Im Oktober 2021 hat die SPD-Abgeordnete Bärbel Bas aus Nordrhein-Westfalen die Nachfolge von Wolfgang Schäuble (CDU) angetreten. Die Bundestagspräsidentin ist damit nach Annemarie Renger (SPD) und Rita Süssmuth (CDU) die dritte Frau in diesem Amt.
Im Deutschlandfunk sprach sich Bas für mehr Partizipation der Bürger aus. Die von ihrem Vorgänger Wolfgang Schäuble initiierte Form der Bürgerräte hält sie für sinnvoll, um die "Kluft zu der Institution Deutscher Bundestag" zu schließen. "Ich habe den Befund, dass es eine Entfremdung gibt. Ich werbe sehr stark dafür, dass es solche Formen auch in den Landesparlamenten und Kommunen gibt. Wichtig ist am Ende, dass tragbare Lösungen dabei herauskommen." Die Ergebnisse müssten ins parlamentarische Verfahren, es solle sich dabei nicht um Alibi-Veranstaltungen handeln.
"Der Bundestag muss eine kräftige Stimme haben"
Angesichts der aktuellen Lage bemerke Bas eine diffuse Angst und Verunsicherung bei den Menschen. "Ich bin sicher, dass wir Beschlüsse fassen, die den Menschen helfen werden." Dass man in den problematischen Zeiten von Inflation und eines Krieges mitten in Europa mit seinen Auswirkung auf die Energieversorgung schon mal heftig diskutiere, gehöre dazu - aber, so betonte Bas: "Wir sind nicht überfordert." Für die Menschen sei wichtig, dass sie zum Herbst ein Signal bekämen, dass sie gut durch den Winter kommen.
Die dazu von der Ampelkoalition vorgestellten Maßnahmen für ein drittes Entlastungspaket müssten allerdings erst noch durch das Parlament, stellte Bas klar. "Am Ende erscheint nicht eine Bundesregierung, sondern der Bundestag. Und der Bundestag mit seinen 736 Abgeordneten muss dazu eine kräftige Stimme haben." Ihre Aufgabe sei es, dass die Abgeordneten ihre Arbeit gut machen könnten. Dazu gehöre auch eine Deckelung des Parlaments, um weiter handlungsfähig zu bleiben.
Der Vorschlag der Kommission, die sich mit der Reform des Wahlrechts befasst, findet ihre Zustimmung: "Im Moment kenne ich keinen besseren Vorschlag. Zumindest ist das Zwischenergebnis so, dass es zu einer deutlichen Verkleinerung führen würde. Dann kämen wir auf eine Zahl von 598 zurück, wie sie auch im Gesetz steht." Bas sprach sich auch für die Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre aus, "weil jetzt auch schon viele junge Menschen engagiert sind und politisch sind."
Das Interview in voller Länge
Detjen: Schön, dass Sie an diesem Tag Zeit gefunden haben. Es ist ein besonderer Tag im Deutschen Bundestag. Man hört das vielleicht im Hintergrund. Es ist was los im Haus. Sie haben eingeladen zum Tag der offenen Tür. Noch bis zum Abend kann man sich da ein Bild von den Gebäuden des Bundestages machen, mit Ihnen, mit Politikerinnen und Politikern ins Gespräch kommen. Es sind viele Menschen schon gekommen. Menschen, Bürgerinnen und Bürger, auf die ja auch die Politik in diesen Zeiten mit Interesse und auch mit Besorgnis schaut. Man fragt sich in der Politik: wie reagieren diese Menschen, wenn im Herbst, im Winter die Belastungen für uns alle steigen, wenn die Energiepreise durch die Decke gehen, wenn die Inflation weiter steigt, wenn Corona vielleicht noch mal neue Maßnahmen erzwingt? Es war schon von drohenden Volksaufständen die Rede, von einer Spaltung der Gesellschaft. Parteien am linken und rechten Rand des politischen Spektrums, auch der Deutsche Gewerkschaftsbund planen Demonstrationsaufrufe. Wenn Sie jetzt heute Morgen schon mit den ersten Menschen ins Gespräch gekommen sind, teilt sich Ihnen da etwas von dieser Unruhe in dieser besonderen Zeit mit?
Bas: Von Unruhe will ich gar nicht sprechen. Sondern das ist eher so eine diffuse Angst. Also, was kommt auf die Menschen zu? Also, das merke ich schon, wenn wir auch Gespräche führen, auch in meinem Wahlkreis, wenn ich da unterwegs bin, dass es eine große Verunsicherung gibt, weil alles noch ein bisschen diffus ist. Man merkt, die Preise steigen. Die ersten Menschen bekommen von ihren Vermietern eine Empfehlung, die Nebenkostenvorauszahlung zu erhöhen. Also, das ist schon deutlich spürbar, dass die Menschen ein bisschen Angst haben. Was kommt noch auf sie zu? Und ich bin aber sicher, dass die Bundesregierung und auch wir hier im Deutschen Parlament sicherlich das aufnehmen werden, auch aus unseren Wahlkreisen, und Beschlüsse fassen werden, die dann am Ende den Menschen auch helfen werden.
Detjen: Die Bundesregierung haben Sie jetzt selber angesprochen. Während wir jetzt hier miteinander sitzen, stellt hier gegenüber im Bundeskanzleramt der Kanzler und stellen die Spitzen der Koalition das vor, was sie in einer langen Nacht ausgehandelt haben. Seit gestern Vormittag saßen die da zusammen, bis in den frühen Morgen. Es ist jetzt ein Entlastungspaket geschnürt worden. Als Bundestagspräsidentin können Sie dem Kanzler jetzt schlecht vorweggreifen. Sie haben mir vorhin gesagt, Sie kennen die Ergebnisse selber auch noch nicht. Aber allein diese Tatsache, dass das jetzt wieder so lange gedauert hat, nachdem sich diese Koalition ja eigentlich vorgenommen hat, nicht mehr wichtige Entscheidungen in solchen quälenden Nachtsitzungen zu treffen: Hatten Sie in den letzten Stunden, in dieser Nacht, als Sie gemerkt haben, das geht irgendwie nur ganz, ganz schwer zusammen, mal die Sorge, dass die Koalition, dass die Politik mit der Fülle dieser Aufgaben überfordert sein könnte?
Bas: Ich hätte mir eher Sorgen gemacht, wenn es zu schnell gegangen wäre, wenn ich ehrlich bin, weil man natürlich mehrere Probleme gleichzeitig bewältigen muss. Also, es ist ja nicht nur die Inflation, die wir abfedern müssen, politisch, sondern natürlich auch das Thema Krieg mitten in Europa, die Auswirkungen auf die Energieversorgung. Dann haben wir natürlich auch die Themen sicherlich, was Nachfolge eines 9-Euro-Tickets angeht. Also, das sind alles Themen, wenn das zu schnell gegangen wäre, hätte ich mir auch Sorgen gemacht, ob man auf diese vielen Probleme, die wir haben, so schnelle, einfache Lösungen hat. Mir ist wichtig, wenn …
Detjen: Entschuldigung, wenn ich da einhaken darf.
Bas: Ja.
Detjen: Es ist ja noch gestern gesagt worden, man fing um 11.00 Uhr an und es ist uns auch als Beobachtern gesagt worden, das wird jetzt nicht so lange dauern. Da ist ein Optimismus versprüht worden, den die Koalition dann selber offenbar auch nicht einlösen konnte.
Bas: Na, die Frage ist ja am Ende, dass es ein Paket sein muss, wo die Bürgerinnen und Bürger auch wirklich entlastet werden. Das heißt, es geht um Milliardenbeträge. Und dass man dann natürlich auch mal etwas länger braucht, das zu diskutieren, wie man denn diese Milliardenbeträge dann am Ende auch, ja, wie man das löst, auch finanziell, also insofern kann ich mir schon vorstellen, dass es eine lebendige Debatte in dieser langen Zeit natürlich auch gegeben haben muss, wie denn ein Paket auch finanziert wird. Wer trägt dazu bei? Soll es über Steuern gehen? Was macht der Bereich der Schuldenbremse? Also, da kann ich mir schon lebhaft vorstellen, dass das eine lange Diskussion war.
"Für die Bevölkerung ist wichtig, dass ihre Probleme abgefedert werden"
Detjen: Meine Kolleginnen und Kollegen verfolgen das natürlich jetzt drüben, was da im Kanzleramt verkündet wird. Wir werden dann um 12.00 Uhr in den Nachrichten, dann ab 13.00 Uhr in unseren aktuellen Informationssendungen, auch am Abend dann wieder natürlich ausführlich darüber berichten, was die Bundesregierung, was dieser Koalitionsausschuss da besprochen hat. Aber noch mal aufgreifend den Begriff, Sie sagen, 'lebendige Debatten‘ hat es da wahrscheinlich gegeben. Was wir gerade auch aus dem Bundestag gehört haben in den Tagen davor, aus den Koalitionsfraktionen, das war ja mehr als eine lebendige Debatte. Da wurde wirklich ziemlich gegeneinander gegiftet. Trägt auch das zu einem Eindruck bei, dass die Koalition oder Politik im Allgemeinen zurzeit überfordert ist?
Bas: Wir sind nicht überfordert. Also, das ist ja unsere Aufgabe. Dass man sich lebhaft streitet, ist, glaube ich, nichts Neues. Auf der anderen Seite trägt es manchmal natürlich nicht dazu bei, dass die Menschen von ihrer Verunsicherung ablassen. Also, Sie erwarten schon klare Entscheidungen am Ende. Und die treffen wir im Deutschen Bundestag. Das ist unsere Aufgabe. Was im Vorfeld diskutiert wird, ist insofern nicht relevant. Am Ende müsste es die Beschlüsse im Plenarsaal, im Deutschen Bundestag geben, und dass man im Vorfeld das Für und Wider sowohl in der Koalition, aber auch mit der Opposition gemeinsam diskutiert, auch heftig, das finde ich, gehört dazu. Und das muss auch so sein. Also, ich kriege ja auch immer wieder gesagt, wir wollen keine langweiligen Debatten. Das muss schon auch lebhaft sein. Manche wünschen sich ganz alte Zeiten zurück, wo man richtig heftig miteinander diskutiert hat. Ich finde, es muss immer fair miteinander abgehen. Respekt und, wie gesagt, für die Bevölkerung ist wichtig, dass sie jetzt zum Herbst ein vernünftiges Signal bekommen, dass ihre Probleme abgefedert werden, dass sie durch den Winter kommen und keine Angst haben müssen. Und das ist jetzt die Aufgabe aller Akteure, sowohl in der Bundesregierung als auch im Deutschen Bundestag.
Mehr Bürgerbeteiligung installieren
Detjen: Da gehört dann natürlich das Bild, das eine Regierung, das die Koalition von sich gibt, mit dazu. Und dazu gehörten dann eben Äußerungen, wo man sich gegenseitig Fehler vorgehalten hat, wo von einer schlechten Performance des Bundeskanzlers die Rede war. Trägt auch das dazu bei, dass viele Menschen nicht den Eindruck haben, den Sie gerade hatten, wenn Sie sagen, wir sind nicht überfordert? Es gab eine Umfrage des Deutschen Beamtenbundes, wo nur noch 29 Prozent der Befragten gesagt haben, die Politik ist handlungsfähig und den Aufgaben, die sie hat, gewachsen. Das ist doch ein beunruhigender Befund.
Bas: Ja. Ich kann auch nur empfehlen, dass sich alle diesen Befund genau anschauen. Und dass wir etwas dagegen tun wollen, ist zum Beispiel auch das Thema, dass wir Bürgerräte installieren wollen, auch hier am Deutschen Bundestag, um eben auch diese Kluft zwischen der Institution Deutscher Bundestag oder die Arbeit, die wir hier leisten, auch ein Stück weit wieder zu schließen. Und vor allen Dingen ist auch klar, die Bürgerinnen und Bürger wollen nicht nur alle vier Jahre zu Wahlen gefragt werden, sondern sie wünschen sich eben auch mehr Instrumente mitreden zu können. Dafür sind zum einen alle Abgeordneten da. Die müssen in ihren Wahlkreisen die Gespräche führen, mit nach Berlin nehmen, die Probleme hier lösen. Und da gehört halt Streit auch dazu. Aber wichtig ist am Ende, dass dann auch tragbare Lösungen dabei herauskommen und Bürgerinnen und Bürger vorher auch nach Möglichkeit einbezogen werden.
Detjen: Aber wenn jetzt auch die Präsidentin des Deutschen Bundestages, Bärbel Bas, und Ihr Vorgänger, Wolfgang Schäuble, hat das genauso getan, sagt, wir müssen eigentlich nach neuen Formen der Partizipation, der Mitwirkung von Bürgern suchen, steckt da auch ein Stück Erkenntnis mit drin, dass der Bundestag seine Rolle, was die Entscheidungsfindung angeht, aber auch, was die Vermittlung von Entscheidungen in die Bevölkerung angeht, in diesen Zeiten nicht mehr so erfüllt, vielleicht nicht mehr so erfüllen kann, wie das von ihm erwartet wird und wie er das über Jahrzehnte, über Generationen getan hat?
Bas: Ich persönlich habe schon den Befund, dass es eine Entfremdung oder eine Entfernung gibt. Das erlebe ich ja auch immer, das ist dieser berühmte Spruch, den ich auch oft selbst zu hören bekomme im Bürgergespräch selbst, wenn ich vor Ort bin, dieser Satz: „Die da oben. Ihr macht, was ihr wollt.“ Und diese Kluft zu schließen, indem man natürlich auch selber als Abgeordneter sehr stark vor Ort ist, Bürgergespräche führt, Formate anbietet, wo man Dinge diskutiert, miteinander bespricht, Lösungen vorschlägt, Kompromisse findet. Insofern sind die Elemente, die wir jetzt neu auch hinzunehmen wollen, die, wie gesagt, Wolfgang Schäuble schon begonnen hat mit dem Bürgerrat, den soll es nicht nur am Bundestag geben. Ich werbe sehr stark dafür, dass es an Landesparlamenten, in Kommunen solche Veranstaltungsformen oder Beteiligungsformen gibt.
Detjen: Erklären Sie vielleicht noch mal kurz, Frau Bas, was damit gemeint ist. Bürgerrat. Denn nicht jeder kennt das. In anderen Ländern hat man schon Erfahrungen damit gesammelt. In Irland zum Beispiel wurden schwierige, sehr spaltende Fragen – Abtreibungsrecht, Ehe für alle – über solche Bürgerräte vorentschieden und das Parlament hat das dann nachvollzogen. Wie könnte so was in Deutschland aussehen?
Bas: Das Modell, was wir hier zumindest am Deutschen Bundestag machen, ist so, dass wir momentan eine Ausschreibung laufen haben, um einen Anbieter zu suchen, der diesen Bürgerrat dann organisiert. Es ist so, dass dann per Losverfahren, Zufallsprinzip sehr viele Bürgerinnen und Bürger, wahrscheinlich so um die 300, angeschrieben werden und gefragt werden, ob sie sich an einem solchen Bürgerrat beteiligen möchten. Und wir laden deshalb so um die 300, 400 ein, damit wir repräsentativ in diesem Bürgerrat dann auch alle Bevölkerungsgruppen vertreten haben. Am Ende werden es dann so 160 Teilnehmerinnen und Teilnehmer sein. Aber so ausgewählt dann aus diesem Zufallsprinzip, dass wir sowohl arm, reich, gut gebildet, weniger gut gebildet, alles vertreten haben, was eben auch repräsentativ für die Bevölkerung wichtig ist.
Detjen: Was für Fragen könnten das dann sein, in denen ein Bürgerrat bessere, besser vermittelbare Antworten findet, als der Deutsche Bundestag das kann?
Bas: Also, die Bundestagsfraktionen beraten gerade das Thema. Ich habe ein Thema mal vorgeschlagen, ob das übernommen wird, steht noch nicht fest. Aber es könnte zum Beispiel ein gesellschaftspolitisches Thema sein, wie ein soziales Pflichtjahr. Das ist ein Thema. Es können aber auch ganz andere sein. Die Fraktionen haben jetzt den Auftrag, ein solches Thema zu finden. Vielleicht auch eins zum Klima. Also, da sind ja viele Möglichkeiten, jetzt ein gesellschaftliches Thema auch zu diskutieren, wo die Bürgerinnen und Bürger auch selbst völlig unterschiedliche Auffassungen haben. Also, wir haben …
Bürgerrat weder Volksentscheid noch Alibi-Veranstaltung
Detjen: Schauen wir mal zurück. Wenn wir anschauen, was in dieser Gesellschaft besonders kontrovers diskutiert wurde, auch spürbar hier im Deutschen Bundestag, Demonstrationen hier auf den Stufen vor dem Reichstagsgebäude, Proteste im Deutschen Bundestag in der Corona-Zeit vor zwei Jahren ganz besonders heftig. Hätte da so ein Gremium für Befriedung sorgen können? Bürgerrat entscheidet über Maskenpflicht? Eine Frage, die hochkomplexe …
Bas: Ja, ich habe zum Beispiel … also, wenn wir ihn schon installiert gehabt hätten, hätte ich zum Beispiel einen Bürgerrat mit dem Thema Impfpflicht, das war ja sehr polarisiert, auch diskutiert. Und ich glaube, dieser Bürgerrat zum Thema Impfpflicht hätte möglicherweise geholfen, auch einfach festzustellen: Gibt es da einen Kompromiss? Kann es einen geben? Gibt es ein Für und Wider? Möglicherweise hätte ein solcher Bürgerrat ein bisschen aus der hitzigen Diskussion herausnehmen können, indem man eben auch mit einem Bürgerrat gemeinsam diese Themen diskutiert. Also, wenn ich ihn schon gehabt hätte, hätte man in der Tat auch zur Pandemie das eine oder andere dort diskutieren lassen können und vor allen Dingen dann aber auch die Ergebnisse mit ins Parlament nehmen. Es geht mir auch darum, dass … nicht nur, wie man so schön sagt, wir laden die Bürger ein, dann wird drüber gesprochen. Mein Ziel ist auch: Die Ergebnisse müssen ins parlamentarische Verfahren, dann auch diskutiert und entschieden werden, damit auch die Bürgerinnen und Bürger, die an einem Bürgerrat teilnehmen, das nicht als Alibi-Veranstaltung verstehen, sondern es muss dann auch ins parlamentarische Verfahren.
Detjen: Aber ist es, wenn man es ernsthaft betreibt, dann nicht faktisch eine Bindung des Parlaments, wenn ein Bürgerrat mit den Erwartungen, die damit auch an Partizipation, an Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern geweckt werden, wenn ein Bürgerrat nach langen Diskussionen zu einem Ergebnis kommt in einer kontroversen Frage? Ist es vorstellbar, dass eine Mehrheit des Bundestages dann danach sagt: Nein, machen wir nicht. Wir haben uns das anders gedacht. Wir sind das eigentliche Entscheidungsgremium, das die Verfassung dafür vorgesehen hat.
Bas: Das bleibt ja auch so, denn es ist ja jetzt kein Volksentscheid. Das muss man so sehen. Aber wir beraten ja auch mit Expertinnen und Experten. Wir laden viele Wissenschaftler … wir haben Sachverständigenanhörung. Aber warum hören wir nicht auch die Bürger an und nehmen dieses Ergebnis aus einem Bürgerrat auch in das Verfahren? Und natürlich fällt es schon schwer, das dann völlig zu ignorieren. Das kann ich mir theoretisch vorstellen.
Detjen: In anderen Ländern, wenn ich da noch mal drauf kommen darf, da ist es ja so, dass die Bürger nicht nur beraten, sondern die bereiten wirklich Entscheidungen vor. Und das wäre ja hier auch geplant.
Bas: Genau. Das kommt aufs Thema an natürlich, mit welchem Thema ich einen Bürgerrat befasse. Und deshalb ist ja auch mein Ziel, dass es, wie gesagt, keine Alibiveranstaltung ist, sondern das Ergebnis muss dann, wenn es eins gibt, wenn es einen Kompromissvorschlag zum Beispiel aus dem Bürgerrat gibt, muss man dann ja ins Parlament, muss dann auch unten im Plenarsaal auch debattiert werden. Und dann muss natürlich am Ende die Mehrheit eines Bundestages entscheiden. Das bleibt nicht unbenommen. Wir werden uns damit dann politisch auseinandersetzen müssen, was ein Bürgerrat vorschlägt.
"Am Ende entscheidet nicht eine Bundesregierung, sondern der Bundestag"
Detjen: Sehen Sie da nicht die Gefahr, dass sich die Rolle des Parlaments da verändert, dass die Entscheidungsautorität, die Entscheidungsspielräume des Parlaments eingeengt werden? Ich schaue jetzt noch mal auf das andere Thema, über das wir eben geschaut haben, auf den Koalitionsausschuss. Das ist ja auch ein Gremium, das von der Verfassung so gar nicht vorgesehen ist. Da sitzen Vertreter der Bundesregierung, der Koalitionsparteien, die Fraktionsvorsitzenden zusammen, machen eine Einigung. Und das Parlament, ehrlich gesagt, die Mehrheit der Koalition, kann dann eigentlich kaum noch anders als dem zu folgen. Auch Verfassungsjuristen finden das immer wieder problematisch, sprechen davon, da wird die Macht eigentlich in ein – wie die sagen – ungeschriebenes Verfassungsorgan verlagert.
Bas: Da ist noch gar nichts entschieden. Da halte ich es mit dem Struckschen Gesetz. Also, auch wenn der Vorschlag dieses Einigungs- …
Detjen: Da ist noch nichts entschieden? Also, ich vermute mal, dass in diesem Augenblick, wenn wir hier sprechen, der Bundeskanzler und die Koalitionsspitzen das anders sagen und sagen, wir haben da was entschieden.
Bas: Ja, sie haben für sich entschieden, aber es muss ja noch durchs Parlament. Also, noch sind wir der Gesetzgeber. Und insofern gilt immer noch alles, was auch eine Bundesregierung, ein Ministerium ins Parlament gibt, einen Vorschlag, das ist bisher immer verändert worden noch im parlamentarischen Verfahren. Und da lege ich auch sehr viel Wert drauf. Und deshalb macht sicherlich die Bundesregierung, der Koalitionsausschuss … sie haben sich jetzt geeinigt. Sie machen einen Vorschlag, aber es muss durchs Parlament.
Detjen: Aber ist das vorstellbar? Die haben jetzt die ganze Nacht durchverhandelt. Fast 19 Stunden, wenn ich das richtig gezählt habe. Und dann geht das ins Parlament und die Koalitionsfraktionen sagen, das schauen wir uns das mal an, schnüren wir mal auf, das Paket und ändern hier und da?
Bas: Das ist nicht unüblich. Das ist unser tägliches Geschäft. Natürlich wird noch verhandelt. Die Fraktionen sind ja bisher nicht einbezogen. Also, die Spitzen möglicherweise, aber jede Fraktion ist für sich lebendig. Die Abgeordneten müssen am Ende dieses Paket entscheiden. Das ist in ihrer Verantwortung. Ich gehe natürlich davon aus, dass das Paket … die Details kenne ich jetzt noch nicht, weil ja gerade parallel die Pressekonferenz noch läuft der Bundesregierung oder des Kanzlers. Und insofern werden die Abgeordneten sich intensive mit diesem Paket beschäftigen.
Detjen: Wir haben das auch in vergangenen Krisenzeiten ganz besonders erlebt, dass die Regierung, dass Koalitionsausschüsse Entscheidungen treffen und der Bundestag dann, tja, jedenfalls unter einen erheblichen Druck gesetzt wird, so zu entscheiden, wie das aus dem Kanzleramt von einem Koalitionsausschuss vorgegeben wird. In der Eurokrise, in der Finanzkrise war das zum Beispiel der Fall, wo dann die zeitlichen Entscheidungsräume auch sehr kurz waren. Damals war es dann der Bundestagspräsident, Wolfgang Schäuble, der mit dafür sorgen musste, dass auch aus der damals eigenen Koalition, aus der Fraktion der Union, die kritischen Stimmen in den Plenardebatten zu Wort kamen, die den Kurs der eigenen Regierung, der eigenen Bundeskanzlerin, kritisiert haben damals. Wäre das auch jetzt Ihre Rolle? Würden Sie sich auch dafür einsetzen, dass da Spannungen in der Koalition, auch im Plenum dann offen zur Geltung kommen?
Bas: Ja, erstens würde ich das immer machen. Das ist ja das, was ich sage, denn am Ende entscheidet nicht eine Bundesregierung, sondern der Bundestag. Und der Bundestag mit seinen 736 Abgeordneten muss dazu eine kräftige Stimme haben. Und unser Anliegen, wir sind alle in unseren Wahlkreisen als Abgeordnete unterwegs, wir kriegen die Sorgen der Menschen mit. Und die erwarten von uns natürlich jetzt auch, dass wir die Verantwortung übernehmen. Und ich sage immer, wir haben ja mehrere Krisen gleichzeitig zu bewältigen. Die Pandemie ist noch nicht vorbei. Wir haben den Klimawandel noch zu bewältigen. Und die Leute haben gerade eine Menge Angst, dass die Preise steigen, sie ihre Miete nicht mehr bezahlen können und, und, und. Also, nicht nur die Bundesregierung hat eine hohe Verantwortung, auch das Parlament. Und natürlich müssen auch immer kritische Stimmen und auch starke Oppositionsparteien, aber auch einzelne Abgeordnete die Möglichkeit haben, eben auch ihr Rederecht in Anspruch zu nehmen. Und das haben wir bisher auch so gehalten, auch meine Vorgänger, die das so gemacht haben. Und ich werde das sicherlich auch machen, denn das ist meine Aufgabe, dass die Abgeordneten auch ihre Arbeit gut machen können.
Ziel ist die Verkleinerung des Parlaments
Detjen: Das Deutschlandfunk Interview der Woche an diesem Sonntag live aus dem Deutschen Bundestag. Sie hören es am Tag der offenen Tür des Deutschen Bundestages mit Bundestagspräsidentin Bärbel Bas. Frau Bas, wenn wir über den Bundestag sprechen und über Reformen, dann sprechen wir auch über ein Parlament, das sich vorgenommen hat, sich selbst zu reformieren. Das ist in den vergangenen Jahren in früheren Wahlperioden immer wieder gescheitert. Es gibt eine Kommission zur Reform des Wahlrechts, die vor ein paar Tagen einen neuen Bericht, einen Zwischenbericht vorgelegt hat, der Reformen des Wahlrechts vorsieht, die verhindern sollen, dass der Bundestag auf über seine jetzige Größe, auf über 800 bis zu 1.000, wurde ja schon ausgerechnet, Abgeordnete anwächst. Ist das, was da jetzt vorgelegt wurde, die Lösung, die Sie auch für die richtige halten?
Bas: Zumindest ist das Zwischenergebnis so, dass es zu einer deutlichen Verkleinerung kommen würde, wenn es so beschlossen wird. Dann kommen wir in der Tat wieder auf eine Zahl von 598 Abgeordneten zurück, wie sie auch im Gesetz steht. Aber dieser Zwischenbericht hat natürlich oder die Kommission hat noch weitere Aufgaben. Es geht letztendlich auch darum: Wie schaffen wir mehr Parität im Parlament? Es geht auch um das Wahlalter ab 16.
Detjen: Bleiben wir vielleicht mal zunächst bei dem Kern. Da geht es um die Methoden, mit denen Wählerstimmen umgerechnet werden in Abgeordnetensitze. Sehr kompliziert. Erststimmen, Zweitstimmen, Direktmandate. Die Reform soll ansetzen dabei, Direktmandate, die Abgeordnete erringen, gegebenenfalls zu deckeln. Das heißt, es würde im Ergebnis dazu führen, dass Abgeordnete, die die Mehrheit der Stimmen in ihrem Wahlkreis auf sich vereinigt haben, nicht ziehen, weil ihre Partei zu viele Zweitstimmen hat. Ein verfassungsrechtliches Problem. Aber aus Ihrer Sicht verfassungsrechtlich machbar?
Bas: Also, soweit ich mich damit jetzt auch schon längere Zeit befasse, es gibt ein Für. Also, es gibt Juristen und Juristinnen, die sagen, es ist möglich, weil das höhere Ziel einmal die Deckelung ist, das ist die Verkleinerung, und die Zweitstimme ja eigentlich die jeweiligen Parteien oder Fraktionen dann im Parlament widerspiegeln soll. So, die Erststimme ist natürlich… ich bin selbst ja in Duisburg direkt gewählt. Es kann passieren, dass ich von den Wählerinnen und Wählern direkt gewählt bin und je nach Berechnungsmodell es dazu führt, dass ich dann trotzdem am nächsten Morgen nicht im Bundestag einziehe. Da sagen andere wiederum, das ist verfassungsmäßig schwierig oder bis hin zu unmöglich.
Möglichst breiter Konsens für ein Wahlrecht wäre wünschenswert
Detjen: Ja, auch Experten, die die Kommission angehört hat.
Bas: Ganz genau. Aber es gibt, wie gesagt, auch Stimmen, die sagen, die Frage ist: Was ist gewichtig das höhere Ziel? Mache ich das nicht, wenn ich diesen Deckel nicht mache, ist das Problem, dass ich natürlich dann wieder Überhang-/Ausgleichmandate machen muss. Also, die Vorschläge haben wir ja alle auf dem Tisch. Es gab ja dann auch Vorschläge, dass die Überhang- und Ausgleichmandate wiederum weggeschnitten und gedeckelt werden. Und insofern ist es jetzt so, dass im Moment jetzt noch diskutiert wird, ob das so möglich ist. Es wird noch mal geprüft. Aber es ist zumindest ein Vorschlag, im Moment kenne ich keinen besseren, der tatsächlich einen festen Deckel wieder installiert.
Detjen: Es gibt unterschiedliche Vorschläge, auch von den Oppositionsparteien. Seit Jahren wird das kontrovers diskutiert. Es hat da nie eine Mehrheit gegeben. Auch jetzt ist dieser Zwischenbericht verabschiedet worden mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen. Es gibt Sondervoten der Oppositionsfraktionen. Ist es für Sie vorstellbar, dass in einen solchen Kernbereich der Demokratie am Ende eine Entscheidung fällt mit der einfachen Mehrheit der Koalitionsfraktion? Verfassungsrechtlich wäre das möglich. Wahlrecht kann mit einfacher Mehrheit geändert werden. Aber ist es politisch klug, sozusagen am Herz der Demokratie zu operieren, ohne auch die großen Oppositionsparteien an Bord zu haben?
Bas: Am Ende kann es eine einfache Mehrheit geben. Das ist richtig. Ich empfehle natürlich immer einen möglichst breiten Konsens für ein Wahlrecht zu finden, sodass nach Möglichkeit natürlich auch alle Parteien dem zustimmen. Aber es hat in den letzten Jahren bedauerlicherweise nicht funktioniert. Denn wirklich ein Kompromiss über alle zu finden, hat einfach gezeigt, dass das Parlament oder die Abgeordneten da nur schwer zu einem Kompromiss und einer Einigung gekommen sind. Ich würde es mir auf jeden Fall wünschen. Es wäre natürlich sinnvoll ein Wahlrecht, wenn das geändert wird, dass möglichst alle Fraktionen damit dann auch einverstanden sind.
Detjen: Aber es geht um die Funktionsfähigkeit des Parlaments. Das ist das Argument, weshalb eine Überblähung des Parlaments verhindert werden soll. Das würde es für Sie am Ende notfalls rechtfertigen, so was auch mit einfacher Mehrheit zu entscheiden?
Bas: Am Ende ja, denn die Bürgerinnen und Bürger erwarten schon – das höre ich auch in vielen Gesprächen –, dass sie sagen, sie möchten zumindest am Ende des Tages, wenn sie zur Wahl gehen, auch wissen: Wie viele Abgeordnete sind denn am Ende im Parlament? Heute weiß das niemand. Es können 600, 700, 800 bis … je nach Umfrage waren es bis zu 1.000, die da berechnet wurden. Und dann kommen wir tatsächlich an die Grenzen der Kapazitäten, die wir auch haben, möglicherweise auch an Grenzen der Arbeitsfähigkeit. Das heißt, Ausschussräume und was wir alles haben, auch das muss man bedenken. Und die Erwartung ist schon groß, der Bürgerinnen und Bürger, dass wir wieder auf ein normales Maß zurückkommen.
Detjen: Bei dieser Frage geht es tatsächlich um die Funktionsfähigkeit des Bundestages, also hohes demokratisches Gut, das man da anführen kann. Aber Sie haben ja eben schon erwähnt, es stehen noch andere Themen da zur Diskussion in dieser Wahlrechtsreform. Nach dem Mehrheitsbeschluss der Koalitionsfraktionen eine Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre. Sie haben es eben erwähnt, Frau Bas, Kann die Koalitionsmehrheit das auch mit einfacher Mehrheit gegen die Opposition entscheiden und sich damit den Vorwurf einhandeln, dass die Koalition auch darauf schaut, wer dann davon profitiert, nämlich besonders die Koalitionsparteien.
Bas: Bei dem Wahlalter ab 16 geht das nicht mit einer einfachen Mehrheit. Also, das müssten wir schon breiter beschließen. Deshalb ist das jetzt auch noch in der Diskussion, auch mit der großen Oppositionsfraktion der CDU/CSU, hier eine Überzeugungsarbeit noch zu leisten, das Wahlalter zu reduzieren. Da braucht es eine andere Mehrheit. Aber dennoch halte ich es für richtig auch, das Wahlalter zu senken, weil einfach jetzt auch schon viele junge Menschen sehr engagiert sind, sehr politisch sind und vor allen Dingen auch es Sinn macht, dass so früh wie möglich auch junge Menschen sich an der Wahl schon beteiligen, an dem Prozess, an Politik interessiert sind. Und insofern finde ich es gut, wenn jetzt auch noch mal auf die CDU/CSU da in dem Bereich zugegangen wird.
Detjen: Und Interesse, das hört man vielleicht im Hintergrund, gibt es. Ich habe es am Anfang gesagt. Wir sind hier im Deutschen Bundestag, im Paul-Löbe-Haus. Das ist das Gebäude, wo die Ausschüsse tagen. Und da ist der Tag der offenen Tür. Bis 18.00 Uhr ist noch Einlass. Bis 19.00 Uhr ist offen. Jeder kann kommen. Sagen Sie noch kurz: Was gibt es zu sehen? Was kann man hier erleben, außer der Bundestagspräsidentin, die jetzt gleich nach dem Interview wieder runtergeht?
Bas: Also, ich kann wirklich nur empfehlen, noch die Zeit zu nutzen, vorbeizukommen. Hier kann man einfach hinter den Kulissen mal schauen. Es gibt hier neben den Fachausschüssen, die sich präsentieren, tolle politische Diskussionen, natürlich auch ein paar Highlights, dass ich virtuell durch den Plenarsaal laufen kann per App und Handy. Das macht vielen Spaß. Die Stenografen können befragt werden, was sie denn da unten immer im Saal machen, wie schnell sie schreiben können. Also, es sind viele schöne Dinge, die hier die Aufmerksamkeit erfordern.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.