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Barmer Theologische Erklärung
Ein nicht unumstrittenes Dokument des NS-Widerstandes

Vor 80 Jahren trafen sich in Wuppertal-Barmen Vertreter aus allen evangelischen Landeskirchen, um sich als "Bekennende Kirche" gegen den totalen Machtanspruch des nationalsozialistischen Staates über die Kirche zu wehren. Sie verfassten die "Barmer Theologische Erklärung", die mit keinem Wort die Judenverfolgung erwähnt.

Von Rainer Brandes |
    Holzkreuz in einer Kirche
    Die Barmer Theologische Erklärung wurde während der NS-Zeit in Wuppertal verfasst (AFP/Olivier Morrin)
    Versteckt zwischen tristen Zweckbauten der Nachkriegszeit liegt mitten im Zentrum Barmens die Gemarker Kirche. Im Mai 1934 trafen sich hier Abgesandte aus allen evangelischen Landeskirchen. Sie einte die Sorge, dass der nationalsozialistische Staat die Freiheit der Kirche bedrohte. Zuvor hatten in zahlreichen Landeskirchen die nationalsozialistisch gesinnten "Deutschen Christen" die Kirchenwahlen gewonnen. An diesem historischen Ort erinnert jetzt eine Ausstellung an die Barmer Theologische Erklärung. Wer sie besucht, wird empfangen von großformatigen Bildern der Reformatoren Luther, Calvin, Zwingli und Melanchthon. Denn dass sich vor 80 Jahren hier Vertreter aller evangelischer Konfessionen trafen, das war keine Selbstverständlichkeit. Der evangelische Theologe Martin Engels hat das Ausstellungsprojekt geleitet:
    "Die Versammlung in Barmen ist deshalb auch was Besonderes, weil es zum ersten Mal seit der Reformationszeit der Fall ist, dass sich Synodale aus allen verschiedenen evangelischen Konfessionen hier in Deutschland zusammensetzen. Lutheraner, Reformierte und unierte Christen treffen sich hier und beraten gemeinsam an der Barmer Theologischen Erklärung. Das ist einzigartig."
    Heraus kommt ein Kompromiss. Vor allem die Lutheraner wehren sich dagegen, dass das, was sie hier formulieren, ein verbindliches Bekenntnis sei. Sie fürchten, ihre Eigenständigkeit gegenüber den Reformierten und Unierten zu verlieren. Diese Diskussionen um das richtige Verständnis der Barmer Theologischen Erklärung halten bis heute an. Noch immer haben nicht alle Gliedkirchen der Evangelischen Kirche in Deutschland das Dokument als verbindliches Bekenntnis anerkannt. Erst in jüngster Zeit bewegen sich die Lutheraner hier auf die unierten und reformierten Kirchen zu. Siegfried Hermle ist Professor für historische Theologie an der Universität Köln:
    "Eine ganze Reihe von jetzt in den letzten Jahren sich neu bildenden Kirchen – ich denke an die Kirche in Mitteldeutschland oder jetzt auch die Nordkirche, wo ja vor allem lutherische Kirchen dann auch mit präsent sind – da wird in den Kirchenordnungen ganz dezidiert die Barmer Theologische Erklärung als Basis dieser Kirchen, als Bekenntnistext herausgestellt und auch damit gewissermaßen an die Seite der reformatorischen und altkirchlichen Bekenntnisse gerückt."
    Nazi-Terror schweißt Christen zusammen
    Es ist die gemeinsame Bedrohung durch das nationalsozialistische Regime und die ihm nahestehenden Deutschen Christen, die die Versammelten in Barmen zusammenschweißt.
    In der Ausstellung wird das durch Gesänge erfahrbar, die vor 80 Jahren dort in der Kirche erklungen sind.
    Dem entgegengesetzt sind Filmsequenzen, in denen Adolf Hitler um die Zustimmung der Christen wirbt, zum Beispiel mit seiner Rede vor den evangelischen Kirchenwahlen 1933.
    "Im Interesse des Wiederaufstiegs der deutschen Nation wünsche ich sehr verständlicherweise, dass die neuen Kirchenwahlen in ihrem Ergebnis unsere neue Volks- und Staatspolitik unterstützen werden. Diese Kräfte sehe ich in jenem Teil des evangelischen Kirchenvolkes in erster Linie versammelt, die als Deutsche Christen bewusst auf den Boden des nationalsozialistischen Staates getreten sind."
    Die Bibel steht über weltlichen Ideologien
    Vor diesem Hintergrund wird es verständlich, dass sich die Barmer Theologische Erklärung gegen die Deutschen Christen wendet, die die nationalsozialistische Ideologie als Offenbarung Gottes verstanden. Für die Barmer Synodalen war klar: Die Bibel als Wort Gottes steht über allen weltlichen Ideologien. Also dürfe sich die Kirche niemals in den Dienst einer bestimmten Ideologie stellen. Aus heutiger Sicht ist es erstaunlich, dass der Text den Nationalsozialismus selbst mit keinem Wort erwähnt. Nur ganz allgemein heißt es dort:
    "Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne der Staat über seinen besonderen Auftrag hinaus die einzige und totale Ordnung menschlichen Lebens werden und also auch die Bestimmung der Kirche erfüllen."
    Dass die Erklärung hier nicht deutlicher wird, ist vor allem durch die Biografien ihrer Verfasser zu erklären. Karl Barth, der die Erklärung maßgeblich initiiert hatte, war als Sozialdemokrat die absolute Ausnahme unter seinen Kollegen. Die meisten der Barmer Synodalen waren deutsch-national eingestellt. Kirchenhistoriker Siegfried Hermle:
    "Diese Menschen standen sicherlich nicht in Opposition zum NS-Staat, weil sie natürlich auch hofften, dass vieles, was man in der Weimarer Republik kritisiert hatte und wo man natürlich als vielleicht auch noch nach wie vor königstreuer Mensch hoffte, dass wieder so eine Führerfigur Deutschland führen könnte. Das war alles nicht zu kritisieren, sondern es war nur zu kritisieren, wie zunächst mal die Deutschen Christen und im weiteren Verlauf dann natürlich auch die NS-Partei sich der Kirche zu bemächtigen versuchten."
    Judenverfolgung wird nicht thematisiert
    Es gab sogar überzeugte Nationalsozialisten unter den Mitgliedern der Bekennenden Kirche. So ist es kein Wunder, dass die Barmer Theologische Erklärung kein Wort über die einsetzende Judenverfolgung verliert. Siegfried Hermle:
    "Zumal man davon ausgehen kann, dass die in Barmen Versammelten durchaus mit den ersten Maßnahmen des NS-Staates zur sogenannten Begrenzung des Einflusses von Juden einverstanden gewesen sind. Denn es war im Protestantismus gang und gäbe, dass man Äußerungen finden konnte wie: 'Der Einfluss der Juden im Pressewesen, im Justizwesen, im Bereich der Ärzteschaft ist viel zu hoch. Wir müssen hier Einschränkungen vornehmen.' Und das war auch im evangelischen Bereich Common Sense."
    Auch wenn der Text selbst also nicht als Dokument des politischen Widerstands formuliert worden ist, so ist er doch schon während der Zeit des Nationalsozialismus von den Zeitgenossen als solcher verstanden worden. Menschen aus dem kirchlichen Widerstand wie Martin Niemöller oder Dietrich Bonhoeffer haben sich immer wieder auf ihn berufen. Der evangelische Theologe Martin Engels erklärt dies so:
    "Die Barmer Theologische Erklärung ist eine theologische Erklärung, und in ihrer Zeit war sie gerade deswegen politisch. Weil die Neuformulierung dessen, was in Kirche wichtig ist, hatte in einem totalitären Staat etwas Widerständiges, weil Kirche sich gegen den vereinnahmenden Staat gestellt hat."
    Da der Text so offen formuliert ist, konnte er nach dem Krieg von allen Seiten vereinnahmt werden. Innerkirchliche Gruppen aus allen politischen Richtungen beriefen sich nun auf Barmen. Siegfried Hermle:
    "Sie finden sowohl Personen, die nun sehr sozial engagiert sind, die sozusagen im linkeren Spektrum des Protestantismus zu verorten sind, die sich auf den Text berufen, genauso wie Personen, die sich als sehr bibeltreu, als evangelikal bezeichnen. Von daher ist der Text ein Stück weit offen für die Interpretation und das war nun tatsächlich ein Kennzeichen vor allem in den '60er und '70er Jahren, wo sich ganz verschiedene Flügel innerhalb der evangelischen Kirche auf diesen Bekenntnistext zurückbezogen haben."
    Wirkung auch nach dem Krieg
    Ein Beispiel dafür ist die Friedensbewegung, die vor allem in den 1980er-Jahren eine breite Strömung innerhalb der evangelischen Kirche war. Sie versuchte ihre Forderung nach Abrüstung mit dem Verweis auf die Barmer Absage an einen totalen, allmächtigen Staat zu untermauern. Noch wichtiger war die Barmer Theologische Erklärung für die evangelische Kirche der DDR. Dort sahen sich die Gläubigen erneut einem ihnen feindlich gesonnenen Staat gegenüber, der von den Kirchen verlangte, sich der herrschenden Ideologie unterzuordnen. Im Westen begann gleichzeitig die Diskussion um die Mängel der Barmer Erklärung – vor allem um die Ausblendung der Judenverfolgung. In Anspielung auf die sechs Barmer Thesen ist nun die Rede von der "fehlenden siebten These". Siegfried Hermle:
    "Das ist dann erst Eberhard Bethke, der hier darauf aufmerksam macht, dass eben diese ungeschriebene These von Barmen sehr bedrängend für die evangelische Kirche ist. In der unmittelbaren Nachkriegszeit spielt Barmen in diesem Zusammenhang überhaupt keine Rolle, wie überhaupt die evangelische Kirche erst 1950 auf der Synode in Berlin-Weißensee erstmals öffentlich dann auch sich zu ihrer Schuld in dieser Frage auch stellt. Bis sozusagen ein Umdenken auch eingeleitet wird, dauert es dann bis in die '60er, '70er Jahre hinein."
    Dann aber setzt sich auch eine neue theologische Sichtweise durch. Das Judentum wird als Grundlage des Christentums erkannt. In Barmen ist das seit Beginn des neuen Jahrtausends sogar architektonisch sichtbar. Direkt neben der Gemarker Kirche – auf ehemaligem Kirchengrund – steht jetzt eine neue Synagoge. Das ist kein Zufall, wie Martin Engels erklärt:
    "Es kann keine Israel-Vergessenheit mehr geben – allein baulich. Und wir versuchen das hier in der Ausstellung so deutlich zu machen, dass in einer Sichtachse zur Synagoge wir auch ein Bild haben, wo die Gemarker Kirche und die Bergische Synagoge beide zusammen dargestellt sind, weil es deutlich wird, dass das, was 1934 nicht gesehen worden ist, was nicht gesagt worden ist, was einige vielleicht gar nicht als Problem gesehen haben, dass das nicht mehr passiert, und dass diese Neubestimmung wesentlich ist für die Art und Weise, wie wir hier uns als Kirche verstehen."
    Am Ende bietet die Ausstellung noch einen Blick über Deutschland hinaus. Denn die Barmer Theologische Erklärung war immer wieder Vorbild für Protestanten in aller Welt, so zum Beispiel im Südafrika der Apartheid. Dort haben evangelische Christen 1982 die sogenannte Erklärung von Belhar verabschiedet, die sich gegen die Apartheid wendet. Als Vorlage diente die Barmer Theologische Erklärung.