Da schleicht sich einer einfach davon. Kein rauschendes Fest zum Ausstand ist Martin Schläpfers letzte Uraufführung für das Ballett am Rhein. Auch keine wütende Abrechnung. Sondern ein Ballett des Grübelns und Innehaltens - und damit diese Botschaft: Vielleicht wäre in diesen lauten Zeiten des schnellen Twitterns und Meinens, doch die alte Losung mal wieder nicht schlecht: Erst denken, dann reden und handeln.
Widerstand und Unterwerfung
Wenn die Musik von Dimitri Schostakowitschs Zweitem Cellokonzert einsetzt, stemmt eine Tänzerin ihren Kopf gegen den Oberkörper ihres Partners, als wollte sie sich tief in seine Brust hineinbohren. Es ist Yuko Kato. Schläpfers älteste Muse, die schon immer Ballett tanzte als wäre es Butoh, mit Lust an der feingliedrigen Verdrehung und dunklen Innerlichkeit. Sie erzählt mit ihrem gebeugten Kopf bereits alles über das Koordinatensystem dieser Choreografie: Mit einer Pose des Widerstands wie der Unterwerfung, des Trotzes wie der Trauer - dem Spannungsfeld also, in dem sich der von Stalin unterdrückte Komponist Schostakowitsch sein Leben lang bewegte.
Und schon ist man tief im Denk-Kosmos von Martin Schläpfer. Keiner lotet so begnadet die Semantik des Balletts aus wie er. Keiner fächert so klar die Bedeutungsvielfalt einer Bewegung auf. Später hüpfen die Tänzer auf den Hintern zu Marschmusik-Rhythmen - vulgär gesagt: als Arsch-Parade. Es gibt Männer, die wie Revuegirls auftreten. Hände, die wie Füße tanzen. Narren, die romantische Gesten parodieren und eine große Stille ausgerechnet in den Massenszenen, in denen alle 41 Tänzer auf der Bühne stehen. Eine verkehrte Welt.
Barfuß auf der Bühne
So zeigt Schläpfer noch einmal die Power seines fantastischen Ensembles, und seine Lieblings-Solisten geben in Kurzauftritten Visitenkarten ab mit ihren typischen Rollen als Hermaphrodit, Ballerina-Vamp, Flamenco-Macho und Drama-Queen. Kein großes, unvergessliches Werk ist diese Choreografie. Eher ein souveränes Loslassen von einem, der nichts mehr beweisen muss. Bei Schläpfer sind es die taffen Spitzenschuh-Diven, die seinen Tanz erotisieren. Martha Graham dagegen, die große Mutter des amerikanischen Modern Dance, schickte vor rund 90 Jahren ihr reines Frauenensemble barfuß auf die Bühne als die kraftvollsten Klageweiber der Tanzgeschichte.
Das Stück "Steps in the Street" von 1936: neun Tänzerinnen in bodenlangen schwarzen Kleidern erobern den Raum mit nur wenig Schrittmaterial, aber unaufhaltsamer Wucht. Jagdsprünge, wehrhaft spitze Ellbogen, Pathosgesten, die aber dank strengem Formalismus auch heute noch völlig in Ordnung gehen. Genauso Grahams Signaturstück "Lamentation" mit einer Tänzerin, deren Körper in einem fliederfarbenen, auch Arme und Kopf umfassenden Schlauchkleid gefangen ist. Das ist vor allem wegen des auffälligen Kostüms eine häufig zitierte Tanzikone. Schön, dass man es jetzt beim Ballett am Rhein mal wieder in einer originalgetreuen Version sehen kann.
Schmerzvoller Tanz der Frauen
Für seine Repertoirepflege, seinen Mut zur Tanzgeschichte wird Martin Schläpfer zu Recht geliebt. Auch, weil es ihm fast immer gelingt, zwischen den Stücken seiner Triple-Bill-Abende überraschende dramaturgische Verknüpfungen aufzuzeigen. Diesmal zwischen Graham und Jiri Kylian, dem Tschechen, der dem Nederlands Dans Theater zu Weltruhm verhalf. Auch sein "Forgotten Land" ist ein Tanz der Frauen, die ein uralter Schmerz heimsucht.
Die Düsseldorfer Symphoniker unter Leitung von Axel Kober spielen Benjamin Brittens Requiem, und da vibriert auch in den zärtlichen Momenten, in der neckischen Tänzelei immer das Ende mit, die Gefahr des Absturzes.
Wahnsinnig schnell ist diese Choreografie, als rase das Leben an den Tänzern des Ballett am Rhein vorbei. Melancholie und Tempo - kein Widerspruch bei Jiri Kylian, dem Hohepriester der Vergänglichkeit. Ihm überlässt Martin Schläpfer an seinem letzten Uraufführungs-Abend großzügig das gefühlvolle Abschiednehmen und die Sympathien der Zuschauer. Wer so viel für das zeitgenössische Ballett geleistet hat wie er, braucht kein Finale mit Furore.
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