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Ballhaus Naunynstraße in Berlin
"Gazes that matter" von Magda Korsinsky

Von Eberhard Spreng |
    Ganz am Anfang des kurzen Abends ist für Momente zu spüren, worum es gehen könnte: Murat Seven erscheint lautlos in einer Ecke der quadratischen Arenabühne und blickt auf die Zuschauer auf den Rängen. Der Akteur schaut das Publikum an, das Publikum schaut den Akteur an, ein "Nullabgleich" der Blicke, hier ist keiner keinem was schuldig, hier wertet keiner, hier ist pures bloßes Schauen.
    Aber leider wendet sich der Akteur dann an einzelne Zuschauer, mustert ihr Outfit, nickt zustimmend und murmelt ironisch "schön", und sofort ist diese unendlich banale Komplizenschaft mit dem Publikum hergestellt, diese verlegene Heiterkeit, die man aus jeder Aufführung kennt, die sich die direkte Kontaktaufnahme zwischen Bühne und Publikum leistet. Sie ist eine unspezifische summarische Stimmung ohne jeden Erkenntniswert und, einmal ins Werk gesetzt, aus dem Abend nicht mehr wegzubekommen.
    Dann erscheint Biliana Voutchkova, blickt ebenfalls im Saal herum und entdeckt das Rohr eines Gerüstes, sie klopft dagegen und freut sich über den metallischen Klang. Schließlich kommt auch der schwarze Ahmed Soura dazu und legt sich diagonal zwischen zwei der drei Bänke, die entlang der Längskanten des Spielfeldes aufgestellt sind. Er erschließt den Raum, indem er ihn quasi mit dem eigenen Körper vermisst. "Tanz" ist ihm dem Programmheft zufolge anvertraut, "Schauspiel" bzw. "Musik" seinen zuvor schon aufgetretenen Bühnenkollegen.
    Einige Szenen begleitet Biliana Voutchkova mit ihrer Violine und kurz auch spielen die Drei einige Tanz-Bewegungen durch, wobei ihre Blicke zu Leitkräften der Körper im Raum werden. Sie scheinen sich also durch den Raum zu schieben, Kraft ihres Blickes. Figurenbeziehungen entstehen dabei allerdings nicht. Nichts, was auch nur entfernt an die Konstellation aus Sartres Drei-Personen-Drama "Geschlossene Gesellschaft" erinnert, die das Programmheft zum gedanklichen Ausgangpunkt erklärt. Hier entsteht keine Hölle aus dem Blick des Anderen, aus einer Unerbittlichkeit, in der sich die eigenen verborgenen Lebenslügen offenbaren. Das Selbst ist hier also, entgegen Sartres berühmter Phänomenologie des Blickes, nicht in fremden Zuschreibungen gefangen. Im Gegenteil: Mit großer Autonomie entwickeln die Drei ihre Rituale aus Klang, ein paar hingeworfenen Worten und dem immer turbulenteren Tanz des in Burkina Faso geborenen Ahmed Soura. Dass er schließlich schweißüberströmt vor einem der vier Ränge steht, befördert beim Zuschauer keine Selbsterkenntnis in Bezug auf möglicherweise noch verbliebene Rassismus-Reste. Also hilft hier auch der Verweis auf den in Martinique geborenen Vorreiter der Entkolonisierung Frantz Fanons und dessen Reflexionen über Sartres Philosophie nicht weiter. Um den Zuschauer dazu zu bringen, sich den Charakter des eigenen Blickes bewusst zu machen, müsste man ihn mit klugen dramaturgischen und choreografischen Mitteln zwingen, sich selbst bei Voreingenommenheit, beim Vorurteil zu ertappen. Stattdessen ironisiert Murat Seven in einfachsten Klischees über interkulturelle Probleme des Miteinanders.
    "In deinem Wohnhaus zum Beispiel, da gibt es nicht umsonst Ruhezeiten: Von Zwölf bis Drei normalerweise, ab Zehn bis Sechs Uhr Morgens. Sonntags Ruhetag. Hat doch alles seinen Sinn oder nicht? Wenn jetzt einer aus der Reihe tanzt, dann gibt es Ärger, ist doch überall so."
    Dass das Sehen selbst kein unschuldiger Akt ist, dass es permanent von in der Regel völlig unbewussten kulturellen Prozessen gesteuert wird, ist ein Problem, mit dem sich vor allem abendländische Gesellschaften befassen sollten. Aber leider ist die Choreografin Magda Korsinsky vor dem Kern des Themas - Wie organisiere ich den Raum der Blickbeziehungen zwischen Zuschauern und Akteuren so, dass neue Erfahrungen möglich werden? - in ein Allerlei der Einfälle und Banalitäten ausgewichen.