heißt es Chronik, weil es ein Buch der vergehenden Zeit ist."
Tatsächlich ist die vergehende Zeit das eigentliche Thema des Buches! Die vielen kleinen Geschichten, die Barbara Honigmann locker, fast anekdotisch erzählt, ziehen sich alle über einen längeren Zeitraum hin; ganze Schicksale werden auf wenigen Seiten zusammengefasst. So wird einem beim Lesen die verrinnende Zeit stets bewusst. Außerdem tragen einen die langen, musikalischen Sätze fort und lassen einen beim Lesen fast in eine Art Schwebezustand geraten. Hat die Autorin bewusst den Fluss der Zeit in ihrem Stil eingefangen?
"Ich hoffe, dass man das so spürt, ja schon. Ich habe auch so eine innere Formvorstellung von einer fließenden Sprache, also ich würde gerne eigentlich ohne Punkt und Komma schreiben, und dafür eignet sich der Stoff natürlich auch sehr gut. Andererseits musste ich auch aufpassen, dass es keine Aneinanderreihung wird, weil es dann ja langweilig. Also deswegen war es hauptsächlich ein kompositorisches Problem."
Es ist alles andere als langweilig geworden, dieses Buch über eine Straße - oder über unbemerkt verstreichende Lebenszeit. Kleine Ereignisse setzen Marken im Alltag, und plötzlich sind 30 Jahre vorbei. Eine provisorisch angelegte Existenz hat sich als endgültig erwiesen, das wird spätestens dann klar, wenn vom Kauf eines Grabes die Rede ist.
Barbara Honigmanns "Chronik meiner Straße" ist aber auch ein Buch über die Wechselfälle des Lebens, über die Wanderbewegungen der Menschen, die von ganz woanders herkommen und in einer Straße des Anfangs alt werden. Was sie in einem einzigen ihrer langen Sätze auf den Punkt bringt:
Barbara Honigmanns "Chronik meiner Straße" ist aber auch ein Buch über die Wechselfälle des Lebens, über die Wanderbewegungen der Menschen, die von ganz woanders herkommen und in einer Straße des Anfangs alt werden. Was sie in einem einzigen ihrer langen Sätze auf den Punkt bringt:
"So gibt es manche in unserer Straße, die irgendeine verlassene Heimat mit sich herumtragen, die sie freiwillig oder unfreiwillig verlassen haben, die sie verklären oder verabscheuen, nach der sie sich sehnen oder die sie lieber vergessen möchten und doch nie ganz hinter sich lassen können, wahrscheinlich leben sie auf irgendeine Art immer weiter an beiden Orten zugleich, durch die Sprache ihrer Herkunft und die Speisen ihrer Küche, die sie weiterhin kochen, durch hergebrachte Gesten und Gewohnheiten des täglichen Lebens, diesen oder jenen Gegenstand oder eine Redewendung, die sogar ihre Kinder noch als Erbe aus der Zeit ihrer Vorväter mit sich herumtragen, wenn sie sich schon in richtige Franzosen verwandelt haben und später ihren eigenen Kindern erklären, was es damit auf sich hat, mit der Redewendung oder dem Gegenstand, so wie ich es mit der Salatschüssel aus Nagykanizsa tue."
Barbara Honigmann: "Chronik meiner Straße", Hanser Verlag, München 2015. 160 Seiten, 16,90 Euro.