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Baltische Asylpolitik
Estlands einsames Flüchtlingslager

Die osteuropäischen EU-Mitgliedsstaaten halten wenig von verbindlichen Aufnahmequoten für Flüchtlinge. Ungarn poltert am lautesten, auch das Baltikum zeigt wenig Bereitschaft. In Estland gibt es ein einziges Flüchtlingslager. Fehlendes Engagement will man sich aber nicht vorwerfen lassen.

Von Albrecht Breitschuh |
    Irgendwo in der Mitte zwischen den beiden größten Städten Estlands, Tallinn und Tartu, liegt das Dörfchen Vao. Wer es mit dem Landleben nicht so hat, würde wohl eher abfällig von einem Kaff reden, aber immerhin idyllisch ist es hier - zumindest im Sommer: die Bäume rauschen, die Grillen zirpen, die Vögel singen und ab und zu fährt sogar ein Auto vorbei. Das Gutshaus von Vao ist fast fertig restauriert und dient künftig als Altersheim. Was aus der halb verfallenen Schnapsbrennerei nebenan werden soll, weiß noch niemand. Hochprozentiges ersteht man sowieso im Dorfladen, dessen Angebot über den allernötigsten Bedarf kaum hinausgeht. Der Dorfladen ist auch das Nachrichtenzentrum. Hier erfährt man auch, wie es die gut 300 Einwohner mit den Flüchtlingen halten, die seit zwei Jahren zur Erstaufnahme nach Vao kommen:
    "Ein paar Kontakte gibt es schon. Wir haben uns mit ihnen unterhalten, wie es ihnen geht. Einige können sogar schon etwas estnisch. Sie sind sehr höflich."
    Sagt die 16 Jahre alte Aive, eine der wenigen, die nicht sofort abwinken, wenn sie ein Mikrofon sehen. Andere reden erst, wenn es abgeschaltet ist und erzählen fast schon konspirativ Geschichten, die sie so gehört hätten: dass sich einige Flüchtlingsfrauen prostituieren, erfährt man ebenso wie die Geschichte mit der Vergewaltigung einer Dorfbewohnerin, die sogar in der Zeitung stand. Aber die sei definitiv falsch. Stand ebenfalls später in der Zeitung. Man komme eigentlich ganz gut miteinander aus, sagt eine junge Mutter, die mit ihrem Kind nebenan auf dem Spielplatz ist:
    "Ich habe keine Probleme mit denen. Naja, es sind ein bisschen viele. Eigene Leute sieht man kaum mehr, eher die Asylbewerber."
    85 sollen es sein, die meisten kommen aus dem Sudan. "Wir können nur arabisch", sagt einer von ihnen in gebrochenem Englisch. Keine weiteren Kommentare. Vao ist die einzige Flüchtlingssammelunterkunft Estlands, hier werden übers Jahr gesehen insgesamt 200 Asylbewerber erwartet. Das ist selbst für ein kleines Land mit etwas mehr als einer Million Einwohnern wenig. Dass sich aber Estland vor seiner Verantwortung drücke, könne man auch nicht sagen, erklärt Uku Särekanno, Berater der Staatskanzlei in Flüchtlingsfragen:
    "Ich weiß, nach europäischen Maßstäben ist das eine total unbedeutende Zahl. Für uns heißt das aber einen Zuwachs von 50 Prozent. Außerdem haben wir hier eine weitaus größere Menge an Ukrainern, die kein Asyl beantragen, aber trotzdem bleiben wollen. Die tatsächliche Zahl an Einwandern ist deutlich höher als es die offiziellen zeigen."
    Bisher wenig erfolgreiche Integrationsleistung
    Zu den Tausenden Ukrainern im Lande kommt noch die russische Minderheit, die in manchen Regionen Estlands eher die Mehrheit ist. Beide Bevölkerungsgruppen leben seit der Unabhängigkeit des baltischen Staates eher neben- als miteinander. Auf erfolgreiche Integrationsleistungen kann das Land jedenfalls nicht zurückschauen. Aber selbst wenn Estland mehr Flüchtlinge aus dem afrikanischen oder arabischen Raum aufnehmen wollte, die Betroffenen würden kaum hierher wollen. Denn über Unterkunft und Verpflegung hinaus sind Sozialleistungen praktisch inexistent, sagt Uku Särekanno:
    "Bei uns in Estland leben 300.000 Menschen in vergleichsweiser Armut. Und unter diesen Bedingungen wäre der öffentliche Ärger ziemlich groß, wenn die Regierung Flüchtlinge besser behandeln würde als ihre eigenen Bürger."
    Immerhin hat Estland sogar eine Flüchtlingshilfe. Die wird von Eero Janson betreut, der zur Zeit mit ein paar Freiwilligen Familien aus Syrien, Afghanistan und dem Sudan bei der Wohnungssuche hilft und Sprachkurse organisiert, damit vor allem die Kinder möglichst schnell am Schulunterricht teilnehmen können. Diese Familien, so Janson, seien vor allem deshalb geblieben, weil sie in anderen EU-Ländern keine Kontakte haben:
    "Die sind einfach hier, weil wir das erste Land waren, das ihnen Schutz geboten hat. Für die meisten ist Estland aber nur ein Transitland. Die haben Familienmitglieder und Bekannte irgendwo in Europa und wollen auch in Länder, in denen es höhere Sozialleistungen gibt. Das ist auch verständlich."
    Estlands Asylpolitik habe sich in den letzten beiden Jahren entwickelt und sei besser geworden, sagt Janson. Asylbewerber bekommen jetzt schneller Wohnraum oder Sprachkurse, auch die Erstunterkunft in Vao sei ein Fortschritt. Anderseits kündigte die Regierung jetzt an, künftig kein Geld mehr für die Rechtshilfe bei Asylverfahren zu bezahlen. Wie sich unter diesen Bedingungen Estland bei einer gerechteren Verteilung der Flüchtlinge beteiligen will, fragt sich Janson:
    "Ich finde auch, dass die EU angesichts der Flüchtlingskrise solidarischer sein müsste. Aber was würde das für Estland bedeuten? Eine Kommission würde uns Quoten vorschreiben, die wir nicht erfüllen könnten. So wie unser System zur Zeit ist, wäre das nicht zu leisten. Trotzdem glaube ich, dass wir offener und solidarischer mit anderen EU-Ländern sein sollten."