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Bachmann-Gesamtausgabe
"Ich will heraus aus dieser Welt"

Mit "Male oscuro", dem Auftakt einer neuen Ingeborg-Bachmann-Werkausgabe, werden erstmals bislang im Nachlass gesperrte Texte der Schriftstellerin veröffentlicht. Sie zeigen, wie sehr ihre Beziehung zu dem Schweizer Autor Max Frisch und deren Ende zu einer existenziellen Krise und einem radikalen literarischen Neuansatz führten.

Von Helmut Böttiger |
    Die österreichische Schriftstellerin Ingeborg Bachmann
    In ihrer Dankesrede zum Georg-Büchner-Preis 1964 nahm sie auf diese Erfahrungen Bezug, die sie infolge der Trennung von Max Frisch hatte. (picture alliance / dpa / Foto: Roland Witschel)
    Von Ingeborg Bachmann weiß man inzwischen fast zu viel. Es gibt etliche Bilder von ihr, die sich gegenseitig überdecken und widersprechen. Und so hat Ingeborg Bachmann, als eine Sphinx der neueren Literaturgeschichte, mittlerweile schon etliche Restaurierungen, Verschönerungen und Neugestaltungen erlebt. Sie wurde von einer jungen lyrischen Göttin in den fünfziger Jahren zu einer sich geheimnisvoll verschließenden Dichterin in den Sechzigern und schließlich zur feministischen Ikone in den Siebzigern – immer mit einem großen Identifikationspotenzial versehen und immer mit einem gewissen Raunen.
    Bisher gesperrte, unbekannte Texte aus dem Nachlass
    Der Reiz ist jedes Mal, dass man letztlich doch ziemlich wenig weiß, es aber gleichwohl viele Andeutungen und Spuren gibt. Interpretationskapriolen und die jeweils herrschenden methodischen Schübe scheinen hier ein ideales Parkett zu finden, bis hin zu aktuellen Gender-Debatten und Theorie-Diskursen.
    Die jetzt neu erscheinende "Salzburger Edition der Werke Ingeborg Bachmanns" könnte dazu geeignet sein, ein bisschen mehr Klarheit zu schaffen. Denn sie umfasst bisher gesperrte, unbekannte Texte aus dem Nachlass der Dichterin. Gleich der erste Band betrifft ein Thema, über das schon immer viel spekuliert wurde. Ende 1962 kam Ingeborg Bachmann nach einem Selbstmordversuch in eine Zürcher Klinik, Auslöser war die Trennung von Max Frisch. Die zehn Jahre, die Ingeborg Bachmann noch lebte, waren gezeichnet von einer schweren Angstneurose mit Panikattacken und einer gravierenden Medikamentenabhängigkeit. Die neue Bachmann-Edition dokumentiert jetzt "Aufzeichnungen aus der Zeit der Krankheit", wie es im Untertitel heißt. Es handelt sich zum großen Teil um Traumprotokolle.
    "Wenn der Traum anfängt, weiß ich schon, dass ich verrückt bin. Die Welt ist nicht mehr die Welt. Es sind noch Elemente von ihr da, alle Details, aber in einer Zusammensetzung, die irre ist. Alles ist farbig, Autos rollen heran, Menschen tauchen auf, stark überfärbt, grinsen im letzten Augenblick, wenn ich an sie herankomme, fallen um, sind Strohpuppen, alles hat trotzdem eine unglaubliche Konsequenz, die Bilder, die Farben, die Gegenstände, mein Herumgehen in dieser Welt, ich gehe immerzu weiter, manchmal ist es schrecklich, dann nicht so sehr, und immerzu, während ich an diese Gegenstände und Personen komme, weiß ich, dass ich verrückt bin, und wenn es mich ängstigt, dann versuche ich, die Augen zuzumachen, ich will heraus aus dieser Welt, ich will unbedingt heraus." (Zitat)
    Außerdem finden sich in diesem Band einige aufschlussreiche poetologische Briefe an den Psychotherapeuten Helmut Schulze in Baden-Baden, und es gibt auch eine fiktive Rede an die Ärzteschaft, in der sich Ingeborg Bachmann alles von der Seele zu schreiben versucht.
    Die Trennung von Frisch ist ein existenzieller Einschnitt
    "Manchmal versucht man sich zu helfen mit den Klassikersätzen "der Mensch ist ein dunkles Wesen", aber das klärt auch nicht viel auf. Ich weiß bloß, dass ich extrem stolz und extrem demütig bin, und das heißt auch noch nichts. Ich möchte etwas Ungeheuerliches, in dem das beides enthalten ist, und ich komme auf dieser Welt nicht an die Wirklichkeit heran, die für mich die einzig wirkliche ist. Nur in der Musik ist etwas für mich da, etwas von dem, was ich meine, sonst nirgends." (Zitat)
    In der Musik, aber im Schreiben eben nicht mehr. Das ist das Spannende an diesen Aufzeichnungen: Der Einschnitt in Bachmanns Leben Ende 1962 wird als ein existenzieller deutlich. Danach ist nichts mehr wie zuvor, und das betrifft vor allem ihr Verhältnis zur Literatur. Aus diesem Grundton ist Isolde Schiffermüller und Gabriella Pelloni, den Herausgeberinnen dieser privaten, intimen Aufzeichnungen, die nie als literarische gedacht waren und nie für eine Veröffentlichung vorgesehen waren, zuzustimmen. Sie dokumentieren auf bisher unbekannte Weise Ingeborg Bachmanns Verhältnis zum Schreiben, ihre eklatante Krise und einen radikalen Neuansatz, der sich dann in dem geplanten Prosazyklus unter dem Titel "Todesarten" zeigte.
    Briefe, die Bachmanns konkrete psychische Situation erhellen
    Im Kommentarteil zitieren die Herausgeberinnen aus vielen unbekannten Dokumenten, unter anderem aus Briefen von Ingeborg Bachmann, die ihre konkrete psychische Situation erhellen. Erst nach einiger Zeit wird ihr klar, dass ihre unerklärlichen, beängstigenden körperlichen Zustände in der psychosomatischen Medizin schon beschrieben worden sind. Und sie bezieht ihre Erkenntnisse immer darauf, was sie im Innersten ausmacht, nämlich auf die Literatur. In einem Brief an Uwe Johnson heißt es:
    "Die größte Mühe ist, mit einer Aufregung fertigzuwerden, von der ich noch nie etwas gehört oder gelesen habe in all den unzähligen Verlautbarungen aus Werkstätten. Ich zittre so, aus Furcht oder Ekel, es ist wie der Abklatsch der Krankheit aus den vergangenen Jahren, und es richtet sich gegen das Schreiben, obwohl ich in mir herumstochre und an mir herumanalysiere und herausfinde, dass ich diesen physischen Ekel nur durch das abwenden kann, was mir so großen einflößt." (Zitat)
    Zum ersten Mal werden die biografischen Daten Bachmanns in der ersten Hälfte der sechziger Jahre detailliert dargestellt. Am 10. Dezember 1962 kam sie für drei Wochen in eine Zürcher Klinik. Man kann den genauen Angaben aus ihrer versuchsweise formulierten Rede an die Ärzteschaft durchaus folgen. Hier beschreibt sie ihren Krankheitsverlauf und klagt die professionellen und immer freundlichen, auf eine hochtechnisierte Medizin setzenden Ärzte an, das Entscheidende verkannt zu haben.
    Bachmann hatte sich ein Kind gewünscht
    Am Beginn der Katastrophe stand die Mitteilung, dass sie das Kind, das sie sich gewünscht hatte, nicht bekommen könne. Eine Abtreibung sei wegen der medizinischen Indikation regelrecht geboten, die Operation aber nicht durchführbar, weil der hohe Konsum von Alkohol und Tabletten das nicht erlaube. Der Selbstmordversuch war eine Kurzschlussreaktion darauf. Gleich nach dem ersten Krankenhausaufenthalt erfolgte Mitte Januar 1963, nach einem Vorgang, den sie später als "Rückfall" bezeichnete, in einem anderen Zürcher Krankenhaus ein gravierender Eingriff, offenbar die Entfernung der Gebärmutter. Im Februar und März 1963 notierte Ingeborg Bachmann, auf Anraten eines Psychiaters, erste Traumprotokolle. Der Psychiater riet ihr, den Kontakt zu dem mit einer anderen Frau gerade in New York lebenden Max Frisch abzubrechen, trotzdem schrieb sie immer noch viele Briefe an ihn und las einige Kapitel seines Romans "Mein Name sei Gantenbein". Am 3. Mai 1963 schrieb sie ihm sogar sehr positiv darüber:
    "Ich habe die Größe des Buchs schon früh geahnt und gesehen, dann habe ich sie bestätigt gefunden, als ich den ersten Teil in Rom las, jetzt sehe ich sie ganz, und dieses Buch wird mir bleiben, weil es zugleich alles ist, was ich noch zu geben habe, immer von neuem, und mich mit, in diesem Einverständnis." (Zitat)
    Am Gelingen von Frischs Roman beteiligt
    Dies ist eine verblüffende Tonlage, wenn man um die Folgen weiß, die Max Frischs Gantenbein-Roman letztlich für Ingeborg Bachmann hatte. Sie scheint sich hier auf prekäre Weise zu vergegenwärtigen, dass es eine Gemeinsamkeit mit Frisch gibt, die etwas mit Literatur zu tun hat, und deswegen drückt sie auch das Gefühl aus, am Gelingen dieses Romans beteiligt zu sein, allein durch ihre Person – es ist ihre Person, die sie im Grunde dafür hergegeben hat. In diesen Sätzen liegt untergründig eine tiefe Verzweiflung. Es hat etwas Sarkastisches, wie sie ihren Anteil an Frischs Buch konstatiert. Sie schreibt Frisch auch noch etwas Anderes: es sei nämlich ihr Psychiater gewesen, der ihr empfohlen habe, das Notizbuch Max Frischs zu verbrennen, das sie in ihrer gemeinsamen Wohnung nach ihrer ersten Rückkehr aus dem Krankenhaus entdeckt hatte. Er hatte darin unter anderem über ihre Beziehung geschrieben und war über die Vernichtung dieser Skripte durch Bachmann, weil es sich für ihn um literarische Vorstudien handelte, äußerst empört.
    "Meine Handlung erscheint mir richtiger denn je." (Zitat)
    Kaum einigermaßen wiederhergestellt, nahm Bachmann die Gelegenheit wahr, ein Stipendium in Westberlin anzunehmen. Dort erlitt sie allerdings einen schweren Rückfall und musste für einige Wochen in einer Klinik behandelt werden. In ihrer Dankesrede zum Georg-Büchner-Preis 1964 nahm sie auf diese Erfahrungen Bezug. Der Titel der Rede lautete "Ein Ort für Zufälle". Es war die erste Veröffentlichung Bachmanns aus dem Prosakomplex, den sie "Todesarten" nannte – Berlin, Krankheit und Literaturbetrieb gingen dabei eine charakteristische Verbindung ein.
    Max Frischs Verrat an Bachmann
    Am 24. November 1963 schrieb sie dann einen Brief an Max Frisch, in dem sie dessen "Gantenbein"-Roman nun mit völlig anderen Augen sah. Sie erkannte bei der Schauspielerin Lila, der weiblichen Hauptfigur bei Frisch, Züge von sich selbst, sie fühlte sich ausgebeutet und auf dem literarischen Markt feilgeboten:
    "Es gibt eine Grenze von Ertragenkönnen, die ist für mich erreicht an diesem Punkt. Bis hierher und nicht weiter. Soviel Elend, soviel Krankheit, Finsternis und Unheilbares und noch immer so recht kein Ende abzusehen – das ist nicht zu verkaufen in ein paar Anspielungen, bloß weil es bequem ist, schriftstellerisch bequem." (Zitat)
    Frischs "Gantenbein"-Roman, seine Indiskretionen und seine Souveränität, im Literaturbetrieb zu agieren und sich zuhause zu fühlen, bilden einen Katalysator für Bachmanns neue literarische Ansätze. Zu den "Todesarten" gehören nicht nur die spezifischen Konstellationen in einer Mann-Frau-Beziehung, sondern auch gesellschaftliche Zustände, die Anonymisierung und Entfremdung durch das Primat der Ökonomie und die daraus entstehenden Zwänge. Und dazu zählt auch die besondere Ausformung des literarischen Milieus. Der Verrat durch Max Frisch ist Teil des Systems, in dem dieser sich wie ein Fisch im Wasser zu bewegen scheint. Ingeborg Bachmann notiert Mitte der sechziger Jahre einige Briefentwürfe an den Baden-Badener Psychotherapeuten Helmut Schulze, der eine bestimmte Form von Verhaltenstherapie praktiziert, und einer dieser Briefe beginnt unvermittelt mit den Sätzen:
    "Caro Dottore, heut habe ich es doch getan, ich dachte zu Mittag schon, ich sei ganz weit weg davon. Und als ich es Ihnen sagte, da dachte ich wirklich, ich sei dazu nicht mehr imstande, aber heut abend habe ich es plötzlich getan."
    Abscheulich wie das Metzgerhandwerk
    Es geht darum, dass sie eine Schallplatte der Deutschen Grammophon-Gesellschaft zerstört, auf der Max Frisch aus seinem "Gantenbein"-Roman liest. Das ist für sie ein Akt der Befreiung, die erste aktive Handlung seit Jahren, wie sie schreibt. Max Frisch ist der Auslöser dafür, dass sie die "Literaturwelt" als vernichtend erlebt, sie könne "unter diesem Gesindel" nicht leben. Und sie findet in ihren Notizen für den Psychotherapeuten einen drastischen Vergleich, mit dem sie beschreibt, dass der Beruf des Schreibens, den sie doch so geliebt habe, etwas Abscheuliches sei, es sei ein Metzgerhandwerk.
    "Wäre bloß Herr F. mein Unglück, das wäre zu ertragen. Aber es reicht ja weiter. Es ist bloß die Stellvertretung für eine Mentalität, die ich verabscheue, an der ich nicht zugrundgehen möchte, so nicht, obwohl ich meistens denke, ich bin schon tot."
    Die Szenen in ihrem Romanfragment über die Figur Fanny Goldmann haben hier ihren Ursprung. Sie hat den Goldmann-Roman als erstes Projekt in ihrem Todesarten-Zyklus begonnen. Schilderungen der Frankfurter Buchmesse nehmen hier einen großen Teil ein – Beschreibungen des großen Verlegers, hinter dem sich unter vielen Schleiern und Verfremdungen Siegfried Unseld vom Suhrkamp-Verlag verbirgt, wirken erstaunlich klar und hellsichtig. Und auch eine Skizze des jungen österreichischen Erfolgsschriftstellers, der einige Züge von Peter Handke trägt, hat eine durchaus abgründige Komik, ist voll absurdem Humor.
    Ein völlig neuer literarischer Ansatz
    Der Literaturbetrieb ist die erste Todesart, der sich Ingeborg Bachmann widmet, es gibt weitausgreifende Fragmente, die verschiedene Aspekte thematisieren, bis sie schließlich im Roman "Malina" eine vorläufige Form findet, das alles literarisch zu fassen – "Malina" erscheint 1971 und wird der einzige vollendete Roman aus dem Todesarten-Zyklus bleiben. In den Briefen an den Psychotherapeuten wird detailliert deutlich, wie sehr die Beziehung zu Max Frisch und vor allem deren Ende zu einem völlig neuen literarischen Ansatz bei Ingeborg Bachmann führte. Dass Frisch ihre Autorschaft ausnutzte, ihr Schreiben auf seine Mühlen zu lenken versuchte, erlebt sie mit ungeheurer existenzieller Wucht. Denn das ist der einzige Punkt, in dem sie tödlich verwundbar ist, das Lindenblatt-Motiv wie bei dem mittelalterlichen Helden Siegfried im Nibelungenepos:
    "Für mich ist aber dieser Beruf in Trümmer gegangen, ganz und gar, wie für einen Puritaner die Welt in Trümmer geht, wenn man ihn nach Sodom und Gomorrha versetzt und sagt: so sieht das aus, so in Wirklichkeit. Und die ältesten Geschichten sind eben wahr, die von der einzigen Stelle, an der man tödlich verwundbar ist."
    Der Körper als Schauplatz gesellschaftlicher Deformationen
    In ihren Traumnotaten, vor allem in der ersten Zeit ihrer Krankheit, spielt Max Frisch die Hauptrolle. Es ist verblüffend, wie sehr hier Bilder und Geschichten zum Vorschein kommen, die zum klassischen Repertoire der Psychoanalyse gehören und die wie Vorlagen für die Traumdeutung Sigmund Freuds wirken. Es gibt immer wieder Verschränkungen zwischen Max Frisch und Ingeborg Bachmanns Vater. Traumkonstellationen tauchen auf, in denen der Inzest im Mittelpunkt steht, und von hier aus wird deutlich, dass spätere literarische Erzählstrecken ihren Ausgangspunkt in konkreten Traumaufzeichnungen aus der Zeit ihrer Therapie haben. Vor allem die vielinterpretierten Kapitel in "Malina", in denen der Vater als Vergewaltiger und Mörder erscheint, haben in den Notaten Ingeborg Bachmanns für ihren Psychotherapeuten eine reale Grundlage, manche Passagen wurden fast wörtlich in der späteren Prosa übernommen. Es entsteht eine ungeahnte Poetik, eine Seelenprosa, die zwischen Traum und Wirklichkeit changiert und den Körper zum Schauplatz gesellschaftlicher Deformationen macht.
    Die "Wüste", die im Romanfragment um die Figur Franza einen zentralen Schauplatz darstellt, wird in den Briefen an den Psychotherapeuten zur großen Metapher für das Innere erhoben. Das Reflexionsvermögen, mit dem sich die Autorin ihre Lage ständig vergegenwärtigt, sticht hervor. Diese Arbeit am Text ist ein widersprüchlicher und hochaufgeladener Prozess.
    "Ich war ein ganz gewöhnliches Kind"
    "Einmal ist in fast allen Träumen M. F. die Hauptperson, immer mit dem Vater verwechselt (bis auf den letzten Traum), oder der Vater, mit M. F. verwechselt, sodass es auf Inzestträume hinausläuft und den Horror davor. Das ist eine Gruppe. Das andre, was ich wenig verstehe: in den meisten Träumen spielt meine Familie eine dominierende Rolle, zum Beispiel war schon ganz früh, in den dramatischen Angstträumen, als ich fürchtete, F. würde mich verlassen, meine Schwester anwesend, auch fast immer meine Mutter. Und auch wenn sie hie und da nur Statistenrollen hatten, so fällt mir das doch auf. Denn ich habe doch, auch wenn ich mein Leben hundertmal umwende und dran deutle, nur eine normale Beziehung zu dieser Familie. Ich denke an meine Schwester, wenn sie Geburtstag hat und sonst macht man sich eben die üblichen Sorgen, Krankheit, Alter, Geld etc. Aber ich verstehe nicht, warum in den Träumen immer diese Personen die großen Rollen spielen, niemals die Leute, mit denen ich wirklich zu tun habe. Oder höchstens insofern, dass man sie als Tagesrest abtun kann.
    Ich weiß nicht, was diese nette Familie zu schaffen hat in meinen Träumen. Ich träume nie von einem Mann, den ich gern habe, nie von Berufskonflikten, die ich immerzu habe. O heiliger Freud. Das darf doch nicht wahr sein. Ich war ein ganz gewöhnliches Kind, mit einer normalen Entwicklung, in einer normalen Familie. Verstehen Sie mich. Ich bewundre Freud, aber ich habe diese Vorklassik nie ganz akzeptieren können, ich kann nicht einsehen, dass dieses Leben vor dem eigentlichen persönlichen Leben später eine so enorme Rolle spielen soll." (Zitat)
    Eine radikale Literaturtheorie, die Michel Foucaults Schriften vorweg nimmt
    Der Band bietet etliche Materialien, die ein ziemlich deutliches Licht auf einige bisher dunkle Aspekte von Ingeborg Bachmanns Leben und Werk werfen. Vor allem aber gibt es in den hier jetzt vorliegenden Aufzeichnungen Ingeborg Bachmanns zahlreiche poetologische Äußerungen der Autorin, die eine ganz eigene, radikale Literaturtheorie entwerfen. Einige Sätze Bachmanns aus dem Jahr 1966 nehmen sogar vieles von dem vorweg, was in den 70er-Jahren durch die Schriften Michel Foucaults rezipiert wurde:
    "Der Verbrecher und der Kranke, beide verpflegt, beide im Rigorosum am Rand der Gesellschaft." (Zitat)
    Neue, fundiertere Bachmann-Analysen nun möglich
    Viele der bisherigen Bachmann-Exegesen, der jeweiligen theoretischen Modeschübe sind durch diese Edition endgültig überflüssig geworden. Aber die gute Nachricht ist: Durch diese Edition werden neue, fundiertere Bachmann-Analysen möglich. Und das verspricht spannende Erkenntnisse.
    Ingeborg Bachmann: "Male oscuro. Aufzeichnungen aus der Zeit der Krankheit. Traumnotate, Briefe, Brief- und Redeentwürfe" (1. Band der "Salzburger Edition der Werke Ingeborg Bachmanns"), hg. von Isolde Schiffermüller und Gabriella Pelloni. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 264 Seiten, 34 Euro.