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Balzac und die kleine chinesische Schneiderin

China 1971. Seit vier Jahren wütet Maos Kulturrevolution. Die Universitäten sind geschlossen, die jungen Intellektuellen werden zur "Umerziehung" aufs Land geschickt. Für Luo und seinen Freund, den Ich-Erzähler des Romans "Balzac und die kleine chinesische Schneiderin", hat es nicht mal bis zum Abitur gereicht. Als sie als "Intellektuelle" in die Berge Sichuans geschickt werden, haben sie gerade drei Oberschuljahre absolviert.

Carine Debrabandère |
    Grund für die Verbannung sind ihre "reaktionären" Eltern. Luos Vater zum Beispiel, ein berühmter Zahnarzt, hat zwar die Zähne des großen Vorsitzenden in Ordnung gebracht. Leider aber auch die vom Kontrahenten Chiang Kai-shek repariert. Ein Verrat an der Volksrepublik. Wie die Protagonisten seines in großen Zügen autobiographischen Romans wurde auch der chinesische Autor Dai Sijie als Jugendlicher aufs Land geschickt, um von revolutionären Bauern den Kommunismus zu lernen:

    Die Kulturrevolution hat zehn Jahre gedauert. In der ersten Zeit - Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre - war es besonders hart. Vor allem für Leute wie meine Eltern, die als " Volksfeinde " abgestempelt wurden. Bekannte, Nachbarn haben uns denunziert. Wir wurden ständig belauscht. 1971 hat dann meine "Umerziehung" begonnen, sie hat drei einhalb Jahre gedauert. Ich wurde in die Berge geschickt, Berge, die weit weg von allem waren, in Sichuan. Da lebten angeblich richtige Kommunisten. Ich und andere Volksfeinde sollten von den armen Bauern etwas lernen. Aber diese engagierten, tapferen Revolutionäre waren Analphabeten! Und auf einmal sollten sie unterrichten. Es war eine absurde Situation.

    In Dai Sijies Roman leben die zwei jungen Volksfeinde auf einem Berg mit dem trügerischen poetischen Namen "Phönix-des-Himmels". Ihr Alltag wird von der Arbeit im Bergwerk und in den Reisfeldern bestimmt. Wie Lasttiere tragen sie Kupfer und andere Mineralien aus der Grube heraus. Mit Bambuskörben schleppen sie Exkremente aus dem Schacht zu den Feldern hinunter.

    Trotz schmerzlicher Erinnerungen an die Kulturrevolution ist Balzac und die kleine chinesische Schneiderin ein humorvolles Buch. Die Ankunft der zwei Jugendlichen beim Laoban, dem Dorfvorsteher, gibt gleich zu Anfang den witzigen Ton des Romans an:

    Luo und sein Freund haben aus der Stadt eine Geige mitgenommen, ein unbekanntes Objekt für den Laoban, der sie gleich als "typisches bourgeoises Spielzeug" abstempelt. Um das Instrument vor dem Feuer zu retten, erzählt Luo von einer Sonate des Genossen Mozart, die der Dorfälteste gleich genießen wird. Eine Sonate - erklärt Luo weiter - ist dazu da, um zu zeigen, wie der Genosse Musiker mit seinen Gedanken immer beim Großen Vorsitzenden Mao ist. Klarer Sieg für die westliche Musik, die zu der Zeit in China verboten ist.

    Die Selbstironie begleitet auch den Eintritt der Literatur ins Leben der zwei Freunde, die bis dahin etwas Pech mit Büchern hatten. "Als sie endlich fließend lesen gelernt hatten" - schreibt Dai Sijie- "gab es bereits nichts mehr zu lesen". Nach einem dubiosen Handel und einem regelrechten Diebstahl kommen die Protagonisten jedoch in Besitz eines Koffers, der mit Werken von Balzac und anderen westlichen Autoren gefüllt ist. Von nun an kommen sie vom "Alten Go" (wie "Vater Goriot" auf chinesisch heißt) nicht mehr los. Dank Balzac lernen sie auch die bezaubernde Schneiderin aus dem Nachbardorf kennen, in die sich beide prompt verlieben.

    In Erinnerung an "die schönsten Augen des Bezirks Yong Jing" und als Hommage an den magischen Koffer hat Dai Sijie seine Geschichte auf französisch geschrieben:

    Bevor ich anfing, einen Roman zu schreiben, habe ich nur für das Kino gearbeitet. Ich fand es gut, Drehbücher in einer Fremdsprache zu schreiben, weil man beim Schreiben ein bisschen mehr Zeit hat, in Wörterbüchern nach dem richtigen Ausdruck zu suchen. Es ist praktischer, als zu sprechen. Aber einen Roman schreiben! Nein, das nie! Das habe ich mich lange Zeit nicht getraut. Französisch kam mir so weit weg vor, das westliche Denken so wie so! All die Unterschiede zu überwinden schien mir nur im Kino möglich, aber nicht in der Literatur. Mit der Zeit ist in mir allerdings das Bedürfnis gewachsen, genau zu beschreiben, wie ich zu den Worten kam. Wie ich im Roman geschrieben habe, verspürte ich mein erstes Glücksgefühl beim Lesen von Büchern. Und nun, bei dem bloßen Gedanken, dass auch ich ein Buch geschrieben habe, bekomme ich weiche Knie!

    Dai Sijies Liebe zum Kino durchläuft auch seinen ersten Roman. Luo hat nämlich eine Begabung: Er kann Geschichten erzählen. Also schickt der Laoban ihn und seinen Freund zum Freiluftkino in die nächste Kreisstadt. Zwei Tage Fußmarsch hin, zwei Tage zurück, um den Dorfbewohnern Propagandafilme voller charmanter Revolutionäre und süßer Blumenmädchen nachzuerzählen. Die Erzählform kann frei gewählt werden, aber nicht das Format: Das Kinonacherzählen muss eins zu eins der Dauer der Filmvorführung entsprechen. Sonst werden die Cineasten nicht von der Arbeit in der Grube befreit.

    Vor ein paar Monaten ist Dai Sijie den Dorfbewohnern am Berg "Phönix-des-Himmels" wieder begegnet. Nach dem großen Erfolg seines Romans wollte er seine Geschichte in China verfilmen.

    Ich bin zu dem Ort zurückgekehrt, an dem ich "umerzogen" wurde. Vieles hat sich geändert. Aber das kleine Bergwerk, das im Roman vorkommt, ist immer noch da. Und die Arbeitsbedingungen sind immer noch sehr hart. Viele Männer sind in die Stadt gezogen, um Geld zu verdienen. Die meisten Frauen sind deshalb einsam auf dem Berg zurückgeblieben. Sie sind zwar viel besser angezogen als damals. Sie verfügen über Strom. Aber die Arbeitsbedingungen sind einfach unmenschlich.

    Ich konnte es eigentlich nie richtig fassen, dass ich in der Volksrepublik filmen darf. Ich habe ein ganzes Jahr gebraucht, um die Dreherlaubnis für die Verfilmung meines Romans zu bekommen. Der Film wird leider nie in den chinesischen Kinos laufen. Dafür gibt es keine Genehmigung.

    Die kleine chinesische Schneiderin hat Dai Sijie in Sichuan nicht mehr gesehen. Denn im Leben wie im Roman hat nicht Maos sondern Balzacs Umerziehung wie ein Wunder gewirkt. Das linkische Bauernmädchen hat sich zur Stadtfee entpuppt, und ist fortgegangen.

    Ihre Emanzipationsgeschichte erzählt Dai Sijies Roman, ebenso wie die proletarischen Lehrjahre eines späteren Künstlers, der die Literatur als Stunde Null der Empfindsamkeit erfährt. "Balzac und die kleine chinesische Schneiderin" macht Mut. Denn der Roman flüstert dem Leser ein, dass irgendein magischer Lederkoffer immer zu finden sein wird, um der Tragik und Verzweiflung zu trotzen.