Wer in den Sundabarn will, der muss sich als Erstes durch den Großstadtdschungel schlagen.
Ankunft in Dhaka, der Hauptstadt Bangladeschs, 13 Millionen Einwohner, rund 12 Stunden Flug, klimatisiert und ruhig - jetzt 32 Grad, tropisch feucht und abgasschwer die Luft. Lärm. Busse, PKW, Motorräder, Rikschas, Tuktuks, Radfahrer - die Hauptstraßen sind dreispurig, werden aber locker auf sechs Spuren erweitert. Das geht nicht ohne Reibungsverluste, kaum ein Auto ist ohne Lackkratzer. Öffentliche bunt bemalte Busse mit Beulen, zerborstenen Scheiben und verbogenen Stoßstangen sehen aus wie tolldreiste Kisten auf profillosen Rädern.
Unser Kleinbus gehört einer Reiseagentur, europäischer Standard, keine Beule, der Fahrer hupt ständig. Wer in Bangladesch reisen möchte, sollte sich einem Reiseanbieter anvertrauen, mit einheimischen Fahrern und Führern. Denn es gibt kaum Verkehrsschilder und die wenigsten Europäer kennen das Wort "Hafen" in Bangla. Der ist 40 Kilometer vom Flughafen entfernt, im Schritttempo geht’s vorwärts.
Ankunft am Hafen
Am Straßenrand Geschäfte. Blinkende Shoppingmalls neben kleinen Krämerläden mit lebenden Hühnern in Bambuskäfigen, glitzernde Autostores mit Volkswagen, Mercedes und Toyota hinter den dicken Glasscheiben, eingerahmt von Läden mit Gewürzen, Blättern und Früchten farbenfroh und unbekannt. Auf schmalen Fußgängerwegen Frauen in modischen Jeans neben Sari tragenden Schönheiten, Männer in Anzügen oder mit landestypischem Tuch, dem Dhoti, um die Hüften. Drei Stunden und 40 Kilometer später, der Hafen ist erreicht.
Die sumpfigen Sundabarns bereist man nur mit dem Schiff. Mit dem Luxus einer Kreuzfahrt hat das allerdings nichts gemein. Die rund 25 Meter langen zweistöckigen Touristenboote sind schlicht, kleine Ein- bis Vierbett-Kabinen für maximal 20 Reisende, Betten aus Holz, darauf eine Matratze, ein dünnes Laken, Moskitonetz, Spiegel, Regalbrett, Lämpchen. Keine Klimaanlage, dafür aber Schiebefenster, die den Blick auf die rostigen Riesentanker im Hafenbecken freigeben. Von wilder Natur keine Spur. Kommt aber, verspricht der Reiseführer, Fritz Jantschke. Er malt aus, was die Reisenden erwartet.
"Eine Landschaft, wie wir sie uns in Europa nicht vorstellen können. Riesige Sümpfe mit 10.000 Quadratkilometer, fast so groß wie Schleswig-Holstein, aber nicht einfache Sumpffläche, sondern Mangrovensümpfe, Wälder mit Bäumen von 20 Metern und mehr Höhe. Und natürlich hoffen wir, die Tiger zu sehen, denn diese Sümpfe sind die Heimat der größten Population an Tigern weltweit, es gibt mindesten 300 in diesem gesamten Bereich und die sind dazu noch berüchtigt, denn es gibt einige darunter einige maneater, also Menschenfresser, die Jagd auf Menschen machen."
Büffel zwischen Wellblechdächern und Moscheen
Das Boot setzt sich auf dem Meghna in Bewegung, Kurs Süden, 270 Kilometer bis zu dem Sundabarn. An den Ufern verlieren sich langsam die Spuren der Großstadt - Äcker prägen die Landschaft, Reisfelder, Papayaanpflanzungen, Bananenplantagen, Kürbisfelder - immer wieder Bauern mit Büffeln und Holzpflügen, ab und an Siedlungen, eckige Holzhäuser mit rostigen Wellblechdächern, dazwischen ragen trutzig und erhaben zugleich Moscheen samt Türmen hervor, Kuppeln aus weißem Stein mit roten und blauen Sternen.
Bis zum Abend wächst der Strom auf mehrere Kilometer Breite, auf dem braunen Wasser grüne Inseln aus Wasserhyazinthen mit blaulila Blüten, dazwischen schmale Fischerboote. Die Sonne tritt in dunkelorange mit spektakulärer Spiegelung schnell ab. Zeit für den Kapitän das Schiff zu stoppen.
Geankert wird in Sichtweite einer Siedlung. Die Nacht ist silbrig hell, der Halbmond spiegelt sich im Wasser, die Strömung drückt die Wasserhyazinthen geräuschvoll gegen das Boot, die Luft ist weich und süßlich. Es kühlt ab auf angenehme 20 Grad. Mücken gibt es keine. Die ganze Nacht sind Fischer mit ihren kleinen Motorbooten unterwegs.
Kaum denkt man an den ersten Sonnenstrahl, da weckt uns und das Dorf der Muezzin mit seinem Morgengebet.
Ankunft in den Sundabarns
Weiter geht’s Richtung Süden, hässliche Malaienstörche mit geierähnlichen Köpfen und elegante weiße Seidenreiher staksen am Ufer, blaue Eisvögel stürzen senkrecht ins Wasser, mit aufgerissenem Maul ein kakifarbenes Leistenkrokodil, ab und an glänzt hellgrau der Rücken eines springenden Ganghes-Delfins in der Sonne.
Die Felder werden weniger, der Meghna fasert im Mündungsdelta aus, die Bucht von Bengalen ist in der Nähe. Die Sundabarns sind erreicht.
Ein erster Ausflug in einem kleinen Beiboot. Ein Matrose stakt uns durch einen der zahlreichen, schmalen Seitenarme, schlammdunkle Ufer, deren Höhe je nach Gezeitenstand variiert. Fritz Jantschke lenkt die Blicke.
"Schöne Winkerkrabbe sieht man da, schöne rote Scheren … Ooh, Eisvogel, genau jetzt hier, auf ein Uhr, da drin … Ah ja, jetzt hochgeflogen, das ist unser Eisvogel."
Die Vegetation ist so üppig, die Blätter und Luftwurzeln so dicht, dass sie wie eine grüne Wand einen Blick ins Hinterland versperrt. Gut möglich, dass dort irgendwo ein Tiger steht und mit seinen großen bernsteinfarbenen Augen in unsere Richtung späht.
Am nächsten Tag geht es auf eine kleine Insel in der Bucht von Bengalen.
Wildschweine und Hirsche - wo ist der Tiger?
Hohe Bäume, eine angenehme Meerbrise, beigefarbene Gräser wiegen sich im Wind. – Zwei uniformierte Ranger begleiten den Ausflug, bewaffnet mit Karabinern. Plötzlich ein dunkler Schatten zwischen den Halmen.
Fritz Jantschke: "Also da muss man nicht lange überlegen, eine gedrungene Figur, fast schwarz, das kann nur Wildschwein sein."
Und gleich daneben, ein rehbrauner Rücken.
Fritz Jantschke: "Das ist ein weiblicher Axishirsch, das ist die häufigste Hirschart im indischen Subkontinent und hier die wichtigste Beutetierart des Tigers."
Und wo bitteschön steckt der nun, der Tiger? Überraschung! Er war schon da!
Fritz Jantschke: "Das sind Spuren von jungen Tigern. Also die Tiger sind generell Einzelgänger, aber die Jungen bleiben über ein Jahr bei der Mutter und in dieser Größe, ist das ein junges. Also die Mutter muss irgendwo in der Nähe durchgelaufen sein."
Ein knapper Meter neben den kleinen Tigerspuren, tatsächlich: große Tatzen.
Versteckt im hohen Gras
Fritz Jantschke: "Die sind schön, die ist noch ganz frisch. Aus dem Licht bitte. Also das sieht fast so aus, als wenn das in den vergangenen zwei bis drei Stunden gewesen wäre, also eine richtig frische Spur, also noch keine Windverwehungen, ganz frisch würde ich sagen, vor zwei drei Stunden durchgekommen, das ist wohl die Mutter von dem jungen, den wir vorher gesehen haben."
Und jetzt? Jetzt dürfte die Tigerfamilie irgendwo im hohen Gras dösen, verdeckt von den dichten Halmen.
Gut sichtbar dagegen die Bülbülls - drosselgroße Vögel in schwarz-weiß-rot mit kecker Kopffeder, die sich zu Hunderten in einer ausladenden Phönixpalme versammeln.
Neuer Tag, neuer Versuch: Diesmal geht es mitten durch den Mangrovenwald. Vor ein paar Stunden stand dort das Wasser noch einen halben Meter hoch.
Tiger sind nicht wasserscheu und besonders diese Gegend war Schauplatz einer spektakulären Tigerdokumentation vor ein paar Jahren. Also waten alle aufmerksam durch den knöcheltiefen Matsch. Aber: no tiger - keine Szene so wie in dem Film, den alle am Abend an Bord gesehen haben und der so viel Vorfreude weckte.
Besuch in einem Dorf
Fritz Jantschke: "Die haben ganz sicher andere Methoden angewendet, die haben hier Verstecke gebaut und bis zu einem Monat oder länger in dem Versteck gewartet und sie haben nachgeholfen, sie haben Köder ausgesetzt oder ausgelegt, sie haben Rinder umgebracht und hingelegt an eine Stelle an der sie gut filmen konnten und haben auf diese Weise die Tiger so vor die Kamera gelockt."
Das macht man für Touristen allerdings nicht.
Am Nachmittag Besuch in einem Dorf, Keschura, mitten in den Sümpfen, aber auf einer kleinen Anhöhe, also trocken.
Die Häuser sind aus armdicken Baumstämmen gebaut, die Wände aus geflochtenen Palmenblättern. Die Grundstücke sind mit Hecken umrandet, die Böden sauber gefegt - wer ein Haus von innen sehen möchte, ist herzlich willkommen. Ein oder zwei kleine Räume sind zu sehen, Betten aus geflochtenen Gräsern, vorspringende Ästchen an den Baumstämmen dienen als Kleiderhaken, keine Tische oder Stühle, man sitzt oder hockt auf dem Boden, der Lotussitz ist für sie eine leichte Übung. Die Menschen leben dort überwiegend vom Fischfang. Und sie leben in stetiger Angst vor Tigern, jedes Jahr dringt einer in das Dorf ein, holt sich das eine oder andere Haustier, aber auch Menschen starben durch Angriffe. Ein Mann überlebte:
"Wir waren sechs Leute, wir wollten fischen. Meine Kollegen sind ins Wasser und haben die Netze gesetzt, ich blieb beim Boot und hielt es fest. Plötzlich war da der Tiger, er kam von hinten und sprang auf mich, er biss mich und versuchte, mich wegzutragen. Die fünf anderen sind gekommen, mit den Holzpfählen und haben auf ihn eingeschlagen, er hat dann losgelassen. Hier meine Narben am Hals und hier im Gesicht, da siehst Du die Spuren seiner Krallen."
Der Angriff liegt einige Jahre zurück, aber noch immer begleiten ihn Schmerzen, den Kopf kann er nicht mehr gut drehen.
Gefährliche Angriffe
In Bangladesch sterben jährlich rund 150 Menschen durch Tiger. Manche Fischer versuchen, sich durch Masken, die aussehen wie Gesichter, zu schützen. Sie binden sie sich auf den Hinterkopf.
Fritz Jantschke: "Weil man sagt, der Tiger greift nur von hinten an. Und so wussten sich nicht mehr, wo vorn und wo hinten ist und haben die nicht angegriffen. Es ist auch kein Todesfall bekannt von einem Fischer, der so eine Maske getragen hat. Und ansonsten sind die sehr vorsichtig, wenn sie in den Wald gehen, wer nicht vorsichtig ist, der riskiert sein Leben."
Aber nicht jeder Tiger macht Jagd auf Menschen.
Wir gehen weiter auf einem Trampelpfad durch den Wald und plötzlich wird es spannend, sehr spannend.
Alarmrufe von Axishirschen, sie warnen vor einem Tiger und sind ganz in unserer Nähe. Wir sehen nichts, weder Axishirsche noch Tiger, die Vegetation ist viel zu dicht. Auf einmal liegt "tiger-drop", also Tiger-Kot, auf unserem Trampelpfad, ein grauschwarz glänzender Köddel. Emil Mahabub, der einheimische Naturführer hat tief gebeugt den Köddel intensiv studiert..
Emit Mahabub: “I assume - not very old, early in the morning or last night.”
Für die Ranger zum ersten Mal Anlass, die Gewehre durchzuladen und mächtig Krach zu machen.
Die Tigerimitationen sollen nicht anlocken, sondern abschrecken. Wenn ein Tiger in der Nähe war, jetzt hat er bestimmt die Flucht ergriffen. Manch einer der Touristen seufzt, Enttäuschung oder Erleichterung?
Zurück auf dem sicheren Boot.
Positive Bilanz
Nach 10 Tagen auf den Spuren der Tiger in dem Sundabarn schlägt der Kapitän Kurs nach Norden auf die Hafenstadt Khulna ein, dort wartet ein Bus, der die Touristen zurück nach Dhaka bringt. Zeit, Bilanz zu ziehen.
"Dass ich den Tiger nicht gesehen habe, das ist nicht so sehr eine Enttäuschung. Aber die Reise fand ich ganz schön, weil wir von der Zivilisation in die unberührten Sundabars fuhren und auf dem Weg haben wir das Leben der Einheimischen mitbekommen, so wie sie fischen, so wie sie ihre Reisernten einholen und ernten und die Sundabarns, wo man vor allem die vielen Vögel gesehen hat."
"Das Überraschende für mich war, wie freundlich die Menschen hier sind, wie sauber die Dörfer. Ich habe mir mehr Säugetiere vorgestellt, die Vogelwelt war beeindruckend, den Tiger hätte ich gern gesehen, aber ich habe mir von Anfang an nicht viel Hoffnung gemacht, aber schön zu sehen, wie viele es gibt anhand der Spuren, die wir gesehen haben."
"Der Lebensraum, selbst diese Sundabarns diese Sumpfgebiete, die haben mich ehrlich gesagt ein bisschen überrascht, dass ganze Landstriche ja permanent unter Wasser sind einschließlich der Pflanzen und der Tiere, dies sich da anpassen müssen. Das ist schon beeindruckend."
"Am meisten haben mich die Menschen in Bangladesch begeistert, mit welcher Offenheit und Warmherzigkeit sie uns empfangen haben, wie sie uns einfach in ihre Wohnungen gelassen haben und uns gezeigt haben, wie sie leben und wohnen. Schade finde ich es, dass wir Tiger nicht gesehen haben, es war ja spannend, die Tigerspuren zu sehen, den Tiger zu riechen, wir waren immer so ihm auf der Spur, wir haben die ganz viele Zeichen gesehen, die der Tiger gesetzt hat, also das fand ich schon spannend, klar hätte ich gern einen gesehen, aber die ganze Atmosphäre hat für alles entschädigt."