Jörg Münchenberg: Nicht nur beim Brenner-Streit spielt die Bahn eine zentrale Rolle, sondern auch in der Klimapolitik. Geht es etwa nach den Grünen, dann solle es schon bald keine innerdeutschen Flüge mehr geben, sondern die Reisenden sollen auf die Bahn umsteigen. Ohnehin, muss man sagen, geht der Trend schon in diese Richtung. Obwohl der staatseigene Konzern weiterhin mit Zugausfällen und Verspätungen zu kämpfen hat, steigt die Zahl der Fahrgäste kontinuierlich an. Heute hat die Bahn nun ihre Halbjahreszahlen vorgelegt.
Zugehört hat Urs Maier von der Berliner Denkfabrik Die Verkehrswende. Herr Maier, ich grüße Sie!
Urs Maier: Guten Tag, Herr Münchenberg!
Münchenberg: Herr Maier, immer mehr Menschen fahren Bahn, obwohl Züge ausfallen und die Verspätungen auch wieder zugenommen haben oder zumindest nicht besser werden. Wie passt das zusammen?
Maier: Die Bahn ist attraktiv für viele Menschen. Es gibt über die Sparpreise Möglichkeiten, wenn man im Voraus länger bucht, es auch günstig zu machen. Es ist bequem, man kann ein Buch lesen, für viele ist sicherlich auch der Umweltaspekt wichtig. Das alles im Vergleich dazu, dass die Straßen ja auch sehr voll sind und überlastet sind, denke ich, ist die Bahn auch im Fernverkehr so attraktiv, dass hier die Fahrgastzahlen deutlich steigen.
Aber man darf natürlich nicht die Defizite jetzt hier kleinreden. Es ist so, es ist sehr ärgerlich, es gibt viele Verspätungen, es gibt Zugausfälle, wo – das kennen dann vielleicht auch viele – die Reservierungen aufgehoben werden, man findet keinen Platz etc. Also es ist ganz klar, die Infrastruktur, das Rollmaterial ist überlastet, es gibt auch zu wenig Personal. Da muss dringend nachgelegt werden. Ein störungsfreier Bahnbetrieb sollte der Standard sein.
Viele Baustellen sind Folge von Versäumnissen
Münchenberg: Nun hat die Bahn ja auch drauf verwiesen, hat gesagt, es gab im Juni zum Beispiel auch eine starke Hitze, es gab heftige Regenfälle, es gibt die 800 Baustellen. Das haben wir eben ja auch im Bericht gehört. Deshalb diese vielen Zugausfälle oder auch Verspätungen. Sind das aus Ihrer Sicht plausible Gründe? Wenn man zum Beispiel mal in die Schweiz guckt, da läuft es ja trotzdem immer gut, auch wenn es zum Beispiel heftige Wetterkapriolen gibt.
Maier: Die Schweiz hat da eine ganz andere Verkehrspolitik als Deutschland. In der Schweiz wurde sehr früh gesagt, dass der Anteil des Schienenverkehrs deutlich höher sein soll, und der ist es dann auch. Ich habe jetzt die genauen Zahlen nicht im Kopf, aber ich glaube, es war etwa 40 Prozent. In Deutschland sind es im Güterverkehr nur 18, im Personenverkehr nur zehn Prozent Anteil. Also kurzum: das ist ein ganz anderer politischer Wille, der dort in der Schweiz besteht, und wenn die Bahn – wir haben ja eben Herrn Lutz gehört in dem Beitrag – jetzt viele Baustellen hat, weil sie Strecken repariert, ausbaut, dann ist das natürlich die Folge davon, dass es in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten zu wenig gab, was getan wurde.
Wie jetzt tatsächlich die Anfälligkeit gegenüber Wetterkapriolen ist, da kann man sicherlich auch vorsorgend viel machen, indem man – das hatten wir im vergangenen Jahr auch mit den Bäumen, die auf die Gleise gestürzt sind –, dass man das etwas weitgehender freischneidet. Also viele technische Lösungen sind denkbar, um da weniger anfällig zu sein. Insgesamt liegt das Problem darin, dass über viel zu viele Jahre zu wenig Geld investiert wurde in die Bahn und auch nicht für die richtigen Projekte.
Vorrang für die Schiene
Münchenberg: Das hat sich ja jetzt schon geändert, auch das klang ja eben an. Die Bahn investiert viel mehr, deswegen ja auch diese vielen Baustellen. Aber interessant ja auch, bei dieser Halbjahresbilanz, die Bahn hat mehr investiert, aber dann doch eigentlich wieder nicht so viel wie ursprünglich geplant. Wie geht das zusammen?
Maier: Na ja, letztlich ist der Bund hier in der Verantwortung. Die Deutsche Bahn kann dann – ist zwar ein Unternehmen und muss wirtschaften –, kann aber letztlich nur so viel investieren wie ja auch vom Staat, vom Bund gegeben wird, und das ist zu wenig, wenn man sich anschaut, wie die Verkehrsinfrastruktur, wie die Schiene ausgebaut werden soll. Man kann sich da angucken, dass es viele ganz wichtige Projekte für den Zustand des Schienenverkehrs im Bundesverkehrswegeplan gibt, bis 2030 gilt der.
Davon ist ein relativ großer Teil tatsächlich nicht finanziert. Insofern muss der Bund auch dafür sorgen, dass ausreichend Mittel in den Haushalten für den Schienenverkehr vorgesehen sind. Wenn Sie fragen, wo soll denn das Geld herkommen, es gibt beispielsweise mehr Einnahmen aus der Lkw-Maut als es Ausgaben gibt für den Straßenbau. Das sind so rund 2,2 Milliarden. Die dürfen aber heute nicht für den Schienenverkehr genutzt werden, weil das heißt, Straße finanziert Straße, und dieser sogenannte geschlossene Finanzierungskreislauf, der sollte aufgehoben werden, und es muss einfach mehr Vorrang für die Schiene geben.
Bahn bedeutet Klimaschutz
Münchenberg: Herr Maier, wenn man jetzt mal so in die nahe Zukunft schaut: Bahnchef Lutz hat ja jetzt auch schon gejubelt, hat gesagt, 150 Millionen Fahrgäste pro Jahr, das haben wir erreicht, und auch beim Klimaschutz soll die Bahn ja eine zentrale Rolle spielen, zum Beispiel, wenn es darum geht, Inlandsflüge hier zu kompensieren. Da ist ja schon jetzt die Frage, geht das denn überhaupt angesichts des Zustands der Bahn, dass immer mehr Menschen umsteigen und dann nicht doch irgendwann abgeschreckt werden?
Maier: Na ja, zunächst sollte man sich vor Augen führen, dass die Bahn natürlich mit jeder Tonne oder mit jeder Person, die transportiert wird, Klimaschutz bedeutet. Es sind irgendwie 75, 80 Prozent Verbesserung sowohl bei Emissionen als auch bei Stromverbrauch oder bei Energieverbrauch, und da hat die Bahn also einen deutlichen Klimaschutzvorteil.
Wir haben uns das angeguckt in einer Studie, die wir gemacht haben, Railmap 2030. Wenn, wie die Bundesregierung das vorhat, der Verkehr auf der Schiene sich bis 2030 verdoppelt, dann sind das Einsparungen von gut 14 Millionen Tonnen CO2, und insgesamt beträgt die Lücke etwa 50 Millionen. Also man würde mit der Schiene etwa 30 Prozent alleine dieser Klimaschutzlücke schließen können oder bewältigen können. Die Herausforderung, bis 2030, die Fahrgastzahlen zu verdoppeln, das ist laut unserer Studie möglich. Das ist eine enorme Anstrengung, aber es ist möglich, und es müssen jetzt auch die richtigen Schritte getan werden.
Schienenverkehr ist noch zu teuer
Münchenberg: Vielleicht noch mal einen Blick auf die Gütersparte, die kriselt ja seit Jahren. Warum bekommt die Bahn dieses Problem nicht in den Griff?
Maier: Man muss hier auch vielleicht noch mal unterscheiden. Die DB Cargo, die Deutsche Bahn hat im Güterverkehr tatsächlich Schwierigkeiten. Wer aber auch Marktanteile in großem Umfang gewinnt, sind die Wettbewerbsbahnen, also die privaten Güterbahnunternehmen. Die Deutsche Bahn, DB Cargo, hat auch den Auftrag, Einzelwagenverkehr zu machen. Das ist im Augenblick weniger rentabel. Also insgesamt ist der Schienengüterverkehr ein Verkehr, der enormes Potenzial hat, aber mangels einer guten Wettbewerbspolitik, die auch der Bund vorgibt, kann sie dieses Potenzial nicht ausschöpfen, und das betrifft auch DB Cargo.
Münchenberg: Aber ist denn der Transport auf der Straße am Ende nicht für die Speditionen auch oder für die Unternehmen viel attraktiver, auch weil günstiger?
Maier: Es ist tatsächlich natürlich ein ganz wichtiges Entscheidungskriterium, wie günstig ist es, die Güter über die Schiene transportieren zu lassen. Deswegen gibt es ja auch die sogenannte Trassenpreishalbierung seit Mitte 2018, also jetzt rückwirkend gibt es da eine Verringerung der Schienenmaut. Die Idee dahinter ist, dass mehr Geld bei den Schienenverkehrsunternehmen übrigbleibt, das sie dann in Investitionen stecken können und auch dass die Kunden weniger bezahlen müssen.
Wie das jetzt wird, das kann man noch nicht sagen genau, aber erste Anzeichen belegen oder geben den Hinweis darauf, dass es deutlich mehr Schienengüterverkehr auch gibt. Also es muss günstiger werden für die Kunden, aber es muss auch die Verlässlichkeit erhöht werden, wo wir wieder bei der Frage der Infrastruktur sind, die muss einfach ausgebaut werden.
Fertigstellung Brennertunnel ist "Trauerspiel"
Münchenberg: Stichwort Infrastruktur, ganz kurz noch: Der Brennerbasistunnel soll bis 2028 fertigsein. In Deutschland steht noch nicht mal die Anschlusstrasse fest. Ihrer Einschätzung nach, dieser Termin, ist der zu halten, 2028?
Maier: Den Termin kann ich jetzt nicht im Einzelnen einschätzen, aber es ist ganz offensichtlich ein eklatantes Versäumnis der hiesigen Verkehrspolitik. Also das ist ein absehbares Problem, was da jetzt offenliegt, ja, ein Trauerspiel.
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