Archiv

Baerbock (Grüne) zu Schulöffnungen
"Kinder sind wieder durchs Raster gefallen"

Die Grünenpolitikerin Annalena Baerbock kritisiert die Bundesregierung, die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen nicht ausreichend zu berücksichtigen. So hätten Schulen etwa durch Tests viel schneller sicher gemacht werden müssen, um Kindern ein normales Leben zu ermöglichen, sagte sie im Dlf.

Annalena Baerbock im Gespräch mit Jasper Barenberg |
Die Parteivorsitzende Annalena Baerbock, Buendnis 90/Die Grünen, aufgenommen im Rahmen einer Debatte im Deutschen Bundestag in Berlin
„Seit einem Jahr hätte Politik absolute Priorität darauf setzen müssen, dass an den Schulen Schutzvoraussetzungen geschaffen werden“, sagte Grünenpolitikerin Annalena Baerbock im Dlf (imago /photothek.de / Florian Gärtner)
Die Situation bei den Schulöffnungen ist unübersichtlich: Manche Länder fahren den Präsenzunterricht an den Grundschulen langsam wieder hoch, andere bleiben vorläufig bei Wechselunterricht mit halben Klassen oder es bleibt den Eltern weiter ganz freigestellt, ob ihre Kinder zuhause bleiben. Brandenburgs Bildungsministerin und Präsidentin der Kultusministerkonferenz Britta Ernst drängt darauf, dass noch im März alle Schülerinnen und Schüler wieder zur Schule gehen können. Doch etwa in Hessen und in Thüringen gibt es Vorbehalte.
Die Co-Vorsitzende der Grünen Annalena Baerbock wirft der Bunderegierung Versäumnisse vor. Obwohl Kindern und Jugendlichen Priorität eingeräumt werden solle, habe man es ein Jahr lang nicht geschafft, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, sagte Annalena Baerbock im Dlf. So hätten etwa zur Öffnung der Schulen geeignete Schutzkonzepte vorgelegt und ausreichend Tests zur Verfügung gestellt werden müssen.
Coronavirus
Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)

Jasper Barenberg: Kinder und Jugendliche sollen an erster Stelle stehen - wird dieser Grundsatz noch erfüllt?
Annalena Baerbock: Offensichtlich wollte gerade die Bundesregierung über Weihnachten bei Jugendlichen, bei Kindern und vor allen Dingen bei Eltern, Lehrern und Erziehern nur die Nerven beruhigen, als dann plötzlich alle sagten, jetzt aber Schulen und Kitas zuerst. Weil wenn das gegolten hätte, dann hätte man aller-, allerspätestens über die Weihnachtsferien alles dafür tun müssen, damit Schulen sicher werden, aber auch, dass man in die anderen Lebensbereiche von Kindern und Jugendlichen schaut, die jetzt ein Jahr lang ihr Leben einfach nicht mehr leben konnten, wie das für Kinder und Jugendliche notwendig ist. Zum Beispiel die Kinder- und Jugendhilfe, Kinder- und Jugendclubs, all das kommt ja in diesem Beschluss auf Bundesebene auch überhaupt gar nicht mehr vor. Das heißt, Kinder sind wieder durchs Raster gefallen, und das zieht sich seit einem Jahr durch, und das ist wirklich ein Desaster.
Barenberg: Jetzt hat aber die Kultusministerkonferenz angekündigt, alle Schülerinnen und Schüler sollen vor Ostern zurück in die Schule. Warum reicht das nicht?

"Jens Spahn hat ein riesengroßes Chaos angerichtet"

Baerbock: Seit einem Jahr hätte Politik, hätte auch die Bundesebene absolute Priorität darauf setzen müssen, dass in dieser absolut außergewöhnlichen Situation an den Schulen wirklich pragmatisch gehandelt wird, also Schutzvoraussetzungen geschaffen werden, zum Beispiel Filteranlagen im letzten dreiviertel Jahr einzubauen. Oder jetzt auf Ihre konkrete Frage habe ich seit Wochen gefordert, dass zu allererst die Selbsttests an Schulen kommen, damit Schulen auch in den oberen Jahrgängen wieder sicher öffnen können, dass das gebündelt wird, dass das von Bundesebene koordiniert wird. Der Gesundheitsminister Jens Spahn, aber auch die Kanzlerin haben sich immer wieder dagegengestellt, wollten über Schnelltests zur Selbstanwendung überhaupt gar nicht reden, wollten nicht, dass darauf Priorität gelegt wird, dass sie an die Schulen kommen. Jetzt ist die Situation, dass keine Tests an den Schulen da sind, und das muss jetzt gebündelt und prioritär endlich, endlich angegangen werden, weil es geht nicht nur um Grundschülerinnen und Grundschüler. Es ist auch wahnsinnig heftig für Siebtklässler, für Neuntklässler, gerade wenn sie vorher schon Schwierigkeiten hatten mitzukommen, dass ihre Schule jetzt ein Jahr lang nicht richtig geöffnet war.
Schülerinnen und Schüler sitzen mit Masken und Abständen in einem Klassenraum. Vorne steht eine Lehrerin, ebenfalls mit Maske.
Kinder und Corona: Wie sich Schulen verantwortlich öffnen lassen
Die Schulen sollen nach und nach wieder geöffnet werden. Dafür sprechen gute Gründe: die Bildung, aber auch die Lockdown-Belastung für die Kinder. Auf der anderen Seite gibt es Meldungen, die neuen Virus-Varianten würden gerade Kinder infizieren. Wie können Schulen öffnen, ohne zur Infektionsquelle zu werden?
Barenberg: Aber Bundesgesundheitsminister Jens Spahn sagt, die Schnelltests sind mehr als genug verfügbar.
Baerbock: Ja, nur leider nicht an den Schulen, und das liegt daran, dass er so ein riesengroßes Chaos angerichtet hat. Es gab Pilotprojekte zum Beispiel in Hessen, wo das hessische Gesundheitsministerium dafür gesorgt hat, schon vor etlichen, etlichen Wochen, dass Schnelltests zur Selbstanwendung an Schulen dort in der Pilotphase getestet worden sind. Dann hat er die Zulassung, Jens Spahn hat die Zulassung so geschrieben, dass dann Lehrerinnen und Lehrer das aber nicht selber anwenden können. Deswegen kann Berlin die Schnelltests nicht anwenden, die sie eigentlich beschafft haben. Das heißt, er hat für ein riesengroßes Chaos auch und gerade an den Schulen gesorgt, obwohl er ja Kindern und Jugendlichen Priorität einräumen wollte.

"Hoch dramatisch auch die psychischen Audwirkungen"

Barenberg: Jetzt kann man sich ab heute vielerorts einen persönlichen Termin im Fitness-Studio besorgen. Die Menschen können in die Baumärkte gehen und sich um ihren Garten kümmern. Aber die Perspektiven für Schülerinnen und Schüler bleiben ja unübersichtlich und auch ungewiss. Wo ist die Verantwortung für Kinder und Jugendliche denn untergegangen? Wo ist sie unter die Räder gekommen?
Baerbock: Im Frühjahr 2020, als schon beim allerersten Beschluss die Runde der Bundeskanzlerin mit den Ministerpräsidenten Kinder überhaupt nicht vorgesehen hatte. Sie hatten Kinder damals schon nicht auf dem Schirm und das zieht sich jetzt leider, leider ein Jahr durch. Man muss die Schwächsten einer Gesellschaft schützen. Das haben wir ganz zu Beginn getan. Das haben wir im letzten Jahr immer wieder getan, insbesondere die ältesten Menschen in unserer Gesellschaft. Das war absolut richtig. Aber die Lage ist für etliche Kinder mittlerweile hoch dramatisch, weil es nicht nur Auswirkungen hat, dass manche das Einmaleins vergessen haben, dass andere den ganzen Lernstoff vergessen haben, sondern immer stärker auch psychische Auswirkungen hat, weil Kinder brauchen Kinder. Kinder müssen spielen können, sie müssen toben können, sie müssen sich reiben können. Jugendliche müssen einen Raum haben, wo sie sich entwickeln können, ihren Eltern entkommen können, und all das müssen wir Kindern endlich und prioritär wieder zurückgeben.
Interaktive Karte mit COVID-19-Statistiken vom Zentrum für Systemwissenschaft und Systemtechnik der Johns Hopkins University in Baltimore
Was die Neuinfektionen für die kommenden Wochen bedeuten 
Eine Epidemie bedeutet ständige Veränderung. Die Situation ist im Fluss, doch wohin? Zahlen bieten Orientierung, aber sie verwirren auch. Ein Wert alleine wird der Dynamik nicht gerecht. Ein Überblick über Zahlen und Trends.
Barenberg: Jetzt haben Sie viel Kritik an der Bundeskanzlerin und an der Bundesregierung geübt. Aber muss diese Kritik nicht in allererster Linie tatsächlich an die Kultusministerkonferenz gehen beziehungsweise an die Kultusministerinnen und Minister, an die Bildungsminister in den Ländern, dass die ihrer Verantwortung gerecht werden?
Baerbock: Die tragen natürlich auch einen Teil dieser Verantwortung, und das zeigt auch die Schwächen in unserem föderalen System gerade mit Blick auf Bildungsaufgaben. Man kann von Bundesebene die Verantwortung sehr gut auf Landesebene geben. Die Kultusministerinnen und Kultusminister haben dann in etlichen Bundesländern gesagt, jetzt müssen sich die Schulen alleine darum kümmern. Und ja, da gab es auch wahnsinnig viele positive Beispiele, dass Schulleitungen, dass Kreise, dass Städte dann gesagt haben, wir packen das jetzt gemeinsam an, wenn sich die Ebene darüber nicht kümmert. Es gibt ja Schulen, die selber Schnelltests zur Selbstanwendung seit langem eingeführt haben. Es gibt Schulen, die alles dafür getan haben, dass auch digital ihre Kinder erreicht werden im Homeschooling. Es gibt Schulleiter, die sind extra zu Kindern nachhause gefahren, die haben immer wieder geschaut, Mensch, von dir habe ich seit Wochen nichts gehört. Aber Politik hätte all diese guten Beispiele unterstützen müssen, und ja, hier stehen vor allen Dingen auch die Kultusministerinnen und Kultusminister mit in der Verantwortung.

Alle Kinder erreichen

Barenberg: Viel wird jetzt ja auch schon darüber diskutiert, wie die entstandenen Lücken, wie der Schaden dann langfristig begrenzt werden kann. Es gibt weitreichende Vorschläge. Einer lautet, das laufende Schuljahr soll bis Januar 2022 verlängert werden. Was halten Sie davon?
Baerbock: Alleroberste Priorität müsste aus meiner Sicht jetzt – und das habe ich jetzt auch schon seit ein paar Wochen immer wieder ganz, ganz stark betont – darauf gelenkt werden, dass jedes Kind erreicht wird. Es sind ja nach wie vor wahnsinnig viele Kinder im entweder Wechselmodell oder komplett im digitalen Lernen, und das heißt, diejenigen Kinder, die hier nicht erreicht werden – man geht von 20 bis 30 Prozent der Kinder aus -, die müssten jetzt in kleinen Gruppen prioritär zurückkommen können. Das gilt auch gerade für weitere Jahrgänge. Man müsste denjenigen Kindern, wo man weiß, die sind komplett durchs Raster gefallen, jetzt einen Bildungslotsen mit an die Seite stellen über einen, vom Bund mitgeförderten Fonds in Höhe von einer Milliarde Euro. Wir haben das ja auch bei den Gesundheitsämtern gemacht, ganz pragmatisch. Die Bundeswehr hat bei den Gesundheitsämtern mit unterstützt. Jetzt können zum Beispiel pensionierte Lehrerinnen und Lehrer über das Projekt Menschen für Menschen, es könnten Lehramtsstudierende mit an die Schulen gehen, um die Kinder, die im letzten Jahr nicht erreicht worden sind, individuell zu unterstützen. Das müssten wir jetzt ganz konkret angehen, in den Osterferien dafür Maßnahmen schaffen, dass Kinder speziell noch mal mit unterstützt werden, die Sommerferien mit dafür zu nutzen, weil aus meiner Sicht ist diese Verlängerung von einem halben Jahr, das klingt in der Theorie ganz toll. Aber wenn man sich das anschaut, dass wir noch nicht mal hinbekommen, Masken an Schulen zu bringen, sehe ich nicht, dass wir da in dieses System so stark eingreifen können, sondern es gilt, jetzt zu handeln über einen Bildungsrettungsfonds, der jedes Kind erreicht.

"Strukturelles Problem in der CDU/CSU"

Barenberg: Machen wir hier einen Punkt und sprechen über die Masken-Affäre in der Unions-Fraktion, die für viel Wirbel sorgt, für massive Kritik auch. Die Fraktionsführung hat ja selbst das Verhalten der beiden Abgeordneten scharf verurteilt. Georg Nüßlein und Nikolas Löbel ziehen sich beide aus der Politik zurück, haben das jedenfalls angekündigt. Ist der Fall damit erledigt?
Baerbock: Nein, aus meiner Sicht nicht. Weil natürlich kann es immer mal vorkommen, dass es in einer Partei Einzelfälle von einzelnen Personen gibt. Aber im Fall der CDU/CSU weist vieles darauf hin, dass es sich um ein strukturelles und systematisches Problem handelt. Es sind nicht nur diese beiden einzelnen Abgeordneten, sondern seit 2017 ist bekannt, dass es die sogenannte Aserbaidschan-Affäre gibt um den Abgeordneten Fischer und Lenz. Auch da sollen Gelder geflossen sein, um ein autoritäres Regime, nämlich Aserbaidschan im Europarat zu decken. Das war der Fraktionsführung von CDU und CSU im Bundestag in den letzten Jahren immer wieder bekannt. Nichts wurde in dieser Angelegenheit getan. Wir haben die Affäre rund um Philipp Amthor. Bei Bekanntwerden hat er dann noch gesagt, ich werde aber nicht Landesvorsitzender. Jetzt wurde er genau dieser Tage mitten in diesem schwarzen Filz als Spitzenkandidat zur Bundestagswahl für die CDU in Mecklenburg-Vorpommern aufgestellt, obwohl er mit Aktienoptionen dafür gesorgt hat, dass ein Unternehmen besonders berücksichtigt worden ist. Dieser strukturelle schwarze Filz muss von Seiten der CDU/CSU jetzt angegangen werden, um noch größeren Schaden gerade auch von dem Vertrauen in die Politik abzuwenden.
Barenberg: Fordern Sie wie die FDP einen Untersuchungsausschuss?
Baerbock: Das muss man mit überlegen, ob man das auf den Weg bringt. Allerdings wer sich im Parlamentarismus auskennt, der weiß, dass ein Untersuchungsausschuss immer wahnsinnig lange dauert. Jetzt gilt es, jetzt alles auf den Tisch zu legen, Aufklärung in der CDU/CSU-Fraktion, aber auch in der Partei an allen Ecken und Enden darzulegen, nicht erst in ein paar Monaten, wenn so ein Ausschuss dann tagt und erste Ergebnisse bringt. Und vor allen Dingen, da es sich wie gesagt leider um ein strukturelles Problem innerhalb der Partei handelt, muss die Union endlich dazu bereit sein, für mehr Transparenz zu sorgen. Sie ist es, die immer wieder ein umfassendes Lobby-Register blockiert. Selbst der BDI, der Wirtschafts- und Industrieverband, fordert ein, dass es hier zu einem besseren Gesetz kommen muss. Das wollte die Union bisher nicht. Die Union hat sich dagegengestellt, dass die Veröffentlichung von Nebeneinkünften von der Höhe deutlich abgesenkt wird, dass diese Aktienoptionen, wo man auch Vorteile als Abgeordneter bei der Union hatte, dass das mit veröffentlicht und transparent gemacht werden muss. Das heißt, wenn Herr Laschet und Herr Söder jetzt ihre Aufklärung ernst meinen, dann müssen sie endlich für transparente Regeln im Bundestag, in allen Parlamenten sorgen, gegen die sie sich immer gestellt haben.

"Es geht um Anstand und Vertrauen in die Politik"

Barenberg: Es geht ja auch viel um das Lobby-Register, dem die Union jetzt nach langem Streit mit der SPD zugestimmt hat. Sie sprechen von Transparenzregeln. Aber muss man nicht unterm Strich, was diese Fälle angeht, von denen wir wissen, sagen, das ist kaum durch Regeln in den Griff zu bekommen?
Baerbock: Nein! Das muss ich so deutlich sagen. Das Lobby-Register hatte ich ja gerade schon angesprochen. Es kritisieren mittlerweile führende Wirtschaftsvertreter, dass dieses Lobby-Register von SPD und Union nicht ausreicht, weil man sich ganz bewusst von Unions-Seite dagegengestellt hat, dass gerade auch der legislative Fußabdruck, das heißt was passiert eigentlich bei der Bundesregierung, wer hat da wo Einfluss genommen als Interessengruppe, dass das mit transparent gemacht wird.
Barenberg: Aber in diesen Fällen hätte es doch nichts gebracht.
Baerbock: Na ja. Es wurden Briefe geschrieben von Philipp Amthor auf dem Briefbogen des Deutschen Bundestages, dass man sich doch mit Blick auf ein besonderes Unternehmen besonders einsetzen sollte. Es wurde bei der Beschaffung von Masken – das ist ja ein Verwaltungsvorgang auch im Gesundheitsministerium gewesen – Einfluss genommen. Das stärker offenzulegen, wer hat da eigentlich mit wem geredet. Und, was ich angesprochen habe, mit der Veröffentlichungspflicht für Aktienoptionen, dass die so veröffentlicht werden, als wenn man eine Geldzahlung für eine Leistung erhalten hätte. Auch dagegen stellt sich die Union und es liegt in ihrer Hand, das jetzt zu ändern, wenn sie wirklich aufklären und für Transparenz sorgen will. Das was mich hier wirklich besorgt – wie gesagt, es kann in jeder Partei mal einzelne Fehltritte geben -, es geht hier um Anstand und Vertrauen in die Politik, und da muss die Union jetzt voll und ganz für Aufklärung und zwar auf allen Ebenen sorgen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.