"Nathans Ende? Von Lessing bis Tabori. Zur deutsch-jüdischen Rezeption von Nathan der Weise? ist eine Studie überschrieben, die Barbara Fischer an der Universität von Alabama erarbeitet hat und die im Wallstein Verlag erschienen ist. Unser Rezensent ist Frank J. Heinemann.
In welcher Schule lernt man wirklich etwas fürs Leben? Bertolt Brecht lässt in seinen "Flüchtlingsgesprächen" die Emigranten Kalle und Ziffel auch darüber diskutieren. Sie befinden, nicht eine humane Schule mit gerechten Lehrern sei anzustreben, sondern eine, die ihre Zöglinge schon in zartestem Alter unzart einführt in die "Welt, wie sie ist". Frühzeitig müsse dem jungen Menschen der Unmensch gegenübertreten. Den verkörperten erfreulicherweise die Lehrer in vielen Variationen. Eine Schule mit gerechten Lehrern dagegen würde die Schüler über die reale Welt täuschen.
Der Name Brecht taucht in Barbara Fischers Studie nicht auf. Doch dessen schwarze Pädagogik könnte das Erkenntnisinteresse der Autorin durchaus erhellen. Gleich in der Einleitung zu ihrer Geschichte der "deutsch-jüdischen Rezeption von ?Nathan der Weise?" weist sie auf zwei Texte hin, die sie bewegt haben. Da ist einmal der Brief eines Berliner Juden aus dem Jahr 1935. In ihm bedankt sich der Briefschreiber für seine Entlassung aus einem Berliner Gefängnis. Er schrieb, in Deutschland, dem "Land der großen Klassiker und Humanisten", sei seine Inhaftierung wohl nur ein Versehen gewesen. Der auf das "Volk der Dichter und Denker" Vertrauende wurde später in einem Lager ermordet. Der zweite Text ist eine Anekdote des ungarisch-jüdischen Theatermachers George Tabori, der sich an seine Tante Piroschka erinnert. Als sie 1932 erfahren habe, dass ihr Neffe in Berlin studieren wollte, habe sie, die den "Nathan" so liebte, ausgerufen: "Wenn dieses Stück nicht wäre, würde ich dich nicht nach Deutschland gehen lassen!" Wer weiß, was schon bald in Lessings Land geschah, kann die Meinung von Brechts Flüchtlingen, dass gute Lehrer schlechte Lehrer sind, nicht mehr nur zynisch finden. Denn wäre es für Deutschlands Juden nicht nützlicher gewesen, sie hätten sich in Gustav Freytags Roman "Soll und Haben" mit seinem negativen Helden Veitel Itzig vertieft statt in den "Nathan" und später statt Lessing lieber Hitler gelesen?
So zugespitzt formuliert die Autorin sie natürlich nicht, ihre Frage nach der Entwicklung und den Gründen einer ebenso anrührenden wie verhängnisvollen Liebe zu Lessing und seinem "Nathan". Es handelt sich schließlich um eine akademische Studie, manchmal ein wenig mühsam zu lesen, vor allem, wenn Fischer demonstrieren will, dass sie auf dem jüngsten Stand der Textwissenschaft ist. Doch der Leser wird entschädigt durch Materialreichtum und die überzeugende Grundidee des Buches: aus einem klassischen Text ein Testobjekt für politische Entwicklungen zu machen, so dass sich in der Rezeptionsgeschichte dieses Textes zwei Jahrhunderte Geschichte der Juden in Deutschland spiegeln.
"Nathan der Weise" erschien 1779, drei Jahre vor dem Tod Lessings, der sein Drama nie auf der Bühne sah. Wie aktuell seine Toleranzbotschaft war, zeigte sich bald. Schon 1781 kam in Preußen die Schrift "Über die bürgerliche Verbesserung der Juden" von Christian Wilhelm von Dohm heraus. Die Zeit schien reif für eine Emanzipation der Juden. Anfang des 19. Jahrhunderts mischten sich Humanisten wie Wilhelm von Humboldt in die Diskussion. Den Kindern des vorangegangenen "Jahrhunderts der Aufklärung" ging es freilich, wie Fischer deutlich herausarbeitet, nicht um eine Akzeptanz der Juden als Juden, mit ihren Traditionen und Eigenarten, vielmehr um ihre Angleichung an die sich entwickelnde bürgerliche Gesellschaft. Solange die sich ebenfalls emanzipierenden Bürger noch kämpfen mussten, waren die Juden notwendige Verbündete. Man hoffte, die sogenannte "Judenfrage" lösen zu können, indem man Juden als Staatsbürger wie andere auch definierte und ihre Religion, falls sie sie überhaupt beibehalten wollten, zur Privatsache machte. Lessing hatte das Problem im Allgemein-Menschlichen aufzuheben versucht. Dieses steht für ihn über dem Wahrheitsanspruch der einzelnen Religionen und verbindet Christen, Juden und Moslems als Menschen. Das spezifisch Jüdische gerät dabei freilich auch Lessing aus dem Blick. Darauf hat einst schon vorsichtig Moses Mendelssohn, Lessings Berliner Freund, aufmerksam gemacht. Das breitere jüdische Publikum aber liebte seinen Lessing ganz und gar, hingerissen von der Figur des weisen Juden von Jerusalem, die ein Nichtjude ersonnen hatte.
Hinweggelesen wurde über Nathan den reichen Kaufmann und auch das Menetekel jenes Pogroms, dem Nathans ganze Familie zum Opfer fiel. Lessing, immer wieder als "edelster Sohn des deutschen Volkes" gepriesen, wurde zum Garanten dafür, dass ein Volk, das einen solchen Sohn produziert hat, nicht unedel werden konnte. Hohe Erwartungen, wie sie noch 1879 zu Lessings 150. Geburtstag geäußert wurden. Zu jener Zeit begann sich schon ein rassisch begründeter Antisemitismus zu regen. "Die Juden sind unser Unglück" ? mit dieser Devise sollte die 1871 erreichte formale Gleichberechtigung zurückgedreht werden. Lessing wurde als Anwalt der Juden und "Produkt jüdischer Reklame" angegriffen. Gegen Ende des Jahrhunderts setzte Kritik am "Nathan" auch von jüdischer Seite ein. 1896 erschien Theodor Herzls Schrift "Der Judenstaat". Der Begründer des Zionismus hatte sich unter dem Eindruck des Antisemitismus im Frankreich der Dreyfus-Affäre vom Gedanken der Integration abgewandt und forderte ein eigenes Territorium für das Volk der Juden, die eben nicht im Geiste Nathans im allgemein Menschlichen aufgehen sollten, sondern als Volk bewahrt werden müssten. In den Augen der Zionisten erwies sich die gepriesene "Toleranz als Taktik", wie Fischer ein Kapitel überschreibt. 1929, zu Lessings Zweihundertstem, wurden dann ? so der Titel eines anderen Kapitels ? "Geburtstagsreden am Sterbebett der Toleranz" gehalten. Der Festredner Max Liebermann äußerte sich besorgt und skeptisch, Reichspräsident Hindenburg schickte ein markiges Telegramm. Vier Jahre später übergab er den Nationalsozialisten die Macht. Zwölf Jahre lang wurde der "Nathan" in keiner Schule mehr gelesen, auf keiner Bühne mehr gespielt. Mit einer Ausnahme, der Fischer das schmerzlichste Kapitel widmet: der jüdische "Kulturbund" wollte und durfte 1933 "Nathan" inszenieren. Wie wenigstens ein Teil der "Kulturbund"-Mitglieder sich an die Worte des edlen deutschen Dichters klammert angesichts einer düsteren Zukunft ? das zu lesen, tut weh. Zwölf Jahre nach diesem "Nathan" dann Lessings Drama in absurder Umkehrfunktion: Am 7. September 45 wird mit ihm das Deutsche Theater wiedereröffnet. Ein gerührtes Publikum in Berlin und wenig später auch in anderen deutschen Trümmerstädten. Die Absurdität wird wohl erst aus der Distanz erkennbar: Man wollte, so hieß es, "die Toleranz wiederaufrichten", ein maßstabloses Vorhaben nur wenige Monate nach Auschwitz. Erst 1981 vermerkt Fischer, wird jüngste deutsche Geschichte in einer "Nathan"-Inszenierung reflektiert, von Claus Peymann in Bochum. Der Jude Nathan entfernt sich aus der allgemeinen Umarmungsszene am Schluss und geht auf eine große blutende Dichterfigur zu, die eine Schreibfeder in die Höhe hält. Das Schlusskapitel widmet Fischer Taboris Lessing-Collage "Nathans Tod" von 1991. Tabori präsentiert nicht den Weisen, sondern Nathan den Ratlosen, der toten Puppen predigt, seinen verbrannten Söhnen, und am Schluss ein Opfer der Barbarei wird. Das letzte Wort in Sachen "Nathan"? Fischer äußert sich dazu nicht, aber sie hat vorher klug die Mehrdimensionalität von Lessings Bildersprache analysiert. Mit Fischers Buch als Vorbereitung ließe sich eine Inszenierung denken, die die deutsch-jüdische Geschichte und die Geschichte des Dramas selbst mitreflektiert und der mehrdeutigen Bildersprache Lessings mehr abgewinnt als abstrakte Toleranzbotschaft ? und trotz Auschwitz Nathan leben lässt.
Frank J. Heinemann über Barbara Fischer: "Nathans Ende? Von Lessing bis Tabori - Zur deutsch-jüdischen Rezeption von Nathan der Weise". Die Studie ist im Göttinger Wallstein Verlag erschienen, umfasst 184 Seiten und kostet DM 48,--.
In welcher Schule lernt man wirklich etwas fürs Leben? Bertolt Brecht lässt in seinen "Flüchtlingsgesprächen" die Emigranten Kalle und Ziffel auch darüber diskutieren. Sie befinden, nicht eine humane Schule mit gerechten Lehrern sei anzustreben, sondern eine, die ihre Zöglinge schon in zartestem Alter unzart einführt in die "Welt, wie sie ist". Frühzeitig müsse dem jungen Menschen der Unmensch gegenübertreten. Den verkörperten erfreulicherweise die Lehrer in vielen Variationen. Eine Schule mit gerechten Lehrern dagegen würde die Schüler über die reale Welt täuschen.
Der Name Brecht taucht in Barbara Fischers Studie nicht auf. Doch dessen schwarze Pädagogik könnte das Erkenntnisinteresse der Autorin durchaus erhellen. Gleich in der Einleitung zu ihrer Geschichte der "deutsch-jüdischen Rezeption von ?Nathan der Weise?" weist sie auf zwei Texte hin, die sie bewegt haben. Da ist einmal der Brief eines Berliner Juden aus dem Jahr 1935. In ihm bedankt sich der Briefschreiber für seine Entlassung aus einem Berliner Gefängnis. Er schrieb, in Deutschland, dem "Land der großen Klassiker und Humanisten", sei seine Inhaftierung wohl nur ein Versehen gewesen. Der auf das "Volk der Dichter und Denker" Vertrauende wurde später in einem Lager ermordet. Der zweite Text ist eine Anekdote des ungarisch-jüdischen Theatermachers George Tabori, der sich an seine Tante Piroschka erinnert. Als sie 1932 erfahren habe, dass ihr Neffe in Berlin studieren wollte, habe sie, die den "Nathan" so liebte, ausgerufen: "Wenn dieses Stück nicht wäre, würde ich dich nicht nach Deutschland gehen lassen!" Wer weiß, was schon bald in Lessings Land geschah, kann die Meinung von Brechts Flüchtlingen, dass gute Lehrer schlechte Lehrer sind, nicht mehr nur zynisch finden. Denn wäre es für Deutschlands Juden nicht nützlicher gewesen, sie hätten sich in Gustav Freytags Roman "Soll und Haben" mit seinem negativen Helden Veitel Itzig vertieft statt in den "Nathan" und später statt Lessing lieber Hitler gelesen?
So zugespitzt formuliert die Autorin sie natürlich nicht, ihre Frage nach der Entwicklung und den Gründen einer ebenso anrührenden wie verhängnisvollen Liebe zu Lessing und seinem "Nathan". Es handelt sich schließlich um eine akademische Studie, manchmal ein wenig mühsam zu lesen, vor allem, wenn Fischer demonstrieren will, dass sie auf dem jüngsten Stand der Textwissenschaft ist. Doch der Leser wird entschädigt durch Materialreichtum und die überzeugende Grundidee des Buches: aus einem klassischen Text ein Testobjekt für politische Entwicklungen zu machen, so dass sich in der Rezeptionsgeschichte dieses Textes zwei Jahrhunderte Geschichte der Juden in Deutschland spiegeln.
"Nathan der Weise" erschien 1779, drei Jahre vor dem Tod Lessings, der sein Drama nie auf der Bühne sah. Wie aktuell seine Toleranzbotschaft war, zeigte sich bald. Schon 1781 kam in Preußen die Schrift "Über die bürgerliche Verbesserung der Juden" von Christian Wilhelm von Dohm heraus. Die Zeit schien reif für eine Emanzipation der Juden. Anfang des 19. Jahrhunderts mischten sich Humanisten wie Wilhelm von Humboldt in die Diskussion. Den Kindern des vorangegangenen "Jahrhunderts der Aufklärung" ging es freilich, wie Fischer deutlich herausarbeitet, nicht um eine Akzeptanz der Juden als Juden, mit ihren Traditionen und Eigenarten, vielmehr um ihre Angleichung an die sich entwickelnde bürgerliche Gesellschaft. Solange die sich ebenfalls emanzipierenden Bürger noch kämpfen mussten, waren die Juden notwendige Verbündete. Man hoffte, die sogenannte "Judenfrage" lösen zu können, indem man Juden als Staatsbürger wie andere auch definierte und ihre Religion, falls sie sie überhaupt beibehalten wollten, zur Privatsache machte. Lessing hatte das Problem im Allgemein-Menschlichen aufzuheben versucht. Dieses steht für ihn über dem Wahrheitsanspruch der einzelnen Religionen und verbindet Christen, Juden und Moslems als Menschen. Das spezifisch Jüdische gerät dabei freilich auch Lessing aus dem Blick. Darauf hat einst schon vorsichtig Moses Mendelssohn, Lessings Berliner Freund, aufmerksam gemacht. Das breitere jüdische Publikum aber liebte seinen Lessing ganz und gar, hingerissen von der Figur des weisen Juden von Jerusalem, die ein Nichtjude ersonnen hatte.
Hinweggelesen wurde über Nathan den reichen Kaufmann und auch das Menetekel jenes Pogroms, dem Nathans ganze Familie zum Opfer fiel. Lessing, immer wieder als "edelster Sohn des deutschen Volkes" gepriesen, wurde zum Garanten dafür, dass ein Volk, das einen solchen Sohn produziert hat, nicht unedel werden konnte. Hohe Erwartungen, wie sie noch 1879 zu Lessings 150. Geburtstag geäußert wurden. Zu jener Zeit begann sich schon ein rassisch begründeter Antisemitismus zu regen. "Die Juden sind unser Unglück" ? mit dieser Devise sollte die 1871 erreichte formale Gleichberechtigung zurückgedreht werden. Lessing wurde als Anwalt der Juden und "Produkt jüdischer Reklame" angegriffen. Gegen Ende des Jahrhunderts setzte Kritik am "Nathan" auch von jüdischer Seite ein. 1896 erschien Theodor Herzls Schrift "Der Judenstaat". Der Begründer des Zionismus hatte sich unter dem Eindruck des Antisemitismus im Frankreich der Dreyfus-Affäre vom Gedanken der Integration abgewandt und forderte ein eigenes Territorium für das Volk der Juden, die eben nicht im Geiste Nathans im allgemein Menschlichen aufgehen sollten, sondern als Volk bewahrt werden müssten. In den Augen der Zionisten erwies sich die gepriesene "Toleranz als Taktik", wie Fischer ein Kapitel überschreibt. 1929, zu Lessings Zweihundertstem, wurden dann ? so der Titel eines anderen Kapitels ? "Geburtstagsreden am Sterbebett der Toleranz" gehalten. Der Festredner Max Liebermann äußerte sich besorgt und skeptisch, Reichspräsident Hindenburg schickte ein markiges Telegramm. Vier Jahre später übergab er den Nationalsozialisten die Macht. Zwölf Jahre lang wurde der "Nathan" in keiner Schule mehr gelesen, auf keiner Bühne mehr gespielt. Mit einer Ausnahme, der Fischer das schmerzlichste Kapitel widmet: der jüdische "Kulturbund" wollte und durfte 1933 "Nathan" inszenieren. Wie wenigstens ein Teil der "Kulturbund"-Mitglieder sich an die Worte des edlen deutschen Dichters klammert angesichts einer düsteren Zukunft ? das zu lesen, tut weh. Zwölf Jahre nach diesem "Nathan" dann Lessings Drama in absurder Umkehrfunktion: Am 7. September 45 wird mit ihm das Deutsche Theater wiedereröffnet. Ein gerührtes Publikum in Berlin und wenig später auch in anderen deutschen Trümmerstädten. Die Absurdität wird wohl erst aus der Distanz erkennbar: Man wollte, so hieß es, "die Toleranz wiederaufrichten", ein maßstabloses Vorhaben nur wenige Monate nach Auschwitz. Erst 1981 vermerkt Fischer, wird jüngste deutsche Geschichte in einer "Nathan"-Inszenierung reflektiert, von Claus Peymann in Bochum. Der Jude Nathan entfernt sich aus der allgemeinen Umarmungsszene am Schluss und geht auf eine große blutende Dichterfigur zu, die eine Schreibfeder in die Höhe hält. Das Schlusskapitel widmet Fischer Taboris Lessing-Collage "Nathans Tod" von 1991. Tabori präsentiert nicht den Weisen, sondern Nathan den Ratlosen, der toten Puppen predigt, seinen verbrannten Söhnen, und am Schluss ein Opfer der Barbarei wird. Das letzte Wort in Sachen "Nathan"? Fischer äußert sich dazu nicht, aber sie hat vorher klug die Mehrdimensionalität von Lessings Bildersprache analysiert. Mit Fischers Buch als Vorbereitung ließe sich eine Inszenierung denken, die die deutsch-jüdische Geschichte und die Geschichte des Dramas selbst mitreflektiert und der mehrdeutigen Bildersprache Lessings mehr abgewinnt als abstrakte Toleranzbotschaft ? und trotz Auschwitz Nathan leben lässt.
Frank J. Heinemann über Barbara Fischer: "Nathans Ende? Von Lessing bis Tabori - Zur deutsch-jüdischen Rezeption von Nathan der Weise". Die Studie ist im Göttinger Wallstein Verlag erschienen, umfasst 184 Seiten und kostet DM 48,--.