Es mag überhaupt sinnvoll sein, gerade unmittelbar vor dem Tag der deutschen Einheit die unsägliche Äußerung Erich Honeckers zur Berliner Mauer in die Erinnerung zurückzurufen, immerhin sprach er so noch im Jahre '89, aber in diesem Zusammenhang geschieht es, um ein Buch wie das von Barbara Heinecke zu begreifen. "Gestutzte Flügel" - der Titel symbolisiert das Lebensgefühl vieler, zumal junger Menschen, die sich in der DDR einst wie Vögel empfunden haben, denen die Flügel gestutzt waren, um sie sozusagen am Davonfliegen zu hindern. Die Autorin ist promovierte und habilitierte Mathematikern. Obwohl nicht Genossin der SED, durfte sie in den sechziger Jahren an der Technischen Universität Dresden und ein Jahr lang sogar an der Lomonossow-Universität in Moskau studieren. Eine wissenschaftliche Karriere in der DDR schien ihr vorgezeichnet. Von 1971 bis 1984 war sie als Oberassistentin an der Technischen Hochschule Karl-Marx-Stadt - heute Chemnitz - tätig, aber schließlich hatte sie den Zeitpunkt erreicht, zu dem sie es mit ihren beiden Kindern nicht mehr aushielt in der DDR. Von Rolf Henrich stammt der doppelsinnige Begriff "Wohn-Haft in der DDR" - Wohn-Haft im Sinne von Haft. Barbara Heinecke empfand ähnlich:
"Als die Zwangslage, in die wir geraten waren, zu einem unlöslichen Problem geworden war, suchten auch wir einen Weg, die DDR zu verlassen, suchten auch wir lebenlangem Eingesperrtsein hinter Mauern (...) zu entkommen. Mein Alptraum in dieser Zeit: das Urteil: 'Sie haben lebenslänglich in der DDR'."
In der Konsequenz übersiedelte sie nach Ungarn, einem sozialistischen, in den achtziger Jahren aber schon emanzipierten Land. Vier Jahre lang lebte und arbeitete sie in Budapest, danach wechselte sie in die Bundesrepublik. Seit 1989 ist sie als Professorin für Mathematik und Informatik an der Fachhochschule Hamburg tätig. Seinen Reiz bezieht das vorliegende Buch aus seiner Entstehungsgeschichte, die für den DDR-Alltag selbst symptomatisch ist. Der sächsische CDU-Bundestagesabgeordnete Arnold Vaatz, selbst in der ehemaligen DDR aufgewachsen, in der er als Wehrdienstverweigerer ins Gefängnis kam und später zur Opposition stieß, geht in seinem Vorwort darauf ein:
"Barbara Heinecke hat Tagebuch geführt - über ihre Erlebnisse in der DDR etwa in der Zeit zwischen 1980 und 1987. Sie legt nun das aus diesem Tagebuch entstandene Buch vor - vom Termin her gerade passend zu dem, was landauf, landab zum zehnten Jahrestag der deutschen Vereinigung veranstaltet wird. Das Buch ist authentisch, geradlinig, nüchtern, und es ist packende Literatur zugleich."
So einfach, wie sich das heute liest, war es freilich nicht. Tagebuch-Aufzeichnungen in der DDR, denen regimekritische Gedanken anvertraut wurden, konnten gefährlich werden. "Das Wissen um die Vergangenheit kann die Zukunft kosten", hat Reiner Kunze einmal bemerkt. Wer ein kritisches Tagebuch in der DDR führte, war nicht systemkonform und daher prinzipiell suspekt. Auch diesem Grunde mußte Barbara Heinecke mit Vorsicht und Bedacht vorgehen - ähnlich wie einst Victor Klemperer, als er, der jüdische Philologe und Romanist, Tagebuch unter dem Hakenkreuz-Regime führte. Zwar war in der DDR die Bedrohung für kritische Wissenschaftler längst nicht so gefährlich wie einst für jüdische Menschen im sogenannten Dritten Reich, aber das behauptet die Autorin auch nicht, wenn sie sich auf Klemperer bezieht und schreibt:
"Die Mühen, über die Victor Klemperer bei seinen Tagebuchaufzeich-nungen berichtet, erinnerten auch ein wenig an meine Ängste. Auch in der DDR war es nicht ungefährlich, ein Tagebuch zu führen. Die Wahrheit, einfach aufgezeichnet, konnte leicht als Verleumdung des Staates verurteilt werden. Mit DDR-Gefängnissen wollte ich keine Bekanntschaft machen. Immer mußte ich aufpassen, dass die Geschichten verschlossen aufbewahrt wurden, dass sie kein Unbefugter zufällig entdecken konnten. Sie wurden versteckt..."
Versteckt und aufbewahrt. Die Autorin ist keine Philologin, sondern Mathematikerin, ihr Buch besitzt bei weitem nicht die literarische Qualität, die Klemperers Aufzeichnungen auszeichnet. Aber im Schreiben einen Ausweg aus innerer Not zu suchen, das haben sie beide gemeinsam. Die Ex-DDR-Bürgerin bekennt das mit sympathischer Offenheit:
"Durch Aufschreiben wurden die Schwierigkeiten verarbeitet und teilweise auch überwunden. Überleben durch Schreiben. Schreiben als einzige Möglichkeit der straffreien Äußerung, so lange die Geschichten unter Verschluß blieben. Sich erheben über die Misere durch Aufschreiben. Dokumentation der Ereignisse."
Genesis eines Tagebuchs. Wie es zur Krise kam, schildert die Autorin im ersten Teil ihres Buches. Sie zeichnet den akademischen Alltag an der TH Karl-Marx-Stadt in seiner ganzen Banalität nach. Die eigentlichen Querelen begannen für Barbara Heinecke mit einer Nichtigkeit, als der DDR-Zoll bei ihrer Rückkehr aus einem Ungarn-Urlaub in ihrem Gepäck ein westdeutsches und ein amerikanisches Nachrichtenmagazin sowie eine Modezeitschrift fand, die sie in Ungarn legal erworben hatte. Die Genossen vom Zoll beschlagnahmten die ideologische Konterbande nicht nur, sondern machten ihr Eingreifen aktenkundig und informierten die Leitung der TH Karl-Marx-Stadt schriftlich darüber. Die Folge war ein schikanöses Disziplinar-Verfahren, das mit einem strengen disziplinarischen Verweis endete. Damit aber war die Habilitation der Gemaßregelten gefährdet. Und sie, die sich bis dahin stets geduckt und angepaßt hatte, sie wehrte sich mit allen legalen Mitteln. Sie wollte nicht um den wissenschaftlichen Ertrag ihrer jahrelangen Forschungen betrogen werden. Die Autorin schildert, wie sie sich couragiert durchsetzt. Die Einblicke in den Karl-Marx-Städter Hochschul-Betrieb, die sie dabei bietet, festgemacht an eigenem Erleben und eigener Erfahrung, sind signifikant. Ergänzt wird das Ganze im zweiten Teil des Buches durch kleine, zuweilen anekdotische Geschichten über fatale, amüsante, traurige Begebenheiten aus dem Alltag der DDR - die Ausbeute sozusagen aus ihrem Tagebuch. Die Autorin beobachtet gut, sie trifft die Sache, sie greift viel auf von dem Frust, der die Menschen im gewöhnlichen DDR-Sozialismus bewegt hat. Gleichwohl ist das Buch in seiner Gestaltung nicht unproblematisch. Die Autorin hielt es für sinnvoll, ihre Aufzeichnungen zu anonymisieren und zu verfremden. Sie selber erscheint im Buch als "Franziska", schreibt über sich in der dritten Person, und sie stellt im übrigen in einer Anmerkung ausdrücklich fest:
"Die Namen aller Personen wurden verändert. Es wurden auch Tatsachen variiert und abgeändert. Somit besteht kein direkter Bezug zu existierenden Personen."
Einzusehen vermag der Rezensent dies nicht, im Gegenteil, es ist eine durchaus ungewöhnliche Vorgehensweise. Klemperer wäre nie auf eine solche Idee gekommen. Sie beeinträchtigt die Authentizität der Tagebuch-Aufzeichnungen, auch wenn sie nicht zu bezweifeln ist. Für die Zeitgeschichtsforschung - speziell für die Erforschung der DDR-Alltagsgeschichte - ist das Buch eben wegen dieser Anonymisierung und Verfremdung allenfalls bedingt tauglich. Aber für Historiker wollte Barbara Heinecke ihr Buch wohl auch nicht schreiben. Das Buch, leicht zu lesen, in der Sprache schlicht, ist Medizin gegen jedwede Nostalgie.
"Das vorliegende Buch ist ein ehrliches Buch, es dokumentiert das Leben in der DDR. Es legt Zeugnis ab von der Drangsal, die die Menschen in der DDR erdulden mussten, und von ihren Fähigkeiten, ihrem Witz und Humor, die es ihnen ermöglichten, in dieser Bedrängnis zu leben. Und es spricht auch von denen, die diese Bedrängnis nicht aushalten konnten. (...) Das Buch ist nicht vordergründig politisch. Es fasziniert durch das alltäglich Menschliche, das im Mittelpunkt der 'Geschichten aus dem Alltag' steht."
So Arnold Vaatz - hier noch einmal aus seinem Vorwort zitiert. Der Rezensent kann sich seiner Einschätzung durchaus anschließen.
Karl Wilhelm Fricke über Barbara Heinecke: Gestutzte Flügel. Geschichten aus der DDR. Erschienen im Reinhold Krämer Verlag Hamburg. Das Paperback umfasst 240 Seiten und kostet 24,80 DM.