So ganz perfekt klingt dieser Ton in den Ohren von Helmuth Rilling noch nicht. In Strickjacke und bordeauxfarbenem Shirt sitzt der 83-Jährige auf einem erhöhten Stuhl: Probe für die Kantate "Man singet mit Freuden vom Sieg". Vor ihm sitzen junge Musiker und Sänger aus Brasilien, Ecuador, Europa, Hongkong, den USA und Kolumbien, wie Alejandro Gomez, 32 Jahre alt:
"Ich denke, die Liebe zu Bach bringt uns hier alle zusammen, aber auch, dass wir Mr. Rilling so mögen und Respekt haben, wie er den Zugang zur Musik von Bach vermittelt."
Der junge Violinist war einer von Hunderten Bewerbern. Zum ersten Mal ist er dabei, steht mit fremden Menschen aus unterschiedlichen Kulturen und Religionen auf der Bühne, um Bach zu spielen. Gelingt es dem 83-jährigen Dirigenten, die junge Generation überhaupt zu erreichen?
"Absolut. Und ich denke, er war ja auch einmal ein junger Mann, als er startete und mit seinen Freunden die Gächinger Kantorei gründete. Er hat dann immer weiter gemacht und heute genießt er die Energie, die wir mit ihm teilen."
Auch die Geigerin Sarah Cranor aus den USA ist dabei, zum zweiten Mal:
"Es ist unglaublich, wieder hier zu sein, manche Gesichter sind neu, andere kannte ich noch. Und wir spielen wieder Bach in seinen Kirchen. "
Die Proben am Morgen finden in der Herderkirche in Weimar statt, abends wird hier konzertiert. Neugierige Blicke der Touristen schweifen über die Musiker - eine Probe mit Altmeister Helmuth Rilling, das ist unverhofft. Bachkantaten, die den Raum erfüllen und durch die geöffnete Tür nach außen drängen. Unterdessen ist Sarah Craner bemüht, den richtigen Ton zu treffen, das Dramatische - wie sie es formuliert und:
"Ich mag es wirklich, mit Rilling zu spielen und - das kann jeden Moment anders sein, anders im Konzert, anders je nach Ort, nach Stimmung, manchmal läuten mittendrin die Kirchenglocken. Die Musik ist also eher flexibel, fast wie etwas Lebendiges, das sich in jedem Punkt ändern kann."
Abends im Konzert: die Kirche ist bis zum letzten Platz gefüllt. Manch ein Reisender kommt extra aus Rio nach Weimar. Manche pilgern seit Jahren aus Rillings süddeutscher Heimat quer durchs Land, wenn er Konzerte gibt.
Suche nach Authentizität
Julia Sophie Wagner ist Sopran-Solistin und seit Jahren dem Ensemble rund um Rilling eng verbunden. Auch der Bachkantaten-Akademie in Weimar. Die junge Frau mit dem auffallend kurzen hellblonden Haar steht seit Jahren weltweit auf der Bühne. Bachs Vokalwerk gilt ihr Interesse und damit verbunden ist die Frage: Wie interpretiert man heute Bach und wie schafft man es, so authentisch wie möglich das Werk aufzuführen und vorher zu erlernen?
"Wir haben gerade gestern darüber gesprochen, dass in ein paar dieser Arien, Phrasen drin sind, die sind wahnsinnig schwer zu singen und wir haben uns gefragt: Wie das denn damals war ? Das war unter Zeitdruck, das war jetzt - aus wahrscheinlich arroganter und unzutreffender Sicht - mit weniger technischen Möglichkeiten und genau der Teil stimmt wahrscheinlich gar nicht, denn Bach hätte es nicht so komplex geschrieben, wenn es nicht die Interpreten gegeben hätte, die es auch hervorragend gemacht hätten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er sich mit etwas Halbgaren und Mittelmäßigen zufrieden gegeben hätte. Und deswegen würde es mich doch sehr interessieren, was es für eine Arbeitsweise war mit ihm? Ob er total ausgeflippt ist, wenn man die Phrase nicht auf einem Atem singen konnte oder ob er doch viel pragmatischer war, das würde ich schon gerne wissen."
Hinterfragung der eigenen Position
Wenn wir musizieren, sagt Helmuth Rilling, erfragen wir den Sinn Bachscher Musik. Erst dann werde es für die jungen Leute bedeutsam. Und - natürlich ändere sich die Art und Weise, über die Jahre hinweg Kantaten aufzuführen - schließlich entwickle sich ja auch der Mensch:
"Also ich finde, das muss sich anpassen und man muss auch immer wieder von neuem die eignen Positionen hinterfragen. Das finde ich natürlich. "
Und die Religion? Der tiefe Sinn der Botschaften und christlichen Geschichten. Wie passt das zusammen in Zeiten der musikalischen Globalisierung?
"Ich würde niemals von jemanden, der Bach dirigiert, von vornherein verlangen, dass er das nun glaubt."
Doch man müsse, so Rilling, die Musik in den gedanklichen Kontext einordnen und verstehen.
"Auf der anderen Seite sind eben gerade diese religiösen Inhalte für viele Menschen nicht mehr so präsent und selbstverständlich begreifbar wie es früher war."
Gefragt nach der Art und Weise der heutigen Aufführungspraxis, bleibt Rilling pragmatisch. Jeder habe oder hatte seinen Stil - Harnoncourt etwa. Aber auch für ihn gelte:
"Damals klang diese Musik für die Menschen einer vergangenen Zeit und wir sind heute andere Menschen und haben ein anderes Bewusstsein für religiöse Inhalte."
Harnoncourt wurde einmal gefragt, was er denn, wenn die Chance bestünde, mit Bach nochmals klären würde? "Ich würde ihn bitten", sagte er darauf, "uns das Lukas- und Markus- Evangelium zugänglich zu machen." Und Rilling? Er spielte als erster Dirigent alle Bach-Kantaten ein. Was würde er mit Bach klären wollen? Welche Tonhöhe, Klangrede oder Artikulation?
"Ach, da gäbe es so unendlich vieles, aber er würde sicher sagen: Sieh' dir meine Musik an. Sieh genau hin, was ich aufgeschrieben habe und daraus werden sich die Fragen beantworten."