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Balibar, Etienne: Sind wir Bürger Europas? Politische Integration, soziale Ausgrenzung und die Zukunft des Nationalen.

Der französische Philosoph Etienne Balibar, Jahrgang 1942, hat sich international einen Namen gemacht mit zahlreichen Büchern über Karl Marx und den Marxismus, zur Philosophie der Politik genauso wie zur Politik der Philosophie. Seit dem – wie er es nennt – "Geschichtsbruch" von 1989 befasst er sich mit den Widersprüchen des europäischen Einigungsprozesses. Auch in dem jetzt von der Hamburger Edition vorgelegten Aufsatzband "Sind wir Bürger Europas?" erkundet Balibar die Bedingungen einer europäischen Einigung, die seiner Ansicht nach nicht "von oben" dekretiert werden kann. Eine Rezension von Ulrich Rose:

Ulrich Rose | 21.07.2003
    Der französische Philosoph Etienne Balibar, Jahrgang 1942, hat sich international einen Namen gemacht mit zahlreichen Büchern über Karl Marx und den Marxismus, zur Philosophie der Politik genauso wie zur Politik der Philosophie. Seit dem – wie er es nennt – "Geschichtsbruch" von 1989 befasst er sich mit den Widersprüchen des europäischen Einigungsprozesses. Auch in dem jetzt von der Hamburger Edition vorgelegten Aufsatzband "Sind wir Bürger Europas?" erkundet Balibar die Bedingungen einer europäischen Einigung, die seiner Ansicht nach nicht "von oben" dekretiert werden kann. Eine Rezension von Ulrich Rose:

    Wo entsteht Europa? In Brüssel, dort, wo die EU-Kommission arbeitet? In Kopenhagen oder in Maastricht, wenn sich die europäischen Staatspräsidenten und Regierungschefs treffen? Oder wenn Politiker von historischen Augenblicken sprechen – das europäische Volk aber, der dêmos als die souveräne Gemeinschaft der Bürger allenfalls zugelassen ist als Zaungast hinter Absperrgittern?

    Europa entsteht weder in Brüssel noch in Maastricht oder Kopenhagen. Davon ist zumindest der französische Philosoph Étienne Balibar überzeugt. Niemand solle glauben, so seine These, dass Europa "von oben" gemacht wird:

    Es ist deshalb unrealistisch, sich die politische Einigung Europas nach dem gegenwärtig vorherrschenden 'vertikalen' Schema vorzustellen, auch wenn man dieses Modell durch erweiterte Konsultationsverfahren legitimiert. Sie kann nur im fortschreitenden Auftreten eines dêmos erfolgen, der sich auf europäischer Ebene seine Ausdrucksmöglichkeiten verschafft und sie, wenn nötig, mit der Brechstange durchsetzte. Die demokratische Reform oder Revolution in Europa steht noch aus.

    Europa – das ist das mit Abstand erfolgreichste politische Projekt der vergangenen Jahrzehnte. Stand Europa Jahrhunderte lang für blutige Schlachten und Zerstörung, so ist Europa heute ein Inbegriff für Frieden und Stabilität. Sehnsüchte knüpfen sich an diesen Raum, Visionen entzünden sich daran. Nichts hat dies nach 1989 eindrucksvoller belegt als das Bemühen der Staaten im Osten und Südosten, möglichst schnell Zutritt zu diesem EU-Europa zu bekommen.

    Auch Étienne Balibars kritische Anmerkungen unter der Überschrift "Sind wir Bürger Europas?" belegen dies. Der Band versammelt Texte, die der Pariser Philosophieprofessor in den vergangenen fünf, sechs Jahren verfasst hat. Sie kreisen um Fragen der europäischen Einigung, der politischen Integration und der Ausgrenzung und um das Thema Souveränität. Sie sind ein Zeugnis dafür, welche Hoffnungen, welche Träume dieses Europa auf der politischen Linken zu wecken vermag. -- Balibar feiert nicht die europäischen Fortschritte, sondern er schaut auf das, was fehlt. Balibar, dessen Denken sich auf den Spuren von Hegel, Marx und Luis Althusser bewegt, beklagt vor allem den Mangel an demokratischer Legitimation. Hier gilt immer noch, was scharfzüngige Zeitgenossen seit langem kritisieren: Ein Staat, der so wenig demokratisch verfasst wäre wie die Europäische Union, ein solcher Staat hätte keine Aussichten, in die EU aufgenommen zu werden.

    Mit dieser Kritik steht Balibar wahrlich nicht alleine. Doch er hält sich nicht damit auf zu klären, wie denn Kompetenzen und Zuständigkeiten verteilt sein müssten zwischen Brüsseler EU-Kommission, Straßburger Europaparlament und Ministerrat. Balibar geht die Sache entschiedener an. Er fragt, wie es bestellt ist mit der europäischen Öffentlichkeit, wie mit einem staatsbürgerlichen Bewusstsein:

    Gibt es also ein 'europäisches Volk', und sei es im Zustand des Werdens? Das ist alles andere als sicher. Und ohne ein europäisches Volk, ohne ein Volk neuen Typs, das noch seiner Definition harrt, gäbe es keine europäische Öffentlichkeit; es gäbe keinen europäischen Staat, der über die technokratische Fassade hinausgeht.

    Die "demokratische Revolution", von der Balibar spricht, müsse voran getrieben werden auf "Baustellen der Demokratie". Dort geht es um drei große Themen. Nämlich, erstens, um die Krise des Sozialstaats. Europa müsse eine umfassende soziale Bürgerschaft konstituieren, die ein "Recht auf Arbeit" umfasst. Zweitens müsse die fortbestehende Spaltung des Kontinents überwunden werden. Balibar wirbt für die "Integration aller Staaten und Völker des europäischen Raums in ein einheitliches Territorium der Bürgerschaft". Und drittens: Es müsse die "Entwicklung einer europäischen Apartheid im Umgang mit Einwanderung und Asylrecht" aufgehalten werden. Als Gegenentwurf zur sogenannten "Festung Europa" fordert Balibar, eine "Bürgerschaft in Europa", die offen ist für alle, auch für Zuwanderer.

    Aus der demokratischen Schwäche Europas schließen bürgerliche Kritiker, der Nationalstaat müsse verteidigt werden. Sie fürchten, ein Europa, das sich vom Nationalstaat verabschiede, werde sich auch verabschieden von der Demokratie. In diesen Chor stimmt Ètienne Balibar nicht ein. Er teilt, und zwar in aller Schärfe, die Analyse – die Schlüsse aber, die Balibar zieht, weisen genau in die umgekehrte Richtung. Nicht um die Verteidigung des Nationalstaates geht es Balibar, auch nicht in seiner französisch-linksrepublikanischen Spielart, sondern der Pariser Philosophieprofessor fordert "eine Ausweitung der Demokratie auf dem Weg der europäischen Einigung".

    Das Europa mit seinen "Baustellen der Demokratie", das Balibar entwirft, ist für ihn eine Art unmögliche Notwendigkeit. Doch bei aller Verve, mit der Balibar sich ins ungesicherte Terrain dieser Unmöglichkeit vorwagt, einer Verve, die Frankreichs Intellektuelle gerne pflegen – es wird wohl eine Unmöglichkeit bleiben. Und das nicht nur für Zyniker, die Brüssels vornehmste Aufgabe darin sehen, Milchqouten festzulegen und vorzuschreiben, was auf den Preisschildern von Lebensmitteln zu stehen hat.

    Auf seiner Suche nach Antworten auf die Frage, ob wir denn bereits Bürger Europas sind, hält sich Étienne Balibar fern vom Brüsseler Treibsand, in dessen bürokratischer Unerbittlichkeit schon so manche Kritik untergegangen ist. So liefert der Philosoph Balibar eine scharfe, radikale Analyse der europäischen Schwächen – doch ein politisches Programm, eine Agenda für Europa liefert Balibar ganz und gar nicht. Zu groß ist die Kluft zwischen dem realexistierende Europa und Étienne Blaibars Entwurf davon.

    Ulrich Rose über den Aufsatzband von Etienne Balibar mit dem Titel: Sind wir Bürger Europas? Politische Integration, soziale Ausgrenzung und die Zukunft des Nationalen. Verlegt wird das Buch von der Hamburger Edition, es zählt 289 Seiten und kostet 25 Euro.