Am Fuße der Anden in Santiago de Chile singt sonntags ein Chor unter einer 30 Meter hohen Kuppel aus geschwungenen Glas- und Marmorplatten. Dieses "Haus der Andacht" gehört den Bahai und erinnert an eine weiße Blüte. Ein kanadischer Architekt entwarf das Design, der Bau kostete etwa 30 Millionen Dollar und wurde 2016 fertiggestellt. Seitdem zieht der Tempel Tausende von Besuchern an.
"Der Tempel hier in Chile ist der Haupttempel für Südamerika. Es war der letzte, der uns noch gefehlt hat. Die Bahai-Tempel müssen gewisse Eigenschaften haben. Sie haben alle neun Eingänge. Die Neun symbolisiert die Perfektion. Sie repräsentiert die Vielfalt. Die Vielfalt von Nationen, Kulturen, Ethnien, Glaubensrichtungen. Egal, durch welche Tür man den Tempel betritt, wir werden uns alle in der Mitte treffen."
"Verschiedene Facetten der selben Wahrheit"
Francisco Amenabar ist seit beinahe 50 Jahren Bahai. Als 19-Jähriger erfuhr er auf einer Reise nach Spanien vom Bahaitum und identifizierte sich sofort mit dem Glauben. Auf seinen Reisen habe er gemerkt, dass die Welt nur ein einziges Land sei und die Menschen seine Bürger. Die Einheit der Menschheit ist eine der wichtigsten Lehren von Bahāʾullāh, dem Gründer der Religion, die vor rund 150 Jahren im Iran entstanden ist.
"Bahāʾullāh sagt, dass es nur einen Gott gibt, eine Menschheit und eine Religion. Er sagt, dass Gott absolut ist und Religion relativ. Sie kann sich ändern und an die Bedürfnisse und Fähigkeiten von Menschen anpassen. Bahāʾullāh lehrt uns, dass alle Religionen wie Islam, Christentum, Judentum, Buddhismus und Hinduismus in ihrem Ursprung göttlich sind. Sie unterscheiden sich nur in ihren Lehren. Aber sie haben das gleiche Grundprinzip und sind nur verschiedene Facetten der selben Wahrheit."
6.000 Bahai-Gläubige gibt es schätzungsweise in Chile, etwa eine Million in Lateinamerika, Tendenz steigend. Auch viele Zugehörige indigener Völker schließen sich dem Bahaitum an. Diego Irarrázaval ist katholischer Befreiungstheologe. Er lebte über 20 Jahre als politisch Verfolgter des Pinochet-Regimes in Peru beim Volk der Aymara. Dort lernte er auch Bahai kennen. Er meint, dass das Bahaitum den indigenen Glaubensformen ähnlich ist.
"Die Bahai respektieren Kultur, Musik und Tänze der indigenen Völker. Allerdings gehen sie nicht auf ihre Glaubenselemente ein - wie die Vorfahren, die Mutter Erde und die Geister."
Ein Radiosender für die Mapuche
Trotzdem haben die Bahai einen guten Draht zu den Indigenen in Chile, vor allem zu den Mapuche - durch den Radiosender "Radio Bahai". Diego Irarrázaval sagt:
"Das Radio sendet an Orten, wo es große indigene Bevölkerungsgruppen gibt. Dadurch verbreiten die Bahai nicht nur die kulturellen Ausdrucksformen dieser Völker, sondern für viele ist das Radio ein Kommunikationsmittel."
Alex Calfuqueo ist 38 Jahre alt und Radiomoderator bei Radio Bahai in Labranza im Süden Chiles. Er ist Mapuche und Bahai. Die Mapuche sind das größte indigene Volk Chiles und viele von ihnen leben im Süden des Landes in traditionellen Gemeinden. Radio Bahai ist der einzige Radiosender, der auf ihrer Sprache Mapudungun sendet und ihre traditionelle Musik spielt. In der Morgensendung ermutigt Calfuqueo die Hörer, mit Gott zu kommunizieren. Es sei eine spirituelle Tradition der Mapuche, zu Tagesbeginn ein Ritual abzuhalten oder zu beten.
"Die Religiosität der Mapuche und der Bahai-Glauben haben viel gemeinsam. Zum Beispiel die Nähe zu Gott, das Gespräch mit dem Schöpfer, die gegenseitige Hilfe"
Das größte Archiv von Mapuche-Musik
"Kultrun" heißt ein traditionelles Instrument der Mapuche, eine Trommel in Form einer Halbkugel, die die Erde und den Kosmos repräsentiert. Es wird in religiösen Zeremonien eingesetzt, wie zum Beispiel dem "Guillatun". Radio Bahai hat ein Musikzimmer mit mehreren traditionellen Instrumenten, in dem regelmäßig Musikgruppen spielen, die dann live im Radio übertragen werden. Auch religiöse Zeremonien der Mapuche werden gesendet.
Radio Bahai wurde 1986 gegründet. Alle Musikaufnahmen der vergangenen Jahre befinden sich hier auf Kassetten, CDs und Festplatten. Nirgendwo sonst gibt es ein so großes Archiv von Mapuche-Musik. Das Bahaitum gefällt Radiomoderator Calfuqueo, weil es die Kultur und die Spiritualität der Mapuche nicht ausschließt oder diskriminiert, sondern integriert.
"Vorher war ich evangelisch. Aber ich nahm trotzdem am Guillatun teil, an den Ritualen und Aktivitäten der Mapuche. Aber der Pastor sagte mir, dass das falsch sei. Damit war ich nicht einverstanden. Und dann habe ich vom Bahai-Glauben erfahren, der von der Einheit in Vielfalt spricht. Und das war, was ich gesucht hatte."
Ein Ziel des Radiosenders ist es, die positiven Werte der lokalen Kultur zu bestärken, wie die Sprache, die Gemeinschaftsarbeit und den Naturschutz. Calfuqueo arbeitet alleine im Radiosender als Moderator und Reporter, sechs Tage die Woche, 9 Stunden Sendezeit täglich. Früher gab es acht Mitarbeiter und mehr Sendezeit. Aber das Budget sei gekürzt worden und die Ausrichtung des Bahaitums habe sich gewandelt.
"Früher war das Ziel, die Botschaft zu vermitteln. Wenn das bedeutete, raus aufs Land zu fahren und genug Leute da waren, haben wir das gemacht. Aber danach veränderte sich die Ausrichtung und jetzt liegt der Schwerpunkt eher darauf, den Menschen einen Intensivkurs im Bahai-Glauben zu geben. Das soll zum Wohl der Gesellschaft beitragen."
Wachsende Religionsskepsis
José Painemilla ist ehemaliger katholischer Priester, Theologe und Mapuche. Sein Eindruck ist, dass das Bahaitum in den 80er-Jahren einen Boom in der Region der Mapuche erlebt hat, vor allem durch das Radio und die Öffnung des Bahai-Glaubens gegenüber ihrer Kultur. Aber mit den Jahren habe die Begeisterung immer mehr nachgelassen - allerdings nicht nur dem Bahaitum gegenüber, sondern allen Religionen. Das habe mit einem Prozess unter den Mapuche zu tun, sich auf ihre Identität und ihre eigenen kulturellen und spirituellen Ausdrucksformen zurückzubesinnen.
"Es gibt einige Mapuche, die keine Toleranz gegenüber den Religionen haben. Weil sie das Gefühl haben, dass die Religionen ihrer Kultur und ihrem Volk sehr großen Schaden zugefügt haben, und dass das Schwert gemeinsam mit dem Kreuz zu ihnen gekommen ist. Deshalb meinen sie, dass es eine Komplizenschaft zwischen dem Christentum - oder den Religionen generell - und dem Kolonialismus gibt."
Die Zukunft das Bahaitums in Chile und in Südamerika ist also offen. Die Bahai haben zwar eine besondere Beziehung zu den Mapuche und den indigenen Völkern aufgebaut, aber gegen die wachsende Religionsskepsis sind sie trotzdem nicht immun.