Am 28. Januar 2023 taucht am Himmel über Westalaska ein kleiner, weißer Punkt auf. Er fliegt 18.000 Meter hoch, es ist ein Stratosphärenballon.
Einige Tage später zeigen Fotos eines Aufklärungsflugzeugs der US-Luftwaffe: Unter dem riesigen Ballon hängt eine Nutzlast, vermutlich eine Tonne schwer: Sie wird auf 30 bis 60 Meter Länge geschätzt und hat ausladende Solarzellen. So wie ein Spionagesatellit.
Der Ballon kreuzt den Bundesstaat Montana, wo etliche Nuklearwaffen stationiert sind, dann Wyoming, Nebraska, Kansas, Missouri, Tennessee. Erst als er bei South Carolina den Atlantik erreicht, greift die Luftwaffe ein. US-Präsident Biden gibt den Befehl, den Ballon abzuschießen.
Es ist ein chinesischer Ballon, und der Vorfall sorgt für einen heftigen Streit zwischen beiden Ländern. Die USA sind davon überzeugt, dass der Ballon der Spionage dient. Peking beharrt darauf, dieser habe nur Wetterdaten erfasst und sei vom Kurs abgekommen.
Seit diesem Vorfall, der für diplomatische Verstimmungen auf höchster Ebene sorgte und unter anderem dazu führte, dass US-Außenminister Blinken einen China-Besuch verschob, ist das öffentliche Interesse an den großen Flugobjekten wieder erwacht. Kann man Ballons tatsächlich sinnvoll einsetzen, zur Spionage oder in der Forschung, im Zeitalter von Flugzeugen, Satelliten und Hyperschallraketen?
Der Montgolfière hebt ab
1783 lassen Joseph und Michel Montgolfier ein Strohfeuer entzünden. Der heiße Rauch füllt eine Ballonhülle – und der Montgolfière hebt ab. Seine Erfinder schaffen damit das erste Gefährt, das Menschen in der Luft tragen kann. Die neue Technik gefällt nicht jedem: Der erste, mit leichtem Wasserstoffgas gefüllte Ballon wird im gleichen Jahr von einer verängstigten Menge mit Heugabeln zerstört.
Doch bald mausern sich die Ballons zum universellen Fluggerät, und fast von Anfang an werden sie auch für die militärische Aufklärung genutzt. Erst 130 Jahre später werden Ballons weitgehend durch das Motorflugzeug abgelöst, – verschwinden aber auch danach nicht völlig vom Himmel.
Vor allem im Auftrag der Wissenschaft und um Wetterdaten zu erheben, sind sie noch immer unterwegs. So spielten sie zum Beispiel bei der Erforschung des Ozonlochs eine wichtige Rolle. Und auch heute noch führt ihr Weg sie in die Stratosphäre, sie starten in Schweden, Kanada, der Antarktis oder von anderen Orten. Nach dem Abheben sind sie auf sich gestellt und dann Wochen oder Monate in der Luft, bis zu 45 Kilometer hoch.
Ballon-Produktion auf dem Dorf
In der Nähe von Toulouse im Südwesten Frankreichs liegt das Dörfchen Ayguesvives. Ein Bus hält hier nicht allzu oft am Tag. In einem Gewerbegebiet am Ortsrand liegt, versteckt hinter dem riesigen Gebäude eines Getränkeabfüllers, das Firmengelände von Hemeria Airship. Hier werden, hauptsächlich für die französische Raumfahrtbehörde CNES, die größten Ballons Europas hergestellt.
Eine Halle mit einem 200 Meter langen Tisch, beinahe so lang wie der Eiffelturm hoch. Bahnen eines weißen Kunststoffs werden hier miteinander verschweißt und mit verwobenen Fäden verstärkt.
An einer langen Schiene über dem Tisch hängt eine Nähmaschine, so groß wie ein Kühlschrank. In der Halle wird fast alles gefertigt, vom kleinen Fesselballon über offene Forschungsballons bis zu modernen Druckballons.
Hemeria-Ingenieur Alexandre Hulin hat ein Lieblingsprojekt: Es heißt ballon manœuvrant, kurz BalMan. Ein ineinander geschachtelter Doppelballon, der sich steuern lassen soll.
An steuerbaren Ballons hatte bereits die Google-Tochter Loon gearbeitet. Diese sollten dem Konzern neue Kunden erschließen. Die Idee: Mobilfunkantennen an schwebenden Ballons, die abgelegene Regionen mit schnellem Internet versorgen.
Doch letztlich beendet Google das Projekt 2021, die Ballons sind zu teuer. Vor allem aber gibt es Konkurrenz: Der Konzern SpaceX ist zu diesem Zeitpunkt dabei, eine Internetversorgung für entlegene Regionen aufzubauen: mit Tausenden tief fliegenden Satelliten.
Überwachung und Verteidigung als Geschäftsmodell
Hemeria Airship wittert nun ein anderes Geschäftsmodell: "Für die Überwachung, für die Sicherheit, für Umweltanwendungen oder zur Verteidigung, das kann Kommunikation sein oder das Aufnehmen von Luftbildern", sagt Hulin.
Die Idee erinnert an den Kalten Krieg, als Ballons noch ein wichtiges Mittel der Aufklärung waren – insbesondere für die US-Regierung.
Mit dem Sputnik gelingt der Sowjetunion 1957 der erste Start eines Satelliten in den Orbit. In den USA geht schon davor die Angst um, gegenüber den sowjetischen Interkontinentalraketen ins Hintertreffen zu geraten. Was genau wird vom politischen Widersacher wo entwickelt?
In mehreren Geheimoperationen soll die Sowjetunion auskundschaftet werden. Eines dieser Projekte hat den Codenamen Genetrix. „Ursprünglich war geplant, etwa 1500 Ballons in schneller Folge zu starten. Um eine Art Invasion des Luftraums der Sowjetunion durchzuführen und so viele Bilder wie möglich zu sammeln“, berichtet der Ballon-Experte Luis Pacheco.
Aus der Türkei, aus Schottland, Norwegen und auch aus Oberpfaffenhofen in Bayern starten im Rahmen von Genetrix Hunderte Stratosphärenballons. Doch wirklich erfolgreich ist das Aufklärungsprojekt nicht. Der Sowjetunion gelingt es, viele der Flugobjekte abzuschießen und die geheimen Kameras der Öffentlichkeit zu präsentieren. Projekt Genetrix wird bald eingestellt – und die aufkommende Ära der Satelliten macht Ballonflüge über dem Gebiet des politischen Widersachers überflüssig.
Braucht man Ballons, wenn man Satelliten hat?
Inzwischen sind die Ballons – trotz Satelliten – wieder für Sicherheitskräfte interessant. Denn sie sind viel billiger und einfacher herzustellen, und auch die Logistik ist viel simpler: Man braucht keine Startrampen und Trägerraketen.
„Auch können Ballons aufgrund ihrer langsameren Geschwindigkeit, einer bedingten Manövrierbarkeit und der räumlichen Nähe zum ausspionierten Objekt mehr Detailinformationen über bestimmte Regionen sammeln“, schreibt der Historiker und Spionage-Experte Florian Schimikowski. Satelliten seien hingegen an die Erdumlaufbahn gebunden und können nur kurze Momentaufnahmen bestimmter Gebiete erstellen.
So ist es nicht verwunderlich, dass zu den zahlungskräftigen Kunden von Hemeria Airship längst nicht mehr nur die Wissenschaft gehört. Es sind Militärs und Geheimdienste, aber auch Polizei und Grenzschutz, die an steuerbaren Ballons Interesse bekunden.
Das zeigt sich auch in den USA: Patente des eingestellten Loon-Projekts wurden von US-Rüstungsfirmen gekauft. Der Markt für niedrig- und hochfliegende Ballons und Luftschiffe entwickelt sich. Neben den USA und Frankreich unterhalten Indien, Japan oder China Ballonprogramme.
Auch Vincent Dubourg von der französischen Raumfahrtbehörde CNES sieht einen Trend: „Die Stratosphäre ist der Anfang des Weltraums. Sie liegt höher als die derzeitigen Luftkorridore. Diese obere Schicht der Atmosphäre bietet neue Perspektiven mit neuen Fluggeräten und Plattformen, die neue kommerzielle Dienste für Luftbilder oder die Telekommunikation liefern könnten. Sie werden also Dienste anbieten, die mit denen der Satelliten vergleichbar sind oder sie ergänzen.“
Auch die Europäische Union setzt auf den Ballon
Offiziell sollen diese Ballons nicht etwa unerlaubt andere Staaten überfliegen, sondern - im Gegenteil - die eigenen Grenzen überwachen. Im Sommer 2022 schrieb die EU-Kommission für die Entwicklung solcher autonom steuerbaren Luftschiffe ein gesamteuropäisches Entwicklungsprogramm aus, bezahlt mit 63 Millionen Euro aus dem europäischen Verteidigungshaushalt.
Und Deutschland? Der Geoinformationsdienst der Bundeswehr setzt nach eigenen Angaben Ballons ein, um Wetterdaten zu sammeln oder die Flugbahn ballistischer Geschosse zu berechnen. Ballons zu militärischen Zwecken gebe es nicht, sagt ein Sprecher. Die Bundeswehr könne einen fremden Ballon, sollte er eine Bedrohung darstellen, nach rechtlicher Freigabe abschießen. Ob ein Ballon eine militärische Bedrohung sei, entscheide die NATO.
Vom vermeintlichen chinesischen Spionageballon fühlten sich die USA offenbar tatsächlich bedroht – er wurde vom Himmel geholt und die Wrackteile umfassend untersucht. Ein vorab in Teilen veröffentlichter Bericht mehrerer US-Geheimdienste und des Verteidigungsministeriums kam Ende Juni 2023 zu dem Schluss: Der Ballon aus China war mit Technik ausgestattet, die in den USA frei erhältlich ist. Nachrichtendienstliche Informationen habe er während seines Überflugs nicht senden können.
Karl Urban, ahe, dpa