Sina Fröhndrich: Mehr Geld oder lieber sechs Tage Urlaub oder eine Stunde pro Woche weniger arbeiten - was würden sie nehmen? Die 150.000 Mitarbeiter der Deutschen Bahn können wählen: 2,5 Prozent mehr Geld ab 2018, oder lieber sechs Tage Urlaub oben drauf. So sieht der Tarifabschluss aus, den die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft ausgehandelt hat.
Wie fortschrittlich ist diese Einigung? Ist sie übertragbar auf andere Branchen? Darüber habe ich mit Reinhard Bispinck gesprochen, Tarifexperte bei der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. Herr Bispinck, wie neu ist diese Idee eigentlich?
Reinhard Bispinck: In dieser Form ist das tarifpolitisch eine neue Idee, weil bislang gab es immer nur Vereinbarungen über Arbeitszeit, die dann für alle Beschäftigten galten. Diesmal ist es erstmalig so, dass eine Entgelterhöhung vereinbart wird, wo die Beschäftigten selber entscheiden können, ob sie das in Arbeitszeitverkürzung umsetzen, oder etwa in mehr Urlaubstage.
"Diese Wahlmöglichkeit, das ist tarifvertraglich in der Tat Neuland"
Fröhndrich: Aber es gab schon andere Branchen, die Metallbranche beispielsweise, wo man das auch schon diskutiert hat.
Bispinck: Ja. Aber bislang war es in der Regel immer so: Wenn die Wochenarbeitszeit verkürzt wurde, oder der Urlaub verlängert wurde per Tarifvertrag, dann galt das für alle Beschäftigten. Diese Wahlmöglichkeit, wie das umzusetzen ist, den Beschäftigten freizugeben, das ist tarifvertraglich in der Tat Neuland, was da betreten wird. Natürlich gibt es trotzdem auch in anderen Bereichen flexible tarifvertragliche Regelungen im Tarifvertrag, wie die Arbeitszeit verteilt werden kann, aber die Umwandlung von Lohnerhöhungen in Arbeitszeitverkürzung in der Form hatten wir bislang in den größeren Branchen zumindest nicht.
Fröhndrich: Jetzt schauen andere Arbeitnehmer vielleicht auf diesen Abschluss bei der Bahn und fragen sich, wäre vielleicht für mich ja auch ganz interessant. Ist denn diese Wahlmöglichkeit zwischen freien Tagen und mehr Gehalt übertragbar auf andere Branchen?
Bispinck: Ich glaube, da muss man schon sehr genau hinschauen. Vorbildcharakter in dem Sinne, dass dies jetzt alle anderen Branchen, Gewerkschaften und Tarifvertragsparteien nachmachen könnten oder sollten, kann man so sicherlich nicht sagen. Die EVG als Gewerkschaft hat ja ihre Mitglieder vorher sehr gründlich und genau befragt, wie ihre Präferenzen, wie ihre Wünsche sind, und ist zu dem Ergebnis gekommen, die Wünsche sind ganz unterschiedlich. Die reichen von reiner Entgelterhöhung bis zur Arbeitszeitverkürzung und ein Ergebnis ist dieses Wahlmodell. Das muss aber in anderen Branchen bei anderen Beschäftigtenstrukturen gar nicht unbedingt genauso sein.
Wir erleben zwar in vielen anderen Branchen auch eine Renaissance der Arbeitszeit-Diskussion, aber nicht unbedingt mit demselben Ergebnis zwangsläufig. Wir wissen ja, dass die IG Metall in der Metall- und Elektroindustrie im kommenden Jahr, Ende kommenden, Anfang übernächsten Jahres auch Arbeitszeitfragen in der Tarifrunde behandeln will. Sie werden auch Anfang nächsten Jahres eine umfangreiche Beschäftigtenbefragung machen zum Thema Arbeitszeit und werden sicherlich auch sehr genau hinschauen, wie denn die Wünsche der Beschäftigten sind, und ihre Tarifforderungen sicherlich auch danach ausrichten.
"Es gibt kein einheitliches Interesse an derselben Arbeitszeitpolitik"
Fröhndrich: Jetzt kann man ja sagen, mehr Geld oder mehr freie Tage, das ist eine schöne Wahlmöglichkeit. Aber gibt es vielleicht auch bestimmte Berufe, bei denen sich diese Frage gar nicht stellt, weil die Arbeitnehmer einfach froh sind, wenn sie tatsächlich mehr Geld bekommen?
Bispinck: Ja, das wird in vielen Bereichen tatsächlich so sein. Wir haben ja nach wie vor einen relativ großen Niedriglohnsektor, obwohl wir einen gesetzlichen Mindestlohn haben, und da wird es für viele Beschäftigte gar nicht großartig die Alternative sein, sondern sie wollen im Zweifel mehr Geld und vielleicht sogar auch mehr Arbeitszeit, um von ihren Teilzeitjobs auf etwas größere Jobs zu kommen. Von daher gibt es mit Sicherheit kein einheitliches Interesse aller Beschäftigten an derselben Arbeitszeitpolitik.
Fröhndrich: Wenn ich mich jetzt als Beschäftigter dafür entscheide, ich möchte tatsächlich weniger Geld und dafür aber mehr freie Tage haben, wie schwierig ist das vielleicht auch, das vor seinem Arbeitgeber dann durchzusetzen? Mache ich dann damit die Aussage oder treffe ich dann damit die Aussage, dass ich vielleicht nicht unbedingt Karriere machen will? Sehen Sie den Punkt?
Bispinck: Ja, das Problem besteht im Zweifel natürlich durchaus. Ich sehe aber noch ein anderes Problem. Wir haben in der Tat in vielen Betrieben sehr flexible Arbeitszeitregelungen, auch durch Tarifvertrag zugelassen. Wir beobachten aber, dass immer dann, wenn Beschäftigte selber ein persönliches Interesse an flexiblen Arbeitszeiten haben, etwa um Familie und Beruf miteinander in Einklang zu bringen, oder andere Dinge mehr, dass häufig der Arbeitgeber sagt, das geht aus betrieblichen Gründen aber nicht.
Und ich denke, neben dem, was jetzt die EVG geregelt hat, ist sicherlich auch ein ganz wichtiger Punkt, dass die Beschäftigten künftig bessere Möglichkeiten haben, ihre Arbeitszeit auch vorübergehend an ihren persönlichen Bedürfnissen auszurichten und dass ihre Rechte in diesem Punkt gestärkt werden, und das wäre ein weiterer Punkt, den die tarifliche Arbeitszeitpolitik verfolgen könnte.
Fröhndrich: Reinhard Bispinck war das im Gespräch mit dem Deutschlandfunk, Tarifexperte bei der Hans-Böckler-Stiftung.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.