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Bares Geld für zweifelhafte Medizin

Seit 1998 gibt es Individuelle Gesundheitsleistungen. Diese IGeL-Leistungen müssen Kassenpatienten aus eigener Tasche bezahlen. Quer durch die verschiedenen Fachrichtungen ist seitdem ein bunter Markt entstanden.

Von Nikolaus Nützel |
    Als Christel Höhn vor einiger Zeit zum Augenarzt ging, war es erst einmal ein ganz normaler Arztbesuch. Der Betriebsmediziner ihres Arbeitgebers hatte der Brillenträgerin empfohlen, sich genauer untersuchen zu lassen. Am Empfang sagte Christel Höhn der Arzthelferin, dass sie keine kostenpflichtigen Zusatzleistungen möchte – sondern nur das, was ihre Krankenkasse bezahlt. Die Helferin ließ sie daraufhin einen drei Seiten langen Bogen ausfüllen.

    "Dick gedruckt stand drin, wenn man IGeL- oder individuelle Gesundheitsleistungen möchte, dann wird der Arzt einen noch einmal aufklären."

    Christel Höhn füllte den Bogen aus und betonte noch einmal, dass sie nur Kassenleistungen in Anspruch nehmen wolle, die mit ihrem monatlichen Beitrag abgegolten sind - keine weiteren. Als dann die Untersuchung begann, sei nicht weiter von Geld die Rede gewesen.

    "Und 14 Tage später bekomme ich eine Rechnung. Und dann bin ich erst mal explodiert."

    Es sei ihr dabei nicht um die 30 Euro gegangen, die in der Rechnung standen, sondern um eine Grundsatzfrage, betont Christel Höhn. Sie wollte nicht gegen ihren Willen beim Arzt etwas bezahlen.

    Dass Kassenpatienten bestimmte Leistungen aus eigener Tasche zahlen müssen, weil ihre gesetzliche Krankenversicherung dafür nicht aufkommt, ist schon lange gängige Praxis. Vor fünfzehn Jahren hat die Kassenärztliche Bundesvereinigung dafür einen eigenen Begriff erfunden: Individuelle Gesundheitsleistungen, kurz IGeL-Leistungen. Quer durch die verschiedenen Fachrichtungen ist seitdem ein bunter Markt entstanden – und dieser Markt entwickelt sich laufend weiter. Allerdings sind IGeL-Leistungen - von Akupunktur über verschiedene Vorsorgeuntersuchungen bis zur professionellen Zahnreinigung - immer eine umstrittene Grauzone geblieben. Es gibt zwar Schätzungen des AOK-Bundesverbandes, wonach Kassenpatienten jährlich rund eineinhalb Milliarden Euro für Zusatzleistungen ausgeben. Wie viel Geld aber tatsächlich fließt, weiß niemand konkret. Nur eines sei sicher, meint Peter Friemelt von der Bundesarbeitsgemeinschaft der Patientenstellen: IGeL-Leistungen sind längst gang und gäbe.

    "Was ich bestätigen kann, dass wir immer mehr Anfragen bekommen zu dem Thema. Tatsächlich, dass sich das zu einem Standard entwickelt. Also nicht mehr im Einzelfall werden IGeL-Leistungen angeboten, sondern aufgrund der Zahlen, die bei uns landen, würde ich mal sagen, es passiert fast allen Patienten."

    Der Patientenberater ist darüber nicht glücklich. Denn nach seinen Erfahrungen wird in den Arztpraxen immer wieder gegen Regeln für den Umgang mit IGeL-Leistungen verstoßen; Regeln, die auch die Ärzteverbände unterstützen. Wer sich beispielsweise Vitaminspritzen geben lässt oder den Arzt für Darmspülungen bezahlt, der sollte über Vor- und Nachteile aufgeklärt werden. Ihm sollte zudem eine angemessene Bedenkzeit eingeräumt werden, heißt es in Empfehlungen etwa der Bundesärztekammer. Auch sollte der Patient schriftlich in die Behandlung einwilligen. Doch in den Praxen läuft es oft ganz anders, weiß Peter Friemelt:

    "Da sagt der Arzt, ich mach da irgendwas, und am Ende wird einem dann die Rechnung vorgelegt, beziehungsweise nur ein Quittungsblock oft, wo dann draufsteht 30 Euro für die und die Behandlung. Dann zahlen die Patienten das und stimmen mehr oder weniger durch die Bezahlung der Behandlung zu. Das entspricht natürlich nicht den Regeln, wie es sein sollte. Die Patienten müssten dann eigentlich tatsächlich nichts zahlen, aber die Patienten sind meistens so perplex, dass sie doch zahlen."

    Die Patientenberatungsstellen geben deswegen Kassenpatienten einen einfachen Rat:

    "Wir empfehlen den Leuten, gehen Sie lieber ohne Geld zu ihrem Arzt, ohne Bargeld und ohne EC-Karte. Weil dann haben Sie auch immer noch die Möglichkeit, sich das länger zu überlegen."

    Viele Ärzteverbände bestreiten, dass es nennenswerte Probleme mit individuellen Gesundheitsleistungen gebe. Eine der am häufigsten verkauften IGeL-Leistungen ist die Messung des Augeninnendrucks. Diese Vorsorgeuntersuchung, die in der Regel zwischen zehn und 20 Euro kostet, soll helfen, Erkrankungen des Auges frühzeitig zu erkennen – im Medizinerdeutsch: Glaukom. Auch der Sprecher des Berufsverbandes der Augenärzte, Georg Eckert, bietet diese Leistung seinen Patienten an. In seiner Praxis in der bayerischen Kleinstadt Senden, wie auch bei den meisten Kollegen, sei das Routine, sagt Eckert:

    "Dazu darf man aber auch sagen, dass Patienten zunehmend ein riesengroßes Verständnis haben und dass in der Praxis eigentlich keine Probleme erkennbar sind."

    Wie der Patientenberater Friemelt, stellt auch der Augenarzt Eckert also fest, dass die Patienten sich an die IGeL-Leistungen inzwischen gewöhnt haben. Eckert findet das rundum positiv:

    "Also der Patient würde, wenn er den Eindruck hat, dass hier eine unseriöse Situation vorliegt und dass hier Dinge nicht überzeugend angeboten werden, der Patient würde dann mit den Füßen abstimmen. Und das ist eigentlich eine sehr gute Gegenkontrolle. Und im Allgemeinen werden diese Themen im Großen und Ganzen sehr ordentlich rübergebracht. Und man muss eigentlich sagen, eine Medizin entsprechend den neuesten Erkenntnissen ist ohne eine vernünftige Selbstzahlermedizin inzwischen einfach nicht mehr denkbar."

    Die Messung des Augeninnendrucks ist nach Ansicht von Georg Eckert ein Beispiel für Medizin, die den neuesten Erkenntnissen entspricht. Trotzdem zahlen die gesetzlichen Kassen nicht dafür. Denn nach Ansicht der Gremien, die darüber entscheiden, was Kassenleistung sein soll und was nicht, ist der Nutzen keineswegs so eindeutig, wie ihn der Verband der Augenärzte sieht. Auch beim Medizinischen Dienst der Krankenversicherung hält man es keineswegs für bewiesen, dass die kostenpflichtige Glaukomvorsorge den Patienten etwas bringt. Die Ärztin Monika Lelgemann arbeitet beim Medizinischen Dienst und sieht die Einschätzungen ihrer Kollegen vom Augenärzte-Verband sehr kritisch:

    "Man muss nun gerade bei dem Thema der Glaukomfrüherkennung sagen, dass insbesondere die Leitlinie, die es hier seitens des Berufsverbandes der Augenärzte gibt, wirklich methodischen Kriterien in keinster Weise standhält. Und zwar nicht nur unseren methodischen Kriterien, sondern insbesondere denen der Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlichen und medizinischen Fachgesellschaften. Und ich wäre sehr glücklich, die Augenärzte würden das erstellen und uns zeigen, auf welche Studien sie sich beziehen. Ich glaube, dass da einfach bisher eine echte, ehrliche und faire Auseinandersetzung mit der zugrunde liegenden Datenlage fehlt."

    Monika Lelgemann betreut auch ein Internetportal, das der Medizinische Dienst der Krankenkassen vor einem Jahr gestartet hat. Der "IGeL-Monitor" bewertet derzeit 28 Leistungen, die in deutschen Arztpraxen besonders häufig gegen Bargeld angeboten werden. Sie habe in den vergangenen zwölf Monaten einiges dazugelernt, meint die promovierte Medizinerin:

    "Wenn mir eins klar geworden ist in diesem letzten Jahr dann, wie ungeregelt und wie intransparent dieser IGeL-Markt da draußen ist. Wir wissen einfach im Grunde viel zu wenig darüber, was dort in welcher Form, zu welchem Preis, für wen an Leistungen erbracht wird."

    Mehr Transparenz in den milliardenschweren Markt der Individuellen Gesundheitsleistungen zu bringen – dieses Ziel haben sich auch die Bundesärztekammer und die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) gesetzt. Sie haben vor einigen Wochen eine überarbeitete Neuauflage einer Ratgeberbroschüre veröffentlicht. Als der Präsident der Bundesärztekammer, Frank Ulrich Montgomery, die Broschüre beim Deutschen Ärztetag ankündigte, machte er eines deutlich: Er sieht es mit einer gewissen Skepsis, wenn Patienten in der Praxis den Geldbeutel zücken sollen.

    "Die IGeL-Broschüre soll festlegen, wie ein Arzt sich zu verhalten hat, welche Rechte der Patient hat. Und sie richtet sich ja ganz bewusst nicht nur an die Ärzte, sondern auch an die Patienten. Und es sind dort auch Hinweise drin, aus denen man entnehmen kann, dass ein Arzt einem vielleicht überflüssige Leistungen andrehen will, nur um damit Geld zu verdienen."

    Tipps zu einzelnen Leistungen gibt es in der Broschüre allerdings nicht – bis auf eine Ausnahme: Über eine kostenpflichtige Untersuchung, die vielen Patientinnen beim Frauenarzt angeboten wird, fällt die Infoschrift ein klares Urteil.

    Eine Studie zum Ultraschall zur Früherkennung von Eierstockkrebs hat zum Beispiel gezeigt, dass die Sterblichkeit durch Eierstockkrebs nicht gesenkt werden konnte. Aber deutlich mehr Frauen wurden die Eierstöcke wegen einer Verdachtsdiagnose entfernt.

    Nach Einschätzung wichtiger Spitzenverbände der deutschen Ärzteschaft hat diese Vorsorgeuntersuchung also nicht nur keinen Nutzen. Sie kann Patientinnen sogar schaden. Trotzdem bieten viele Frauenärztinnen und Frauenärzte diese Selbstzahlerleistung an, sie kostet zwischen rund 20 und 50 Euro. Eine Praxis in Brandenburg beispielsweise wirbt dafür mit diesen Worten:

    Eine regelmäßige Ultraschalluntersuchung verbessert die Früherkennung von Erkrankungen der Eierstöcke (zum Beispiel Zysten, Tumore) und der Gebärmutter und damit die Heilungschancen entscheidend.

    Die Münchner Frauenärztin Silke Bartens liest solche Werbeslogans von Fachkollegen mit Kopfschütteln.

    "Das ist für mich eine ganz klare falsche Aussage. Das stimmt nicht, das ist mit Studien überhaupt nicht belegt. Im Gegenteil. Es ist immer wieder gezeigt worden, dass diese Untersuchung gerade bei dieser Erkrankung Eierstockkrebs keinen Vorteil für die Patienten und fürs Überleben der Patienten bietet. Also es gab, glaube ich, wieder eine Zusammenfassung 2011, die gezeigt hat, dass es keinen zusätzlichen Gewinn durch diese Untersuchung gibt, bei beschwerdefreien Patientinnen. Leider. Das ist so."

    Auch Silke Bartens schaltet regelmäßig das Ultraschallgerät ein, das in ihrer Praxis steht. Begleitet vom charakteristischen Rauschen des Sonografen untersucht sie ihre Patientinnen. Von kostenpflichtigen Checks der Eierstöcke, ohne dass die Patientinnen irgendwelche Beschwerden hätten, rät sie allerdings ab.

    "Es werden zum Teil Befunde gezeigt, die überhaupt keinen Krankheitswert haben, die die Patienten aber verunsichern. Und es gibt Patienten, die sagen, ja ich habe da eine Zyste gehabt - aber die Zysten bei der jungen Frau sind in der Regel völlig harmlos, verschwinden von selber. Dafür bräuchte es diese Untersuchung nicht. Insofern richtet diese Untersuchung, diese Leistung, diese IGeL-Leistung, die richten auch einen gewissen Schaden an."

    Trotzdem wird die Münchner Gynäkologin von ihren Patientinnen immer wieder nach dieser Untersuchung gefragt. Frauen, die von Kollegen zu ihr wechseln, sind es gewohnt, dass der kostenpflichtige Ultraschall mit dazugehört.

    "Das macht's manchmal schwierig in dem neuen Arzt-Patienten-Verhältnis, weil die Patientinnen glauben, sie werden schlechter behandelt. Also ihnen wird eine Leistung vorenthalten. Und das wird einem ja auch vermittelt, wenn einem das angeboten wird, wenn du das zusätzlich machst, dann kannst du aus der Praxis gehen, und du kannst das Gefühl haben, du bist gesund. Aber das ist ein Trugschluss."

    Die meisten Patienten haben inzwischen die Lektion gelernt, dass sie für bestimmte Dinge selbst bezahlen müssen. Und auch viele Ärzte haben sich daran gewöhnt, etwa kostenpflichtige Vorsorgeuntersuchungen anzubieten. Silke Bartens hält das für eine fatale Entwicklung:

    "Dass die jungen angehenden Ärzte immer weniger lernen, dass sie ohne Geräte eine Diagnose stellen können. Und dass viele das Gefühl haben, sie müssen den Ultraschall zum Beispiel machen, um sicher zu sein, dass da nichts ist. Und dass da kaum noch nachgedacht wird darüber, was man da eigentlich macht. Und dass das eigentlich wenig Vorteile oder gar keine Vorteile für die Patientin bringt."

    Doch nicht nur Unsicherheit steckt dahinter, wenn Ärzte den Ultraschallapparat für kostenpflichtige Untersuchungen anwerfen.

    "Das ist natürlich ein teures Gerät, das muss man neu kaufen, das muss man warten, das kostet Geld, und das soll sich natürlich rechnen, ja."

    Rund um das Geschäft mit IGeL-Leistungen haben sich weitere Geschäftsfelder entwickelt, Seminare beispielsweise. Einer der Anbieter solcher Schulungen ist Fabian Stehle. "Verkaufen wie die Profis" heißt einer seiner Kurse. Was man bei ihm lernen kann, fasst er in knappen Worten zusammen:

    "Wie kann ein Arzt oder ein Praxisteam sinnvolle Leistungen, Stichwort IGeL-Leistungen, sinnvoll verkaufen?"

    Er habe kein Problem damit, vom Verkaufen zu sprechen, sagt Stehle. Ihm sei zwar bewusst, dass es heikel ist, Patienten zu zahlenden Kunden zu machen. Doch Selbstzahlerleistungen seien nun mal Realität. Stehle ist selber Arzt, und er weiß auch, dass es eine ganze Reihe von kostenpflichtigen Leistungen gibt, die in der Fachwelt heftig umstritten sind die Früherkennung von Prostatakrebs durch einen sogenannten PSA-Test beispielsweise. Wenn eine Praxis solche Leistungen verkaufen will, stelle er als Seminarleiter vor allem Fragen, sagt er:

    "Und dann lass ich mir von der Ärztin oder dem Arzt erklären, was machst du jetzt, wenn ich als informierter Patient zu dir komme, wie erklärst du mir das? Dann ist ja spannend, wie der Arzt sich dazu stellt. Es gibt vielleicht Argumente. Vielleicht auch nicht. Je klarer der Sachverhalt, umso schwieriger wird es der Arzt haben, diese Leistungen zu verkaufen."

    Dass es Bedarf gibt für Seminare, wie er sie anbietet, davon ist Fabian Stehle fest überzeugt. Und das sage er nicht nur aus eigenem wirtschaftlichen Interesse, ergänzt er – sondern auch aus eigener Erfahrung. In vielen Praxen herrsche immer noch Unsicherheit, wie man mit dem Thema IGeL-Leistungen umgehen soll.

    "Die erste Frage, die ich eigentlich ans Team stelle, ist, es darf mir jeder aus dem Team eine dieser Leistungen erklären. Und da erleben Sie oft schon Wunder, weil bis auf den Arzt viele überhaupt nicht verstanden haben, was sie da eigentlich so im Portfolio haben. Da kann man vielleicht noch erklären, was die Abkürzung ausgeschrieben heißt, aber wenn ich frage, was sind die Vorteile, was die Risiken, was sind die Alternativen, dann wird es relativ schnell ruhig."

    Das Bild, das sich der IGeL-Berater in den vergangenen Jahren vom Umgang mit Selbstzahlerleistungen machen konnte, ist also nicht gerade ermutigend. Dennoch glaubt er, dass sie für Ärzte wie auch für Patienten unterm Strich eine gute Sache seien.

    "Ich glaube, entscheidend ist eine saubere Kommunikation über Chancen, über Risiken, auch über die Studienlage. Es ist die Entscheidung des Patienten primär. IGeL-Leistungen sind Wunschleistungen. Insofern ich denke, man sollte weg von dem Bild, der Arzt mit vollem Wissen, und der Patient weiß nichts, Nicht-Informierter. Insofern: Eine vernünftige Beratung, vernünftige Bedenkzeit, wenn das alles gegeben ist, denke ich, kann sich ein mündiger Patient entscheiden, ob es so eine Leistung nachfragt oder nicht."

    Der Praxisberater Stehle fordert also, dass sich die Patienten eine Meinung über medizinische Streitfragen bilden sollen, zu denen man von Ärzten komplett gegensätzliche Einschätzungen hören kann. Der mündige Patient soll Entscheidungen zu Themen treffen, über die in der Fachwelt alles andere als Einigkeit herrscht. Und nicht nur aus der Ärzteschaft kommen widersprüchliche Botschaften. Auch bei der Haltung der Krankenkassen lässt sich nicht immer eine klare Linie erkennen. Bei der Frage, ob die gesetzliche Krankenversicherung für eine Leistung aufkommt, gilt die Grundregel: Nur wenn eine Maßnahme einen mit wissenschaftlichen Methoden nachweisbaren Nutzen hat, dürfen die Kassen dafür bezahlen. Von evidenzbasierter Medizin sprechen hier die Fachleute. Außerdem müssen der Nutzen und der Preis in einem angemessenen Verhältnis stehen. Die letzte Entscheidung trifft ein Gremium, in dem Vertreter von Kassen, Ärzten, Zahnärzten und Krankenhäusern regelmäßig beisammen sind: der Gemeinsame Bundesausschuss. Er gilt als eine der mächtigsten Instanzen im deutschen Gesundheitswesen.

    Bei vielen sogenannten Naturheilverfahren lässt sich ein solcher Nutzennachweis, den der Gemeinsame Bundesausschuss fordert, nicht erbringen – das gilt beispielsweise für eher esoterische Verfahren wie Klangschalentherapie ebenso wie etwa für Homöopathie. Dennoch zahlen Kassen immer öfter auch für Verfahren der sogenannten sanften Medizin – und das hat einen einfachen Grund: Hier haben sie die Möglichkeit, sich im Wettbewerb um Kunden als besonders großzügig gegenüber ihren Versicherten darzustellen. Die Ärztin Monika Lelgemann, die beim Medizinischen Dienst der Krankenkassen das Internetportal IGeL-Monitor betreut, hält solche Marketingstrategien für einen Fehler.

    "Da ich ja schon eine überzeugte Anhängerin einer datengestützten evidenzbasierten Gesundheitsversorgung bin, und glaube das auch für den MDS insgesamt sagen zu können, stehen wir diesen Leistungen ausgesprochen kritisch gegenüber."

    Sie räumt aber ein, dass es Leistungen gibt, die die Kassen nicht finanzieren – obwohl viele Hinweise auf einen Nutzen vorliegen. Nach Einschätzung der Macher des IGeL-Monitors ist beispielsweise die Behandlung von Krampfadern mit Laserstrahlen erfolgreicher als die traditionelle Operation mit dem Skalpell. Es sei daher vorstellbar, dass die Laserbehandlung von Krampfadern - oder auch Varizen, wie Mediziner sie nennen - auf Empfehlung des Medizinischen Dienstes irgendwann Kassenleistung wird.

    "Bei der Lasertherapie der Varizen ist es so, dass der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen zu dem Thema aufgrund der Bewertung noch mal ein Gutachten in Auftrag gegeben hat; genau mit der Prüfung ist die Maßnahme so viel besser als die Standardtherapie."

    Fünfzehn Jahre nachdem die Kassenärztliche Bundesvereinigung die IGeL-Leistungen in die Öffentlichkeit gebracht hat, ist also immer noch Bewegung in dem Thema. So wollen sich die Patientenstellen dafür starkmachen, dass kostenpflichtige ärztliche Leistungen strenger reglementiert werden. Auch von der Opposition im Bundestag hat es in letzter Zeit immer wieder entsprechende Vorstöße gegeben. Danach soll beispielsweise vorgeschrieben werden, dass Ärzte eine Selbstzahlerleistung nicht am gleichen Tag anbieten und durchführen dürfen; Patienten sollen, bevor sie sich entscheiden, darüber schlafen können. Der Patientenberater Peter Friemelt hofft, dass entsprechende politische Initiativen spätestens in der nächsten Legislaturperiode Erfolg haben werden. Denn Kritik an der Art und Weise, wie IGeL-Leistungen heute angeboten werden, gibt es in allen politischen Lagern. Eigene Versuche der Patientenstellen, mehr Ordnung in den unübersichtlichen IGeL-Markt zu bringen, hatten bisher wenig Erfolg. Die Bundesarbeitsgemeinschaft wollte zum Beispiel ein Zertifikat verleihen mit dem Titel "IGeL-freie Praxis". Mit wenig Erfolg, räumt Peter Friemelt ein.

    "Wir sind da leider nicht weitergekommen. Es gibt aber, wir wissen das, einige Praxen, die tatsächlich keine IGeL-Leistungen anbieten, kategorisch nicht. Es gibt auch Praxen, die IGeL-Leistungen nur anbieten, wenn die Patienten und Patientinnen das unbedingt wollen, sogenannte IGeL-faire Praxen wären das unserer Meinung nach. Aber wir sind noch nicht an so einem Punkt, dass sie so ein Zertifikat ausstellen könnten."

    Kassenpatienten geben – nach einer Schätzung des AOK-Bundesverbandes - jährlich rund eineinhalb Milliarden Euro für zusätzliche ärztliche Leistungen aus. Christel Höhn wollte bei ihrem Augenarzt nichts zuzahlen. Sie hat gegenüber der Sprechstundenhilfe ausdrücklich erwähnt, dass sie keine kostenpflichtige Behandlung wünscht. Als sie trotzdem eine Rechnung bekam, weigerte sie sich, diese zu bezahlen. Der Streit zog sich hin. Am Ende flatterte ihr ein überraschender Brief ihres Arztes ins Haus.

    "Was schlimm war, ist, dass der Augenarzt sozusagen mir gekündigt hat. Weil das Vertrauensverhältnis, also mein Vertrauen zu ihm war zerstört, aber er sagt, seines zu mir ist zerstört, weil ich sozusagen nicht gezahlt habe. Also ich darf da nicht mehr hin."

    Christel Höhn musste sich einen neuen Augenarzt suchen. Bei ihm achtet die Brillenträgerin nun vor jeder Untersuchung mehr denn je darauf, dass klar ist, was ihre Kasse zahlt und was nicht. Denn sie will nicht noch einmal wegen IGeL, also individuellen Gesundheitsleistungen, einen unangenehmen Streit austragen müssen.