Eine Karriere als Politikerin war bei Barbara Stamm so nicht vorherzusehen: 1944 wurde sie in Bad Mergentheim als Tochter einer taubstummen Mutter geboren und verbrachte Teile ihrer Kindheit im Heim. Die mitunter harte Zeit sollte sie prägen – sowohl für ihren Beruf der Erzieherin als auch später für die Politik.
1969 tritt Stamm in die CSU ein, 1972 kandidiert sie bei der Stadtratswahl in Würzburg – mit Erfolg. Als junge Mutter zieht sie in das Gremium ein, was damals in der männlich dominierten Kommunalpolitik nicht einfach war. Von da an verlief ihr Aufstieg steil: 1976 rückte sie in den bayerischen Landtag nach, zwei Jahre später wurde sie in den Vorstand der CSU-Landtagsfraktion gewählt. Immer im kritischen Austausch mit dem damaligen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß, berief der sie 1987 zur Staatssekretärin im Sozial- und Gesundheitsministerium.
Als Gesundheitsministerin unter Edmund Stoiber hatte Barbara Stamm Ende der 1990er-Jahre mit dem BSE-Skandal zu kämpfen, wegen dem sie schließlich 2001 als Ministerin und stellvertretende Ministerpräsidentin zurücktrat. Von 2008 bis zum Ende ihrer aktiven politischen Zeit 2018 war Stamm Präsidentin des Landtages. Heute lebt sie mit ihrem Mann in Würzburg.
Gegen Widerstände – vom Heimkind zur jungen CSU-Wahlkämpferin
Katharina Hamberger: Frau Stamm, wir zeichnen dieses Gespräch in Ihrem Garten auf, man hört es ein bisschen, Zwitschern, manchmal das eine oder andere Auto, aber so ist es in Corona-Zeiten – viel Luft, möglichst Corona-konform. Gehen wir mal ganz zurück an Ihren Lebensanfang, Sie sind geboren 1944, wenn man das so sagen darf, ganz einfach waren Ihre ersten Lebensjahre ja nicht. Ihre Mutter war gehörlos, die ersten Jahre haben Sie bei Pflegeeltern verbracht, dann teilweise bei Ihrer Mutter, teilweise in Heimen. Können Sie mal beschreiben, wie Sie heute auf diese Zeit zurückschauen?
Barbara Stamm: Ich muss sagen, je älter ich wurde, desto mehr habe ich in Dankbarkeit auf meine Kindheit zurückgeblickt, weil ich natürlich aus der Schwere meiner Kindheit auch für meine politische Arbeit sehr, sehr viel gewinnen konnte. Ich wusste, was es bedeutet, wenn Kinder keine Geborgenheit haben, wenn die entsprechende Zuneigung, die Zuwendung fehlt. Ich wusste, was es bedeutet, wenn Gewalt im sozialen Nahraum eine Rolle spielt – und das habe ich dann natürlich auch versucht eben, in meinem politischen Alltag als zuständige Sozialministerin auch hineinzutragen. Es haben sich viele bei uns gefragt, wieso setzt die solche Themen? Frauenhäuser, Notrufe, Hilfe für Alleinerziehende, Gleichstellungsgesetz, all diese Dinge.
Hamberger: Das heißt, Sie sehen das schon auch, dass Sie damals in die Partei gekommen sind, dass Sie auch entsprechende Ämter in der Partei hatten, auch als Gewinn für die Partei an heute?
Stamm: Ich denke schon, ich glaube schon, dass es auch für meine Partei ein Gewinn gewesen ist, mich zu haben. Am 30.9.1987 habe ich die Urkunde vom damaligen Ministerpräsidenten, Franz Josef Strauß, bekommen als Staatssekretärin. Und als er mir die Urkunde überreicht hat, hat er zu mir gesagt, Sie sind zuständig für die Leberkäse-Etage. Er war wahrscheinlich verwundert, wie ich ihn da angesehen habe und auch nachgefragt habe. Und ich habe dann gesagt, Herr Ministerpräsident, wie meinen Sie denn das? Dann hat er zu mir gesagt: Wir sind die Partei der kleinen Leute, und in der Sekt-Etage können wir keine Wahlen gewinnen. Das war mein Auftrag, den er mir gegeben hat, den habe ich ernst genommen.
"Was Chancen für Kinder anbelangt, bin ich sehr sensibel"
Hamberger: Wie hat die Gesellschaft damals reagiert auf Kinder wie Sie, die nicht aus solchen intakten Familien kommen?
Stamm: Ja, ich weiß überhaupt nicht, ob wir so richtig wahrgenommen worden sind. Es hat ja auch noch nicht so viele Möglichkeiten gegeben, wenn ich daran denke, Unterstützung für Alleinerziehende. Oder wenn ich an meine Mutter denke, gehörlos, ich war ihr ja hilflos gegenüber gestanden. Gebärdensprache kannte ich nicht, woher denn auch, hat sich auch niemand darum gekümmert, dass hier die Kommunikation klappt, wenn ich mit meiner Mutter unterwegs gewesen bin. Und wenn ich alleine denke, was sich jetzt hier auch getan hat im Bereich Menschen mit Handicaps, dass sie wirklich auch teilhaben können, obwohl das eine oder andere auch noch notwendig ist, aber das gab es ja damals gar nicht. Ich meine, ich musste meine Mutter kerzengrade gegenüberstehen, und sie hat mir vom Mund abgelesen. Und wehe, ich habe mal zu schnell gesprochen oder ich habe nur mal meinen Kopf gewendet, dann war die Kommunikation schon zu Ende gewesen.
Hamberger: Wie haben Sie damals auch Ihre Chancen für Ihr Leben wahrgenommen, haben Sie das Gefühl gehabt, Sie können trotzdem alles erreichen, oder haben Sie gedacht, für mich ist irgendwann eine Grenze eben aufgrund meiner Herkunft?
Stamm: Ich habe das ja hautnah erlebt, dass ich nicht dieselben Chancen hatte. Ich bin in Bamberg aus der Volksschule entlassen worden, war damals die beste Schülerin in ganz Bamberg gewesen von den Entlass-Schülerinnen (Schulabgängerinnen), ja. Ich habe keine Chance gehabt, dass mir jemand ein Schulgeld bezahlt hat für die weiterführende Schule. Mein Amtsvormund, damals noch Jugendamt, da ging es darum, ob ich eine Ausbildung machen kann. Als ich dann gemerkt habe, ich wollte dann auch immer Erzieherin, also heute Erzieherin, damals noch Kindergärtnerin und Hortnerin werden, aber ich habe dann gemerkt, dass ich das eigentlich nur werden kann, wenn ich die Bereitschaft habe, ins Kloster zu gehen, weil da keine Schulgeldsituation dann gewesen wäre.
Da habe ich gedacht, das kann es doch nicht sein, ich will nicht ins Kloster, aber ich will trotzdem einen Beruf haben. Ich habe dann dankenswerterweise, das hat mir der Himmel geschickt, eine Religionslehrerin, mit der ich sehr viele Jahre vorher auch schon Kontakt hatte, die mir dann ein Darlehen gezahlt hat, dass ich zur Ausbildung gehen konnte als Kindergärtnerin und Hortnerin. Und deswegen bin ich, gerade was Kinder anbelangt, was Chancen für Kinder anbelangt, da bin ich sehr, sehr sensibel und da kann ich auch sehr emotional werden, was auch oft nicht verstanden wird. Aber es ist nun einmal so, dass die soziale Herkunft eine ganz entscheidende Rolle spielt, was letztlich auf Zukunft gesehen für Chancen und Möglichkeiten für ein jeweiliges Kind oder für einen jungen Menschen auch möglich sind.
"Und dann hat mich die Kommunalpolitik gepackt"
Hamberger: Sie haben sich dann sicher auch irgendwann für Politik interessiert, sonst wären Sie nicht in der CSU gelandet. Was war denn so der Auslöser, dass Sie gesagt haben, jetzt suche ich auch irgendwie meine Heimat in der Politik?
Stamm: Ja, das ist auch wieder ein Zufall sozusagen gewesen, dass ich also dann hauptamtlich in der Jugendarbeit gelandet bin, in der kirchlichen Jugendarbeit. Und wir waren damals eben in vielen Diskussionsrunden beieinander, haben politische Arbeitskreise gegründet, haben viel diskutiert auf der Führungsebene. Und dann hat mich die Kommunalpolitik gepackt, wie unsere Tochter auf die Welt kam, 1970, und ich dann klassisch außerhäusliche Berufstätigkeit aufgegeben habe, weil ich selbst Familie nicht erlebt habe, habe ich gedacht, gut, du machst es mal anders und, ja, ich dann doch nicht so glücklich gewesen bin ohne außerhäusliche Berufstätigkeit. Und dann hatte ich 1972 die Chance und die Möglichkeit, für den Stadtrat gefragt zu werden – und dann hat es mich einfach gepackt.
Hamberger: Aber warum die CSU? Wenn man so Ihren Lebenslauf anschaut und das, was Sie vorhin beschrieben haben, dann könnte man ja auch meinen, Sie wären auch eine gute Sozialdemokratin geworden.
Stamm: Wäre ich mit Sicherheit geworden, aber wie gesagt, ich bin von der CSU gefragt worden, ob ich in den Stadtrat möchte, nicht von einer anderen Partei. Und ich habe damals, 1968, bevor ich in die Partei eingetreten bin, einen Kommunalwahlkampf erlebt in unserer Stadt, den ich sehr intensiv mitbeobachtet und verfolgt habe, die CSU hat damals die Oberbürgermeisterwahl verloren. Und dann habe ich mich entschieden, da gehst du jetzt rein, da machst du jetzt mit.
Hamberger: Sie sind dann 1976 in den Landtag gekommen als Nachrückerin.
Stamm: Als Nachrückerin, wie das bei Frauen oft so üblich ist.
Hamberger: Aber Sie waren dann Mutter von quasi zwei kleinen Kindern?
Stamm: Ja, von einer Sechsjährigen und von einem Zweijährigen.
Vorreiterin bei Teilzeit in Führungspositionen
Hamberger: Und damals war der Landtag wohl sicher auch noch deutlich männerdominierter als heute, wie wurde das denn damals aufgenommen, dass da jetzt eine Frau kommt, die sagt, ich entscheide mich jetzt für eine politische Karriere und ich habe auch zwei kleine Kinder daheim und ich schaffe das trotzdem, Politik und Landtag?
Stamm: Ich muss sagen, dass es im Landtag vielleicht weniger eine Rolle gespielt hat, weil ich nachgerückt bin. Wenn man über die Liste kandidiert, haben wir ja sowieso nicht die Chancen gehabt, weil es keine Stimmkreise sind. Schwieriger war 1974 der Wahlkampf hier bei uns, da ist schwer diskutiert worden, was, die ist in anderen Umständen und kandidiert für den Landtag. Und ich habe dann mal einen Parteifreund gefragt, was er denn gegen mich hat, weil das habe ich direkt gemerkt, da habe ich ihn gefragt, sagen Sie mal, was haben Sie denn eigentlich gegen mich? Sagt der, ich habe nichts gegen Sie, nur Frauen im gebärfähigen Alter haben in der Politik nichts verloren. Das war schon…
Hamberger: Was haben Sie geantwortet?
Stamm: Damals war ich sprachlos, muss ich wirklich sagen. Später bin ich dann munterer geworden, wir sind ja oft gefragt worden als Frauen in der Politik, was sagt denn der Mann dazu? Da bin ich immer erst nervös gewesen, ja, was sagt der, jetzt hat er wieder mit den Kindern … Und das Kind ist krank und schlechte Note, was sagt er denn, bis mir eines Tages eingefallen, dass ich zu den Kollegen gesagt habe, also entschuldigt, jetzt fragt doch bitte mal eure Frauen, was die dazu sagen und nicht nur uns, was unsere Männer… Aber ganz deutlich habe ich das gemerkt, ich wollte ja Oberbürgermeisterin werden, 1990, und da habe ich das ganz deutlich gemerkt. Die Familienfrau mit Kindern, relativ klein noch, das war schon bitter.
Hamberger: Sind Sie da manchmal auch mit dem Familienbild Ihrer eigenen Partei aneinandergeraten?
Stamm: Mit der Familie vielleicht weniger, aber mit den Themen wie Gewalt gegen Frauen, Notrufe, Alleinerziehende – das waren so Themen, wo ich nicht unbedingt immer mit großem Hurra begrüßt oder die Dinge dann auch angegangen worden sind. Wo ich großen Wert drauf gelegt habe in meinem Geschäftsbereich, wo ich Verantwortung hatte, war Teilzeit in Führungspositionen. Ich habe eine alleinerziehende Mutter als Abteilungsleiterin in Teilzeit ernannt. Das war für viele unfassbar gewesen.
Bewusste Entscheidung – der Weg zur ersten Landtagspräsidentin Bayerns
Hamberger: Es ist ja nach wie vor so, dass es nicht so viele Frauen in Spitzenpositionen in der CSU gibt, das wird jetzt immer mehr. Aber hatten Sie das Gefühl, dass man, als Sie angefangen haben, dass sich Frauen da schon gegenseitig unterstützt haben, dass man da vielleicht ein Netzwerk gemacht hat, dass man gemerkt hat, wir müssen uns irgendwie gegen diese Männerdominanz durchsetzen?
Stamm: Ja, obwohl das natürlich auch ein sehr steiniger Weg gewesen ist. Ich habe ja damals, als ich noch Mitglied in der Fraktion gewesen bin, also noch keine Regierungsverantwortung hatte, hatte ich ja die Arbeitsgruppe der Frauen in der Landtagsfraktion gegründet, um eben auch mal deutlich zu machen, wir haben so viel Talent, das sieht man ja heute auch, ob das jetzt meine Nachfolgerin ist, Ilse Aigner, oder ob das Frauen in der Regierungsverantwortung sind. Und wenn ich mir überlege, wie ich ins Kabinett kam, Kabinett Strauß damals 1987, da waren wir zwei Frauen, das war die Mathilde Berghofer-Weichner, die war damals Staatssekretärin und ich war Staatssekretärin, das war es. Und heute haben wir immerhin eine Parität in der Regierungsverantwortung in Bayern.
"Ich wollte dieses Amt der Landtagspräsidentin ganz bewusst"
Hamberger: Sie waren auch die erste Landtagspräsidentin überhaupt, also die erste Frau, die in dieses Amt gekommen ist. Was war das damals dann auch für ein Gefühl, als Frau eben zum ersten Mal diesen Posten zu bekleiden?
Stamm: Ich wollte dieses Amt der Landtagspräsidentin ganz bewusst. Das ist ja auch so schwierig, wenn wir Frauen, solange wir uns eigentlich gut verhalten und unsere Arbeit machen, gute Arbeit abliefern, aber sobald wir mal sagen, das möchte ich jetzt oder das will ich jetzt – und das strebe ich genau so an –, dann wird bei uns… Das ist eine Macht, ist das. Und ich muss wirklich im Nachhinein sagen, ich habe ganz bewusst dieses Amt angestrebt. Ich wollte schon vier Jahre früher oder fünf Jahre früher, da war ich Vizepräsidentin im Bayerischen Landtag, da wollte ich eigentlich dann schon antreten, aber da hat Alois Glück dann. Und Alois Glück, das war für mich, weil wir doch auch sehr viele Jahre sehr intensiv zusammengearbeitet haben, auch im vorpolitischen Raum, da habe ich gesagt, dass ich gegen Alois Glück nicht kandidiere. Aber als dann Alois Glück nach fünf Jahren gesagt hat, er kandidiert nicht mehr, dann habe ich ganz bewusst gesagt: Ich bin da und ich möchte es werden. War dann etwas schwierig, weil dann meine Krebserkrankung sozusagen dazwischenkam, kann denn eine schwerstkranke Frau Kandidatin, Landtagspräsidentin werden. Und ich denke, dass ich die zehn Jahre dann doch ganz gut über die Runden gebracht habe.
Hamberger: Die Erkrankung ist damals auch durchgestochen worden im Wahlkampf.
Stamm: Ja, ich habe das damals auch falsch eingeschätzt, habe gedacht, das ist eine Sache, die ich mit mir austragen kann. Aber dann habe ich mir eben sagen lassen müssen, dass das von öffentlichem Interesse ist, und habe gedacht, gut… Und heute kann ich sehr, sehr gut und sehr offen auch damit umgehen.
"Frauen haben mehr Möglichkeiten, sollten das noch stärker nutzen"
Hamberger: Also, Sie haben ja doch sehr viele Posten in der CSU begleitet als Frau, haben Sie das Gefühl, da hat sich heute auch etwas verändert, Frauen haben mehr Möglichkeiten, denen wird auch mehr möglich gemacht?
Stamm: Frauen haben mehr Möglichkeiten, ich bin trotzdem der Auffassung, dass die Frauen das noch stärker nutzen sollten. Ich war auch sehr intensiv im letzten Jahr im Kommunalwahlkampf wieder mit dabei gewesen, bin ganz bewusst dort zu Veranstaltungen hin, wo Frauen auch kandidiert haben. Und oft haben mich im Vorfeld Frauen gefragt, ja, ich könnte es mir vorstellen, soll ich denn? Da sage ich, machen, rangehen, sagen, jawohl, ich bin bereit, ich bin da, ich habe die Fähigkeiten. Man muss selber auch den Mut haben, ja gut, ich kann es. Und wenn ich es noch nicht so perfekt kann, man kann auch hineinwachsen in ein Amt, das habe ich auch erfahren in den vielen zurückliegenden Jahren. Und Frauen könnten da und dort auch Frauen oft noch ein bisschen stärker auch ermuntern, sich zur Verfügung zu stellen. Ich warne immer davor zu sagen, das sind nicht die schlimmen Männer, die uns da immer verhindern wollen oder verhindern können, sondern ich sage auch mal so: Netzwerke, die dann noch besser funktionieren mit uns und unter uns, wären auch nicht das Schlechteste.
Harte politische Zeiten – BSE-Skandal, Verwandten-Affäre, Flüchtlingskrise
Hamberger: Sie hatten auch doch relativ harte Zeiten in Ihrer Zeit eben als CSU-Politikerin. Da war einmal die BSE-Krise, 2001 sind Sie deshalb dann als Ministerin zurückgetreten beziehungsweise mussten zurücktreten. Der Vorwurf, Sie hätten sich damals gegen strengere Auflagen gewehrt. Können Sie mal schildern, wie Sie das damals wahrgenommen haben?
Stamm: Ja. Ich habe ja sehr, sehr lange, etliche Jahre mit BSE gelebt, wenn ich das mal so sagen darf, es ist immer darüber diskutiert worden, habe wir in Deutschland BSE, haben wir in Bayern BSE. Wir haben gewusst, die Schweiz, die schon 1990 mit dem Testen begann, in dem Moment, wo sie getestet haben, war in der Schweiz BSE. Von England haben wir es ja auch über viele Jahre hinweg erfahren, in Deutschland musste nicht getestet werden, es ist auch nicht getestet worden. Aber bei dem großen Rinderbestand, den wir in Bayern hatten und noch haben, war ich immer der Meinung, wenn getestet wird, werden wir in Bayern auch BSE-Fälle haben. Damit habe ich gelebt, das habe ich gewusst. Und ich hatte tatsächlich Angst auch vor dem Tag, wo es dann damit losging mit dem Testen. Und ich habe dann die BSE-Fälle, wenn auch nur sehr wenige, sehr viel schneller gehabt, als ich es hätte letztlich auch mir vorstellen können. Vertuscht habe ich gar nichts, das ist mir damals unterstellt worden, aber wenn Sie jeden Tag mehr mit dem Rücken zur Wand stehen, haben Sie keine Chance mehr. Und ich bin mir am Schluss so vorgekommen, als ob ich die Tiere selber im Stall gefüttert hätte.
Hamberger: Und Sie sind dann zum Rücktritt quasi gedrängt worden?
Stamm: Ich bin da mal so ehrlich und sage, ich bin nicht aufgefordert worden, zurückzutreten, aber ich habe von Tag zu Tag gemerkt, dass es immer schwieriger wird für eine Regierung, für einen bayerischen Ministerpräsidenten, damals Edmund Stoiber, auch noch wirklich Politik zu gestalten, und der Ministerpräsident auch immer mehr in den Strudel da mit hineinkam. Und dann wurde der Druck einfach so stark, dass ich gedacht habe, trete zurück. Die Entscheidung war richtig, am übernächsten Tag war BSE nicht mehr das schlimme, schreckliche Thema.
Hamberger: Haben Sie sich auch ein Stück weit als Bauernopfer gefühlt?
Stamm: Damals, muss ich wirklich sagen, da habe ich wirklich gedacht, jetzt bricht einfach etwas zusammen. Und ich hatte nur zwei Möglichkeiten, zu sagen, ich bleibe am Boden liegen, oder zu sagen, ich stehe wieder auf und ich bin noch da. Da muss ich sagen, da hatte ich auch ein gutes Umfeld, Familie, Kinder, Freunde, in dem Fall auch politische Freunde im wahrsten Sinne des Wortes, die gesagt haben, komm, am Boden bleibst du nicht liegen.
Die Verantwortung Europas
Hamberger: Springen wir mal kurz in der Zeit, gehen dann noch mal auf 2013 auf die Verwandten-Affäre, die Sie ja nicht Verwandten-Affäre nennen wollen, zurück. Dieses Jahr 2015, das war wirklich im politischen Ton sehr hart, da wurde sehr viel gestritten, das war ein Jahr, wo Sie sich aber zum Beispiel auch in der Flüchtlingshilfe engagiert haben, während Ihre Partei gleichzeitig dann doch mit sehr scharfen Worten ausgeteilt hat, so scharf, dass zum Teil die Kirche gesagt hat, das ist nicht mehr der Ton, den wir hinnehmen wollen, sich auch in Teilen gegen die CSU gestellt hat. Haben Sie das Gefühl, da hat Ihre eigene Partei in diesem Jahr das S im Parteinahmen mal vergessen?
Stamm: Weniger vielleicht sogar das S, sondern vielleicht ein Stück mehr auch das C, zumindest in unserer Darstellung nach außen, würde ich das einmal so formulieren. Deswegen habe ich mich ja damals auch sehr, sehr differenziert verhalten. Und Gott sei Dank haben wir heute hier einen weitaus größeren Konsens, obwohl ich auch immer wieder, ich glaube, es vergeht keine Woche, wo ich nicht darum ringe und sage, überlebt euch mal hier ein Bleiberecht, wenn so und so viele einfach ein Hiersein selbstverständlich geworden ist, keine Straftaten bestanden haben, Kinder hier zur Welt gekommen sind, Ausbildungsverträge in der Tasche sind – also hier würde ich mir auch noch ein Stück mehr Differenzierung auch wünschen, das sage ich ganz, ganz offen. Ich bin aber sehr, sehr froh, dass wir diesen Ton nicht mehr anschlagen.
Ich erinnere allerdings Europa mehr an die Verantwortung, ich finde es einfach nicht mehr hinnehmbar, wie sich Europa verhält gemeinsam in dieser Flüchtlingsfrage, wenn man da auch die Fernsehbilder letztlich sieht. Wir können uns nicht überfordern, das ist auch richtig, es ist nicht nur Deutschland gefragt, es ist nicht nur Bayern gefragt, es ist Europa insgesamt gefragt. Aber man sieht das ja jetzt auch in Zeiten der Pandemie, wir können nicht sagen, dass wir alles bewältigen und dass wir alles im Griff haben, wenn ich nur mal an das Impfen denke. Wenn wir gut durchgeimpft sind, dann ist die Frage, wie sind die ganz armen Länder, die nicht an den Impfstoff rankommen. Und irgendwann müssen wir es ernsthaft sagen, wie verteilen wir jetzt wirklich möglichst rasch auch Impfstoff an diejenigen, die ihn dann weitaus dringender benötigen – jetzt vielleicht schon dringender benötigen als wir.
Stamm und die sogenannte Verwandten-Affäre
Hamberger: Wir gehen noch mal zurück ins Jahr 2013, die sogenannte Verwandten-Affäre. Da haben CSU-Abgeordnete Familienmitglieder illegal beschäftigt. Damals waren Sie eben Landtagspräsidentin, standen dann auch scharf in der Kritik, ein Vorwurf war: Sie haben die Abgeordneten zu sehr geschützt, weil Sie lange auch keine Namen preisgeben wollten. Würden Sie da aus heutiger Sicht was anders machen?
Stamm: Ob Sie es glauben oder nicht, das ist ein Thema, das rumort immer noch in meinem Innersten. Bei BSE, da wusste ich, gut, das ist Politik, da muss ein Politiker oder eine Politikerin zurücktreten, obwohl sie in der Sache gar nichts dafür kann. Aber was die Verwandten anbelangt, man muss ja sehen, wenn man so lange im Landtag ist wie ich und über all die Jahre ja die Kollegen und Kolleginnen kennt, aber nicht nur die Kolleginnen und Kollegen, sondern auch in den meisten Fällen, was ja bei dieser Verwandten-Situation so gewesen ist, die Ehefrauen kennt und man auch freundschaftlich miteinander verbunden ist, man auch immer wieder erlebt hat, dass das wirklich Ehefrauen sind, die drehen nicht Däumchen, sondern die haben wirklich für ihre 450 Euro etwas getan auch, das war dann schwierig, dass dann im Grunde genommen alle so gleich beurteilt worden sind. Und dadurch, dass wir natürlich auch diese gravierenden Ausreißer hatten, sind da alle in die Verantwortung mit hineingezogen worden. Das war für mich menschlich so schwierig.
Und ich meine, der Eindruck, dass ich da die Abgeordneten zu sehr geschützt habe, den Eindruck kann ich nicht aus der Welt schaffen, weil es wohl so gewesen ist, aber ich natürlich auf der anderen Seite ganz klar gewusst habe, die Dinge müssen so geregelt werden, dass das in der Zukunft nicht mehr möglich ist. Und diese Kraft hatte ich dann auch, das zu tun.
Hamberger: Und was rumort da noch Ihnen, dass Sie sagen, hätte ich damals anders handeln müssen?
Stamm: Das rumort noch in mir, dass ich da natürlich sehr viel menschliches Leid auch wieder verursacht habe. Sie müssen einfach sehen, dass das ja Kollegen waren, die schon Jahre aus dem Landtag waren, die ich ja dann plötzlich wieder veröffentlichen musste, so nach dem Motto: Wer hat das eigentlich alles in Anspruch genommen, dass ich eben meine eigene Ehefrau oder Verwandtenbereich beschäftigt habe. Das war ja nicht unerlaubt, das war ja gesetzlich auch geregelt, es hat da nur die Übergangszeit gegeben. Und die Übergangszeit sei dann im Grunde genommen so lange gegangen, bis man halt aus dem Landtag ausgeschieden ist. Ganz wenige haben das ja während ihrer Abgeordnetentätigkeit noch geändert. Und da muss man einfach sehen, das waren Kollegen, die schon Jahre nicht mehr im Landtag waren und trotzdem wieder ihren Namen gefunden haben auch in der Negativbeurteilung et cetera et cetera.
Masken-Affäre - "Wütend ist da gar kein Ausdruck"
Hamberger: Was, glauben Sie, hat damals dazu geführt, dass es diese Verwandten-Affäre überhaupt gab, dass da der eine oder andere eben die eine oder andere Regel etwas weiter ausgelegt hat, gab es da ein Gefühl, das geht schon?
Stamm: Das war so, die Regel war also nicht weiter ausgelegt, sondern es war tatsächlich so gewesen, ich habe jeden Moment eine Mitarbeiterentschädigung bekommen und der Abgeordnete oder die Abgeordnete konnte selbst entscheiden, wer beschäftigt wird. Das musste dann nur angezeigt werden am Schluss des Jahres, dass das Geld ausgegeben worden ist, wer es gemacht hat et cetera. Das war legal gewesen. Und dann wurde das aber vor meiner Zeit schon mal angesprochen, dann hat man gesagt: Neue Anstellungen von Familienmitgliedern dürfen nicht mehr stattfinden. Und die, die es bisher gemacht haben, die haben so eine Art Bestandsschutz gehabt. Keine neuen mehr, aber du hast eine Art Bestandsschutz. Nun ist man nicht davon ausgegangen, dass der Bestandsschutz so lange dauert und dass der so lange anhält, das war es halt dann, dass man das im Grunde nicht rechtzeitig erkannt hat, war ja nicht nur in meiner Verantwortung, aber ich war halt zur damaligen Zeit in der Verantwortung gewesen. Und jetzt gibt es ganz klare Regelungen, das ist auch gut so.
Hamberger: Die CSU hat damals tatsächlich auch ziemlich aufgeräumt, also es gab neue Regelungen, dann musste damals auch der Fraktionsvorsitzende gehen und es gab einen Verhaltenskodex, der dann eingeführt worden ist. Waren Sie überrascht über diese Maskenaffäre und die Dimension, die diese Maskenaffäre vor allem jetzt annimmt?
Stamm: Ich muss Ihnen sagen, ich war nicht überrascht, ich habe mir da gar nicht vorstellen können, dass es sowas gibt. Ich kann es mir auch heute noch nicht vorstellen. Man muss sich mal überlegen, ich habe das ja hautnah miterlebt, ich bin Vorsitzende der Lebenshilfe in Bayern, ich bin ehrenamtlich gerade auch im Caritas-Bereich unterwegs. Wenn ich daran denke, letztes Jahr, also 2020 zu Beginn der Pandemie, wir hatten keine Masken, wir hatten keine Schutzkleidung, weder für unsere Behinderten noch für die Altenheime, es war ja nichts da. Wir haben darum gekämpft, wir haben gerungen, wir haben geschaut, wo kriegen wir Masken her. Ich selbst habe mit dafür gesorgt in unseren Behindertenwerkstätten oder wo auch immer, dass wir ans Nähen von Masken und Schutzkleidung gegangen sind, bis wir mal was gekriegt haben. Und dann mussten Preise bezahlt werden.
Dass es da Menschen gibt, noch dazu Kollegen, die daran verdienen, an der Not der Menschen? Also, ich kann es nicht fassen, ich kann es nicht glauben und ich hätte es mir nicht vorstellen können. Da und dort, da lässt man sich mal bestechen und da gibt es eine Korruption – und dann verurteilt man das auch. Aber hier ging es doch um eine Not, das ist doch der einzige Schutz für viele, wenn ich an die vielen Pflegekräfte auch denke, die wir schutzlos im Grunde genommen in dieser ersten Phase haben stehen lassen müssen, weil wir nichts hatten.
Hamberger: Und hat Ihre Partei richtig reagiert?
Stamm: Ja, da bin ich stolz drauf. Da bin ich jetzt dann wieder stolz drauf, man soll ja nicht vorverurteilen, das steht mir auch gar nicht zu, aber ich muss also wirklich sagen, vom Moralischen her, wie sagt man immer so schön, nicht alles, was legal ist, ist letztlich auch legitim, um das wieder sehr formal auszudrücken. Aber da muss ich sagen, wütend ist da gar kein Ausdruck.
Die Zukunft der CSU – über die Chancen von Volksparteien
Hamberger: Ich würde gerne mit Ihnen noch mal zum Schluss auf Ihre Partei und auf Parteiengeschichte zurückschauen. 1976, als Sie als Nachrückerin in den Landtag eingezogen sind, das ist ja das Jahr des Kreuther Trennungsbeschlusses, also als die CSU kurzzeitig zumindest beschlossen hat, die Fraktionsgemeinschaft mit der CDU aufkündigen zu wollen. Können Sie mal erzählen, wie Sie das damals als wirklich junge Abgeordnete erlebt haben?
Stamm: Ich habe mich der Stimme enthalten in der Fraktion, bin dann unangenehm aufgefallen, Strauß hat gesagt, wer ist denn das? Er hat mich ja noch nicht gekannt, ich war ja erst ganz kurz in der Fraktion, ich bin ja erst praktisch nach der Sommerpause nachgerückt.
Hamberger: Im November war der Beschluss.
Stamm: Genau. Und damals, mich hat es so beeindruckt, der Anton Jaumann, der damalige Wirtschaftsminister, der war fürchterlich dagegen gewesen, da hat Bruno Merk, der Innenminister, und der [Erich] Kiesl, München, das waren die drei, die auch im Angesicht von Franz Josef Strauß sich getraut hatten, dagegen aufzutreten. Und ich glaube, es waren keine fünf Enthaltungen, die es in der Fraktion gegeben hat. Und ich habe mich der Stimme enthalten.
Hamberger: Und was war der Grund damals dafür?
Stamm: Ja, weil ich es nicht verstanden habe, weil ich gesagt habe, warum sollen wir uns jetzt trennen? Ich wusste natürlich auch, gerade bei uns in Franken, die CDU wäre hier gekommen, das wäre ja damals wirklich richtig realistisch gewesen. Und da habe ich gesagt: Warum, gibt doch keinen Grund, sich hier zu trennen. Ich meine, so hochpolitisch war ich ja damals auch noch nicht eingebunden in den ganzen Parteiapparat oder wie auch immer.
"Ich habe Franz Josef Strauß sehr viel widersprochen"
Hamberger: Und gab es da noch mal hinterher in irgendeiner Form Ärger für Sie oder war das mit dem einen wer war das erledigt?
Stamm: Nein, nein, ich habe ja Franz Josef Strauß sehr viel widersprochen. Ich habe mit ihm… Oder wir Frauen hatten mit ihm eine Riesendiskussion über Frauen im Polizeivollzugsdienst, das war ja erst Ende der 80er-Jahre, Frauen waren bei der Kripo, aber nicht im Polizeivollzugsdienst. Und wir haben ihn gefragt, warum Frauen nicht in den Polizeivollzugsdienst dürfen. Damals haben wir in der CSU schon die Diskussionen geführt, traut man uns gar nicht zu, aber wir haben sie mit ihm geführt. Da sagte er, nee, das will er nicht, das ist kein Beruf für Frauen, wenn die da in Schlägereien kommen. Das war alles gut gemeint von ihm, ja, aber da haben wir gesagt, es muss eine Frau nicht in Polizeivollzugsdienst gehen, aber wenn sie es will, warum nicht? Und dann haben wir zu ihm gesagt, wir sagen es Ihnen, Herr Ministerpräsident, Sie werden in die Situation kommen, wo Sie mit dem männlichen Nachwuchs die Sollstärke in der Polizei nicht mehr erfüllen können. Und der musste vor seinem Tod die Entscheidung noch revidieren, noch vor seinem Tod. Und ich fand das schlimm, dass dann immer erst Frauen Zugang eröffnet wurde, wenn es mit männlichem Nachwuchs nicht mehr geht.
So Diskussionen… Und wie er mich 1987 ins Kabinett berufen hat, wie er mir da gesagt hat, er hat sich entschlossen, mich in der Regierung zu haben, da habe ich gesagt, mich? Da war er ganz, das hat er gar nicht verstehen können, ich habe gesagt, mich Widerspruchsgeist wollen Sie bei sich in der Regierung haben? Und ich mache das auch heute noch, ich überlege vielleicht, bin nicht mehr ganz so spontan und vielleicht manchmal auch weniger emotional oder sonst irgendwas, aber es gibt Dinge, da bleibe ich emotional, weil ich denke, das gehört heute auch noch mit zur Politik. Und zum anderen bin ich schon der Meinung, auch wenn es nicht ankommt, soll man trotzdem, um auch einen vernünftigen Dialog zu führen, auch seine Meinung einbringen können. Das gehört zum guten demokratischen Stil, nicht aus der Angst heraus, es könnte mir jetzt was passieren oder ich könnte jetzt mal was nicht mehr werden, sage ich mal lieber meine Meinung nicht. Was ich ganz besonders liebe, ist, wenn ich dann lese oder auch in einem Kommentar im Hörfunk höre, ein Führender, meistens sind es ja Führende, ein Führender im Parteivorstand oder ein Führender des Präsidiums will also nicht genannt werden. Dann schweige ich halt, wenn ich nicht genannt werden will, dann schweige ich.
Hamberger: Und das ist damals aber mit Strauß möglich gewesen, dieser Meinungsaustausch?
Stamm: Ich muss sagen, man meint immer, man konnte mit Strauß nicht diskutieren, stimmt nicht.
Hamberger: Sie konnten es zumindest.
Stamm: Ich hab es mir erlaubt.
Hamberger: Und das hat Ihnen in Ihrer Karriere nie geschadet?
Stamm: Man sieht es ja, er hat mich ins Kabinett berufen.
"Wir müssen uns Zeit nehmen für das Gespräch"
Hamberger: Wie schauen Sie denn so grundsätzlich so auf die Entwicklung Ihrer Partei, der Volkspartei CSU? Sie haben vorhin schon von dieser Leberkäse-Etage gesprochen, von Strauß, der ja auch gesagt hat, die CSU muss sich trotzdem auch um die Sekt- oder Champagner-Etage bemühen. Das ist ja doch ein sehr breites Feld, das die CSU da eben abdeckt.
Stamm: Eine Volkspartei muss das.
Hamberger: Es ist trotzdem jetzt die Diskussion darüber, kann eine Partei wie die CSU, auch die CDU, können die überhaupt noch Volksparteien bleiben. Wir haben es an der SPD gesehen, die sehr stark eingebüßt hat, die in den Umfragewerten kaum noch über die 15, 16 Prozent hinauskommt, wo man das Gefühl auch hat, da ist langsam dieser Zusatz "Volkspartei" vielleicht auch nicht mehr der richtige. Wenn Sie das so aus Ihrer politischen Erfahrung sehen, glauben Sie die Zeit der Volkspartei ist möglicherweise auch vorbei?
Stamm: Ich würde es so nicht sehen, weil wir haben… Volkspartei, der Begriff kommt ja deshalb, dass ich eine Bandbreite eben auch in der Partei habe. Ich war ja in den zurückliegenden Jahren fast bei allen Koalitionsverhandlungen auf der Bundesebene mit dabei gewesen und habe da natürlich auch meine Partei erfahren, meine Union erfahren. Wenn ich also dann um Pflege mich bemühe, wenn ich mich um Familien, um Alleinerziehende bemühe, immer waren diese Themen ja da, dann habe ich natürlich immer wieder auch einen Wirtschaftsflügel erlebt, von dem ich auch gelernt habe. Da muss man dann letztlich auch abwägen, das ist diese Bandbreite. Aber ich muss immer schauen, dass ich also sozusagen auch mich in der Mitte aufhalte. In der Mitte muss ich mich aufhalten, dieses Bürgerliche auch.
Und wir haben heute jetzt noch nicht groß über die Grünen gesprochen, aber das ist ja ein Punkt, die haben ja im Grunde genommen mittlerweile auch ein ganz anderes Klientel an Wählern und Wählerinnen und sind auch in der Breite sehr viel mehr aufgestellt, als sie das in den früheren Jahren waren. Es gibt ja mittlerweile, wenn ich an meine eigene Familie denke, meine Tochter, die im Grunde genommen aus Prinzip von den Grünen wieder weggegangen ist, weil sie mal aus anderen Beweggründen zu den Grünen gegangen ist. Und wichtige Ideale, die sie bewogen haben, zu den Grünen zu gehen, plötzlich nicht mehr in diesem Umfang vorgefunden hat. Insofern sieht man dann eben auch schon, dass die breiter aufgestellt sind, und insofern muss sich die Union und auch wir in der CSU, wir sind da noch besser dran wie die CDU, zumindest derzeit, um diese Bandbreite... und das heißt eben, Kompromisse zu schließen, auch die Situation zu sehen jetzt in der Pandemie, ich darf nicht nur die Probleme der Großwirtschaft sehen, die funktioniert ja bestens, sondern der kleinen Leute, die sich etwas erarbeitet haben, die nie was vom Staat geschenkt bekommen haben. Die sagen, Überbrückungshilfen, auch wenn sie bürokratisch sind, schön und gut, aber ich will wieder das tun, was ich gelernt habe, ich will mich wieder engagieren, ich möchte wieder mitten im Leben auch mit dabei sein durch mein Wissen und durch mein Können. Oder auch die Situation von Menschen, die sich eben schwertun, von Kindern, mit solchen Schwierigkeiten umzugehen, die Menschen müssen spüren, dass wir an ihren Lebenslagen nicht nur interessiert sind, sondern dass sie das Vertrauen haben, dass ihre Lebenssituation auch mit guten Rahmenbedingungen versehen wird.
Hamberger: Und ist das heute schwerer als früher, Volkspartei zu sein?
Stamm: Mit Sicherheit, weil die Gesellschaft sich verändert hat.
Hamberger: Man muss sich also mehr Mühe geben?
Stamm: Nicht nur mehr Mühe, sondern man muss auch diesen mühsamen Dialog ganz selbstverständlich führen. Wir sehen es ja bei uns selber, wenn früher unsere Eltern was gesagt haben oder in der Schule, das machst du jetzt und das tust du jetzt, wann haben wir das mal hinterfragt? Heute hinterfragen schon die Kleinsten, Gott sei Dank gibt es die aktive Großelterngeneration, die auch die vielen Fragen von Kindern, von Kleinstkindern auch beantworten kann, auch die Zeit dafür zu haben. Ich glaube, dass der Zeitfaktor, sich Zeit zu nehmen für die Kinder, sich Zeit zu nehmen für die Familie, sich Zeit zu nehmen, was gerade momentan auch aktuell ist, wir dürfen nicht mehr so gehetzt durch die Gegend gehen. Wir müssen uns Zeit nehmen für den Dialog, für das Gespräch. Ich bin präsent, ja. Da wird immer drüber diskutiert auch im Hinblick auf die Bundestagswahl, wir dürfen nicht nur Personen in den Mittelpunkt stellen, auch das Programm. Ich sage, jeder weiß heute, dass Persönlichkeit eine Riesenrolle spielt, gerade was die Vertrauenssituation anbelangt. Aber Persönlichkeit kann auch Programm sein, wofür steht er, wofür steht sie, kann ich darauf vertrauen? Diese Vertrauensfrage, die ist natürlich zunehmend dieses Skeptische, das Hinterfragen, kommt das auch so?
"Das aktive Politikerinnenleben fehlt mir eigentlich nicht"
Hamberger: Zum Schluss die Frage: Man merkt im Gespräch, Sie sind noch wahnsinnig in der aktuellen Politik drin. Sie wollten damals auch nicht ganz freiwillig den Landtag verlassen, es hat damals einfach aufgrund des Gesamtergebnisses der CSU nicht ausgereicht. Sie sind aber in kein Loch gefallen, Sie haben ja wahnsinnig viele Ämter, Ehrenämter. Fehlt Ihnen trotzdem dieses aktive Politikerinnenleben?
Stamm: Also, das aktive Politikerinnenleben fehlt mir eigentlich nicht. Da muss ich sagen, das habe ich besser verkraftet, als ich gedacht habe. Aber was mir fehlt, dass man, wie soll ich das jetzt formulieren, ich glaube, ein bisschen weiß man noch etwas, auch aus der Erfahrung heraus, gerade jetzt auch in der Pandemie. Da hätte ich mir schon sehr gewünscht, nicht um laut zu sein, sondern einfach mal, du sag mal, wie würdest du das machen oder wie siehst du das oder sind wir da auf dem richtigen Weg? Einfach auch dieses Wissen, das man hat, und diese Erfahrung, die man hat, und ich bilde mir auch noch ein, nein, ich bilde es mir nicht ein, es ist tatsächlich so, nachdem sich noch viele, viele Menschen an mich wenden, dass ich auch noch weiß, wie viele Menschen denken, was ihre Befindlichkeiten sind, wo sie nicht gehört werden, wo sie nicht gesehen werden, wo sie sich durch eine Bürokratie schlagen müssen, die für viele nicht mehr nachvollziehbar ist. Nicht, dass ich da jetzt am aktiven Politikgeschehen oder Verantwortlichkeit nicht mehr mit dabei bin, sondern, ja, dass man weiß, da ist noch jemand, ein bisschen was könnte sie uns schon noch sagen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.