Freitagabend in der Leipziger Nikolaikirche: Bei frühsommerlichen Temperaturen dirigiert John Eliot Gardiner zwei Adventskantaten und eine Weihnachtskantate von Johann Sebastian Bach. Ein ungewöhnlicher Start für ein ungewöhnliches Programm. Am vergangenen Wochenende erlebten die Festivalbesucher das ganze Kirchenjahr im Schnelldurchlauf. 33 Kantaten in 48 Stunden, aufgeführt von bedeutenden Bach-Interpreten der Gegenwart. Das war das ziemlich sportliche Pensum beim Leipziger "Kantaten-Ring", initiiert von John Eliot Gardiner, dem Präsidenten des Bachfests.
Mit dem Kantaten-Schwerpunkt würdigt Gardiner eine Gattung, die lange Zeit ein Schattendasein führte. Das Etikett der geistlichen "Gebrauchsmusik" haftete den Werken an und verstellte den Blick auf ihre kompositorische Meisterschaft; auch beim Bachfest selbst spielten sie meist eine Nebenrolle, wie Gardiner sagt.
"Es gab natürlich Kantaten in den Programmvorschlägen vor zehn Jahren, aber viel weniger. Jetzt sehen wir glaube ich alle, wie wichtig in Bachs Oeuvre die Kantaten sitzen, wie wichtig und wie zentral sie sind. Und das freut mich natürlich sehr."
200 von 300 geistlichen Bach-Kantaten erhalten
Insgesamt schuf Johann Sebastian Bach etwa 300 geistliche Kantaten, von denen knapp 200 erhalten sind. Obwohl er die Stücke gerade während seiner Leipziger Zeit wie am Fließband komponierte, lieferte er immer höchste Qualität, betont Gardiner.
"Mit seinem außergewöhnlichen Verantwortungsgefühl für die Aufgaben als Thomaskantor schrieb Bach für jeden Sonntag eine neue Kantate. Und das erstaunliche ist, was für ein Niveau er erreichte und wie unglaublich unterschiedlich die Kantaten von Woche zu Woche sind."
Der Kantaten-Ring offenbarte die unerschöpfliche Vielfalt an Stilen, Formen und Farben, mit denen Bach die geistlichen Texte vertonte. Sie umfasst prachtvolle, mit reichen Bläserstimmen ausgeschmückte Chöre und schlichte Choräle, dramatische Szenen und anrührende Arien, oft von hinreißenden Instrumentalsoli begleitet. Vor allem die Oboe und die Oboe d’amore mit ihrem weichen Klang hat Bach bedrückend schön eingesetzt – wie in der Arie "Schlummert ein, ihr matten Augen" aus der Bass-Kantate "Ich habe genug".
Mit seinem balsamischen Timbre gehört der Bariton Klaus Mertens mit fast 70 Jahren noch immer zu den herausragenden Bachsängern der Gegenwart. Für den Kantaten-Ring hat Festival-Intendant Michael Maul gemeinsam mit John Eliot Gardiner nicht nur die vermeintlich "besten" Werke, sondern auch einige der weltweit führenden Interpreten aus dem Bereich der Historischen Aufführungspraxis ausgewählt – auch da zeichnet sich der Wandel im Bachfest Leipzig ab, in dem Ensembles mit Originalinstrumenten früher ja eher die Ausnahme als die Regel waren.
Neben den Auftritten von Gardiner präsentierte Michael Maul beim Festival Konzerte mit dem Amsterdam Baroque Orchestra and Choir und Ton Koopman, mit Masaaki Suzuki und seinem Bach Collegium Japan und mit der Gaechinger Cantorey unter Hans-Christoph Rademann. Allesamt Dirigenten und Ensembles:
"Die dadurch bekannt geworden sind, speziell als Interpreten der Bach-Kantaten, weil sie diese Gesamteinspielung vorgelegt haben. Auch das macht mich stolz, dass wir es geschafft haben, die mal in so einem interessanten Projekt zu vereinen, und nun ausgerechnet hier, in Bachs Kirchen."
Hohes technisches Niveau und eine textnahe Phrasierung
Eine schlanke Chorbesetzung mit etwa 20 Sängern und ein barockes Orchester mit historischen Instrumenten zählen für alle vier Dirigenten zum Standard, ebenso wie das grundsätzlich hohe technische Niveau und eine textnahe Phrasierung. Doch innerhalb dieses Rahmens, den die Historisch informierte Aufführungspraxis absteckt, bleibt noch viel Spielraum für eine eigene Handschrift.
Es gebe nicht den einen Weg Bach aufzuführen, sondern viele unterschiedliche Möglichkeiten sich anzunähern, betont John Eliot Gardiner. Seine eigene Bach-Interpretation hat sich in den vergangenen Jahrzehnten gravierend verändert. Mit seinen English Baroque Soloists und dem Monteverdi Choir, aus dem er auch die Solopartien besetzt, spitzt Gardiner die Kontraste der Musik zu, er rückt ihre Ausdruckskraft immer stärker ins Zentrum und reizt dabei dynamische Extrembereiche in einer Weise aus, die fast schon wieder romantisch wirkt. Besonders aufregend im Eingangschor aus der Kantate "Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen". In einem extrem langsamen Tempo kostete Gardiner da den Schmerzenston der Musik aus und ließ die Töne der Sänger in die dissonanten Reibungen hinein anschwellen. Wenig später dann beinahe gestammelt die Wörter "Angst und Not".
Manche eingefleischten Bachianer empfanden Gardiners expressiven Stil in der Nikolaikirche als manieriert – sie fühlten sich bei Ton Koopman besser aufgehoben, dessen sanftere Lesart das andere Ende des Interpretationsspektrums repräsentiert. Im direkten Vergleich wirkte Koopmans Zugang allerdings etwas blasser, womöglich auch wegen der akustisch schwierigen Verhältnisse in der Thomaskirche. Gerade die Konturen der Streicher drohen dort leicht zu verschwimmen, zumindest wenn man nicht oben auf der Empore und damit auf Augen- und Ohrenhöhe mit den Musikern sitzt.
Eine der Entdeckungen des Festivals
Masaaki Suzuki und sein Bach Collegium Japan packten kraftvoller zu, erreichten aber nicht das Niveau ihrer Kantaten-Gesamteinspielung; die Intonation der Bläser litt hörbar unter den schwülen Temperaturen. Außerdem machte sich beim Tenorsolisten Makoto Sakurada noch ein zwar verständlicher, aber doch störender Rest Fremdheit gegenüber der Sprache bemerkbar.
Wie essenziell ein selbstverständlicher Zugang zur deutschen Sprache für die Kantaten ist, demonstrierte Hans-Christoph Rademann gestern Nachmittag. Er belebte den Text ausdrucksvoll und natürlich zugleich, mit seiner Gaechinger Cantorey und den vier hervorragenden Solisten Dorothee Mields, Wiebke Lehmkuhl, Tobias Berndt und dem erst 30-jährigen Tenor Patrick Grahl, der an Peter Schreier erinnert und zu den größten Entdeckungen des Festivals gehört.
Mit seinen exzellenten Ensembles fand Rademann eine gute Balance aus Ausdruck, Präzision und Transparenz und verdichtete Wort und Musik zu einer eindringlichen Glaubensbotschaft. Auch deshalb gehörte der Auftritt von Rademann neben den Gardiner-Konzerten zu den Höhepunkten des außergewöhnlichen Kantaten-Rings.