Am dritten Tag gerät das Schiff in Eis. Zersplitterte Platten, wachsfarbene Spindeln und tropfende Riesenamöben treiben vorbei, die "Akademik Ioffe" zieht durch ein weißes Trümmerland. Abends gibt Expeditionsleiter Boris Wise bekannt, dass man die Route ändern müsse. Zu viel Eis, zu dickes Eis, zu dichtes Eis ist an die Küste getrieben. Der Kurswechsel ist kein Willkürakt. Jeden Tag bekommt das Schiff vom kanadischen Eisservice die aktuelle Eiskarte, die aus Satellitenbildern erstellt wird.
"Diese Eiskarten zeigen bestimmte Nummern und Farben und Regionen. Wenn man diese Angaben mit dem Schiffstyp hochrechnet, auf dem man unterwegs ist, kommt man zu einer klaren Entscheidung. Entweder hat man ein grünes Ergebnis, dann darf man weiterfahren. Oder ein rotes. Und das heißt: Hier können wir nicht mehr weiter."
Gläserne Zwerge, Raketen und Wolken säumen den Wasserweg. Und manchmal ist es, als hätte Christo Kathedralen, Pyramiden und die Hamburger Elbphilharmonie verhängt, und nun trieben sie, gehüllt in weiße Tücher, weit draußen vorbei.
Die "Akademik Ioffe" ist an der Ostküste der Insel Baffin unterwegs, die mit 500 000 Quadratkilometern fast eineinhalb mal so groß ist wie Deutschland. Fjorde und Schluchten schneiden in das zerklüftete Ufer, Gletscher reichen oft bis ans Meer. Woher der Name kommt, weiß die schottische Polarhistorikerin Katie Murray, die sich selbst "polarsüchtig" nennt.
"Der beste Weg, etwas über die Geschichte der Arktis zu erfahren, ist der Blick auf die Karte. All die Inseln und Buchten sind nach Entdeckern, nach ihren Schiffen oder ihren Auftraggebern benannt. Baffin Island etwa trägt den Namen eines Entdeckers, über den wir nicht allzu viel wissen: William Baffin war ein englischer Steuermann, der im 17. Jahrhundert an mehreren Expeditionen teilgenommen hat."
Eisschollen, Eisberge, Eisbären
Am nächsten Morgen macht jemand im bläulichen Weiß des Eises einen elfenbeinfarbenen Fleck aus. Es ist der König der Arktis, sagt der Ökologe Dr. Nicholas Pilfold.
"Wir haben vor uns auf der Eisscholle einen ausgewachsenen Eisbär. Er hat kurz vorher eine Robbe geschlagen und sie schon fast aufgefressen. Wahrscheinlich ist er von hinten herangeschwommen und hat sie dann auf dem Eis erwischt. Wir haben gesehen, wie der Bär frisst, und wie er seine Pfoten säubert, nachdem er fertig ist – es war ein ganz natürliches Verhalten, und es ist ein sehr entspannter Bär."
Blut hat den Schlachtplatz tiefrot gefärbt, bedächtig reißt der erfolgreiche Jäger letzte Stücke aus dem dampfenden Körper und wittert zwischendurch in die Luft.
"Dieser Bär ist wirklich fett. Mit der einen Robbe, die er gerade frisst, kommt er ohne weiteres eine Woche aus. Wenn es hart auf hart kommt, hält er aber auch einen Monat ohne Nahrung durch. Und ruht sich aus, bis sich neues Eis gebildet hat."
Der junge Wissenschaftler untersucht im Auftrag der Zoologischen Gesellschaft von San Diego, wie sich der Klimawandel in der Arktis auswirkt.
"Klimawandel in der Arktis heißt Eisschmelze. Je wärmer es wird, desto mehr Eis schmilzt. Desto mehr offenes Wasser bleibt, das Sonnenstrahlen absorbiert. Desto mehr erwärmt sich auch das Meer – und das Eis schmilzt noch schneller. Heißt: der Prozess verstärkt sich gegenseitig. Wir bemerken in der Arktis große Verluste an Eis. Aber wir sehen auch Veränderungen an Land. Der Permafrostboden taut auf – auch das geht sehr schnell."
Klimawandel ist in der Arktis Realität
Und diese Veränderungen haben natürlich Auswirkungen auf die Eisbärenpopulation, sagt Nick Pilfold.
"Eisbären verbringen 90 Prozent ihres Lebens auf dem Seeeis. Sie ziehen dort umher, jagen, paaren sich – alles passiert auf dem Eis. Wenn das Eis schmilzt, verlieren die Bären ihren Lebensraum. Es macht überhaupt keinen Unterschied, ob der tropische Regenwald mit all seinen Tieren verschwindet oder das Eis in der Arktis. Und genau das passiert im Augenblick."
Ja, der Klimawandel in der Arktis ist Realität – trotz des Eisfeldes, an dem das Schiff gerade entlangfährt. Das bestätigt Ted Irniq, Son eins Inuit und einer Weißen. Die Inuit haben ganz direkt damit zu kämpfen. Der 38-Jährige verdient üblicherweise sein Geld als Wildnisführer. An Bord ist er der Spezialist in Sachen Jagd, Überleben im Eis und Inuit-Leben heute.
"Wir haben August und sitzen hier im T-Shirt und hatten jetzt eine Woche lang Sonne – ich glaube, weil die Gletscher zurückgehen. Wir haben weniger Schnee im Winter und es ist wärmer geworden. Früher konnten wir eher im Jahr mit dem Schneemobil zum Jagen fahren und länger draußen bleiben. 2010 hatten wir erst mal mehr Bootstage als Schneemobiltage und es gab kein Eis bis zum Januar. Viele von den Älteren glauben sogar, der Himmel sehe nicht mehr so aus wie früher. Sie denken, die Erde sei aus ihrer Achse gekippt."
Nach Norden zu verschwindet das Treibeis. Bei der Einfahrt in den Fjord "Icy Arm" hebt sich der Nebel. Grau-silberne Tafelberge reihen sich wie die abgeschabten Backenzähne von Riesen, gräuliche Gletscherzungen lecken dazwischen herunter. Mit den Zodiacs, den stabilen Schlauchbooten, geht es an Land.
Zwischen Vergangenheit und Gegenwart
Bei der Wanderung über den federnden Tundraboden entdeckt Franco Mariotti, der Biologe, überall arktische Wunder:
"Das sieht aus wie Arktischer Mohn. Er kann bis zu 25 Zentimeter groß werden und ist meist gelb. Aber das Tollste an ihm ist: Er dreht seine Blüten 24 Stunden lang nach der Sonne. Rund um den Stängel sitzen Zellen, und die der Sonne gegenüberliegenden füllen sich mit Wasser und drücken die Blüte zur Sonne hin – und so geht das rundum – 24 Stunden lang. Eine phantastische Anpassung an dieses eiskalte Klima."
Sogar Bäume kann man entdecken in diesem Land, in dem keine Pflanze höher als 25 Zentimeter wächst. Man muss dafür allerdings tief in die Hocke gehen.
"Die arktische Weide – der einzige Baum in der Arktis. Naja Baum – darüber lachen jetzt sicher einige. Die höchste, die je gefunden wurde, war gerade mal zehn Zentimeter groß. Aber wenn man den Stamm durchschneiden würde, der nicht dicker ist als mein kleiner Finger – und die Jahresringe betrachten würde, könnte man sehen: so eine Pflanze kann gut und gern hundert Jahre alt sein."
Nach so viel Natur giert man irgendwann sozusagen nach Spuren menschlicher Anwesenheit. Am neunten Tag geht die "Akademik Ioffe" bei Pond Inlet vor Anker. Alles in dem 1500-Seelenstädtchen wirkt ein wenig provisorisch: Die staubige Schotterstraße, der Müll im Bach, die ausgedienten Autos und Schneemobile, die als Ersatzteillager herumstehen. Das ganze Bild sagt: Es lohnt sich nicht, groß aufzuräumen. Der nächste Winter kommt nicht nur bestimmt, sondern bald.
Mittags steht im Gemeindezentrum eine Folklorevorführung auf dem Programm. Hier sind Profis am Werk. Das "Tununiq-Miut"-Theater reist schon seit einigen Jahren durch die Welt. Eine Tranlampe brennt, die Trommel schlägt, und beim "throat-singing", dem Erzeugen von Tönen im Kehlkopf, treten zwei Frauen in einen Gesangswettkampf.
Lamech Kadloo, der mit seinem hageren Gesicht und den langen Haaren den wettergegerbten, alten Vorzeige-Jäger abgibt, hat solche Inuit-Traditionen in den 1970er-Jahren aufrechterhalten, als sie verboten waren, und 1987 die Gruppe gegründet. Heute ist seine Nichte Sheena Akoomalik die Chefin der Truppe.
"Trommeltanz und Kehlkopfgesang war über 50 Jahre lang verboten. Mein Onkel hat es im Geheimen weiter betrieben. Als ich ihn das erste Mal hörte, ging ein Licht in meinem Herzen an. Ich wusste, plötzlich wer ich bin."
Dunkle Seiten der kanadischen Geschichte
Auch Ted Irniq brauchte lange, bis er sich mit der Geschichte seines Volkes beschäftigte. Die Schule war da keine Hilfe.
"In der Schule habe ich nur über Südkanada gelernt. Von der Geschichte des Nordens habe ich erst erfahren, als ich auf die 30 zuging. Die meisten Lehrer und den größten Teil des Lehrplans bekamen wir aus dem Süden. Und die Leute dort glauben manchmal, wir leben immer noch in Iglus. Ich wusste nicht, warum Frobisher Bay Frobisher Bay hieß, und über die Hudson Bay Company und ihre Handelsposten habe ich mehr in meinen Dreißigerjahren gelernt als in all meinen Schuljahren davor."
Heute scheut er sich nicht, auch über die dunklen Seiten der kanadischen Geschichte zu reden. Von 1867 bis 1996 riss die Regierung zahlreiche Inuit-Kinder aus ihren Familien und steckte sie in sogenannte "Residential schools". Dort sollten sie, fern ihrer Wurzeln, zu passenden Staatsbürgern erzogen werden. Für viele war es ein wahrer Leidensweg.
"Mein Vater ging in eine dieser Schulen und war eines der vielen Opfer. Misshandlungen und sexueller Missbrauch waren da gang und gäbe. Darüber zu sprechen fällt schwer. Mein Vater hat die meiste Zeit geschwiegen. Er war immer sehr ruhig und hat wenig geredet – und nie über die Vergangenheit."
Später aber fand er einen Weg, sich mit seinen seelischen Verletzungen auseinanderzusetzen. Er half seinen Leidensgenossen.
"Er war dann später im Wahrheits- und Versöhnungskomitee. Er ist über die Dörfer gefahren und hat versucht, die Leute zum Reden zu bringen. 50-, 60-jährige Menschen brachen da zusammen und fingen an zu weinen. Es war vielleicht zum ersten Mal, dass sie darüber geredet haben."
Geheimnis um den Narwal
An Bord der "Akademik Ioffe" herrscht Aufregung. Walalarm! In einiger Entfernung, nah am Ufer, tauchen kleine Fischchen aus dem Wasser und wieder zurück – soviel ist durch das Glas gerade noch zu erkennen. Biologe Franco Mariotti aber ist sich sicher:
"Wir sehen da draußen tatsächlich Narwale, die berühmten Wale der Arktis. Sie sind klein, 5 Meter lang, und haben diesen berühmten Stoßzahn. Nar heißt eigentlich toter Mann. Die Wikinger nannten sie so, weil sie mit den Flecken auf ihrem Körper an eine Leiche im Wasser erinnern."
Der Narwal ist das geheimnisvollste Tier der Arktis. Sein bis zu zwei Meter langer, gedrehter Zahn ähnelt verblüffend dem Horn, das ein nicht weniger mysteriöses Fabelwesen auf vielen Darstellungen trägt – das Einhorn.
"Die ganze Mythologie um das Einhorn wurde aufrechterhalten von Leuten, die im frühen 16. Jahrhundert aus Skandinavien einen Narwalzahn mitgebracht hatten, und die Menschen glaubten: Ja, es gibt sie wirklich, die geheimnisvollen Pferde mit dem einen Horn. Leute, die wussten, worum es sich handelte, unterdrückten sogar die Wahrheit, weil der Mythos die Zähne noch wertvoller machte."
Lange glaubte man, das elfenbeinfarbene "Horn" diene dazu, Fische aufzuspießen, das Eis zu durchbrechen oder Männerkämpfe auszufechten. Bis vor einigen Jahren ein Zahnarzt aus Harvard unter dem Elektronenmikroskop eine aufregende Beobachtung machte.
"Dieser Zahnarzt hat entdeckt, dass von der Oberfläche des Zahns winzige Löcher ins Innere führen, die voller Nervenenden stecken. Damit messen die Tiere den Salzgehalt des Wassers und die Temperatur und damit auch die Wassertiefe. Der Zahn funktioniert also als Barometer und Thermometer zugleich. Und wahrscheinlich entdecken Männchen darüber auch paarungswillige Weibchen. Es wird immer faszinierender, was wir wohl noch Neues darüber erfahren."
Die Sonne geht jetzt nachts nur noch ganz kurz unter. Ringsum erstreckt sich, alles beherrschend und in einer kaum fassbaren Weite: der hohe Norden. Wasser, Fels, Eis – die Arktis ist die große Leere, die Abwesenheit von fast allem anderen. Aber sofort kontert die Natur solche Überlegungen – mit einer Sensation.
Robben auf Reisen
Plötzlich kocht die vorher so glatte See an vielen Stellen. Hunderte und Aberhunderte glänzender schwarzer Köpfe, spitzer Schnauzen und hellgrauer Walzen brechen aus dem Wasser, gucken sich kurz neugierig um und verschwinden wieder.
"Ja, im Sommer kriegt man das öfter zu sehen, große Gruppen von Robben, die gemeinsam unterwegs sind zu neuen Jagdgründen. Im Augenblick sehen wir da draußen mehrere Hundert Ringelrobben vorbeiziehen, in Gruppen von 50 bis 100. Jetzt im Sommer fressen sie sich ordentlich Gewicht an, weil die Tage so lang sind und es so viel Nahrung gibt. Vogelschwärme ziehen mit ihnen und versuchen, auch was von dem vielen Fisch abzukriegen."
Die Wasserstreifen und -flecken, in denen es wuselt wie in einem Forellenteich bei der Fütterung, scheinen kein Ende zu nehmen. Die Natur begegnet der Lebensfeindlichkeit mit Masse und Überfluss, die "Straße der Säugetiere", Lancaster Sound, wird ihrem Namen gerecht.
Auf den Felsen von Prince Leopold Island hat der Ornithologe Jaques Sirois einst als wissenschaftlicher Mitarbeiter Vögel gezählt: Dreizehenmöwen, Gryllteisten, Eissturmvögel, Dickschnabellummen. Wie eine uneinnehmbare Burg ragen die steilen Wände fast 300 Meter aus dem Meer, eine aus Sedimentgestein geschichtete, trutzige Festung mit Abgründen, Kanten, Höhlen und Zinnen. Hunderttausende von Vögeln säumen jede Kante, jede Schräge im Fels, andere schießen durch das morgendliche Grau.
"Wir hören hauptsächlich Dreizehenmöwen, und das Dunkle im Hintergrund sind Dickschnabellummen. Die Möwen bauen ein Nest und mauern es mit ihrem Kot da oben fest, Lummen legen ein Ei und brüten es zwischen ihrem Bauch und ihren Füßen aus."
Auf dem schmalen, steinigen Strand ereignet sich gerade ein kleines Drama.
"Da ist ein Junges vom Fels gefallen, eine Dickschnabellumme, der Vater sollte eigentlich dabei sein. Aber die Möwen haben es schon gefunden und werden es wohl jetzt auffressen. Oh – gerade ist noch eines heruntergefallen, vom Fels ganz oben auf diesen schmalen Strand..."
In ein paar Tagen wird dies ein sehr gewöhnliches Bild sein. Ganz ohne Generalprobe, ohne jede Flugerfahrung müssen sich die Lummenküken irgendwann von ihrem Brutplatz hoch oben hinunterstürzen und ins Meer eintauchen. Wer zu kurz springt, wird Möwenfutter – der Tod der einen bedeutet das Überleben der anderen. Die es schaffen, werden von ihrem aufgeregten Vater eingeholt. Zusammen schwimmen sie hinüber nach Grönland, während vieler Wochen lernt das Junge, bis zu 200 Meter tief zu tauchen und zu fischen und wächst langsam heran.
Auf den Spuren von John Franklin
Der letzte Tag steht ganz im Zeichen der Geschichte. Ein eisiger Wind pfeift über den Geröllstrand von Beechey Island. Fünf Grabsteine ragen einsam empor, unter vier liegen Männer der letzten Expedition des John Franklin. In der kleinen Bucht hatte der Polarforscher 1845 seine beiden Schiffe für den ersten Winter einfrieren lassen, 128 Mann an Bord. Im Frühling darauf brachen sie auf – und verschwanden irgendwann spurlos. Noch immer umgibt diese Expedition ein großes Geheimnis, sagt Katie Murray.
"Wir wissen, dass sie das Schiff verlassen mussten. Wir nehmen an, dass sie da schon ziemlich an Bleivergiftung litten, was nicht nur den Körper schädigt, sondern auch geistige Verwirrung hervorruft. Ihre Ernährung war schlecht, einige hatten sicher Skorbut. Ob sie es geschafft haben, zu jagen, können wir nicht sagen. Jedenfalls waren sie miserabel ausgerüstet für die lange Wanderung hinüber zum Festland, die sie sich vorgenommen hatten."
Zahlreiche Suchexpeditionen versuchten in den Jahren danach, das Rätsel zu lösen. Franklin und seine Männer fanden sie nicht – aber sie entzifferten die Geographie des Nordens immer genauer. Ihnen, den Abenteurern, den Arktisforschern, gilt die ganze Bewunderung Katie Murrays. Und so beschließt sie diese große Reise mit einem Toast auf die Helden der Vergangenheit. Dass dabei von den Menschen, die dieses Land seit vier Jahrtausenden kannten und bewohnten, keine Rede ist, ist wirklich nur ein kleiner Schönheitsfehler.
"Ich trinke auf die Vorreiter, die Pfadfinder! Auf die Männer, die über die Jahrhunderte in den Norden kamen und die Karte der Arktis nach und nach füllten! Auf Franklin und seine 128 Männer! Auf die Forscher, die nach den Spuren seiner Expedition suchten! Und auf uns! Auf die Pfadfinder!"
Die Recherche zu diesem Beitrag wurde unterstützt von "Baffin Island Destination Canada".