Ein kleiner Junge sitzt auf dem Dachboden und liest in den alten Büchern des Großvaters. So startet Bartholomäus Grill in sein Buch "Wir Herrenmenschen". Dieser Großvater ist ein Kolonialromantiker, dessen Erinnerungsstücke die deutsche Kolonialgeschichte verherrlichen als großes Abenteuer und Heilsbringung. Kein Wort über Ausbeutung, Misshandlung und Tod.
Bartholomäus Grill ist Jahrgang 1954. Er ist Journalist und berichtet seit mittlerweile mehr als 25 Jahren aus Afrika für deutschsprachige Medien. Sein Buch ist die Suche nach den Spuren deutscher Kolonialgeschichte. Denn bis heute färbe Deutschland diese Zeit schön, so Grill im Gespräch:
"Wir tendieren dazu, die Kolonialgeschichte zu verklären. Zu sagen, das war ja nur eine kurze Episode. Wir konnten also nicht größeren Schaden anrichten. So wird diese Geschichte als Kolonialidyll verklärt."
Ausbeutung im Blick – nie die Entwicklung
Auf rund 300 Seiten beschreibt Grill die Schreckensherrschaft im heutigen Tansania, in Kamerun oder auch in Papua-Neuguinea. Er geht auf die Rolle der christlichen Missionen ein, auf die Unternehmen und auf das Deutsche Reich, das ab Ende des 19. Jahrhunderts eine zunehmend imperialistisch geprägte Politik verfolgte. Auch in Berlin wollte man ein Stück vom kolonialen Kuchen abhaben.
Der Autor skizziert, wie die deutsche Kolonialisierung in den Ländern voranschritt. Wie in Togo Gebiete durch Schummelverträge unter deutschen "Schutz" gestellt wurden. Wie die Bauern ihr Land verloren und für Hungerlöhne eine Infrastruktur aufbauten. Eine Infrastruktur, die allein für die Ausbeutung des Landes angelegt war – nie für dessen Entwicklung. Bartholomäus Grill beschreibt, wie in Kamerun Lohnsklaven für die Plantagen zwangsrekrutiert wurden, denn die Welt wollte Kautschuk und deutsche Handelsfirmen lieferten. Er schildert Rassismus, Entrechtung und anhaltende Gewalt. Diesen Terror macht Bartholomäus Grill am Beispiel einzelner Statthalter fest wie Lothar von Trotha in Namibia oder Jesko von Puttkamer, Gouverneur von Kamerun.
"Puttkamer war der Prototyp des deutschen Kolonialherrschers, eitel, egomanisch, brutal, durch lächerlichste Anlässe in seiner soldatischen Ehre gekränkt, ein leidenschaftlicher Verfechter der Vergewaltigungspolitik mit unverhohlen genozidalen Gelüsten. Mittelmäßige Männer wie er, die es in der politischen Elite des Kaiserreiches zu wenig Ansehen gebracht hatten, konnten in den Kolonien deutsche Allmachtsfantasien ausleben und mit tyrannischen Methoden ihre eigenen Staatsgebilde formen."
Im Falle Namibias und den Verbrechen an den Herero und Nama distanziert sich Bartholomäus Grill in seinem Buch von der Mehrheit deutscher Historiker. Ohne die Verbrechen zu bestreiten, zeigt sich Bartholomäus Grill skeptisch, dass es ein Völkermord war. Dazu sagt er im Gespräch:
"Es geht gar nicht darum, die deutschen Kolonialverbrechen und Grausamkeiten zu bestreiten. Aber es ist auch nicht geholfen, rückwirkend den Begriff des Völkermordes anzuwenden. Dieser Begriff wird viel zu inflationär angewandt und bagatellisiert und banalisiert die tatsächlich großen Völkermorde in der Menschheitsgeschichte."
Gute Mischung aus Analyse und Reportage
Im Buch erläutert Bartholomäus Grill die Einschätzungen verschiedener auch internationaler Historiker und positioniert sich dazu. Das ist interessant und legitim. Er streift dazu viele andere Konflikte, die er auch nicht als Völkermord definieren würde. Damit aber gerät das Buch an einzelnen Stellen in eine allgemeine Vorwurfshaltung.
Zugleich beschreibt der Autor, wie er für seine Zweifel an der Einschätzung als Völkermord Applaus von der "falschen" Seite erhält. Nämlich von deutschstämmigen Namibiern, die bis heute gefangen sind in ihrem rassistischen Denken. Er trifft solche Weißen auf seiner Reise. In Tansania wiederum spürt er den Askari nach, schwarzen Soldaten, die für die deutsche Kolonialarmee kämpften. Ebenso erzählt er, wie er in deutschen Museen nach dem Schädel des getöteten Manga Meli sucht, der 1900 als Teil einer Strafexpedition der deutschen Kolonialtruppe gehängt wurde. Bartholomäus Grill berichtet anschaulich von diesen vielen persönlichen Begegnungen und von vielen Orten. Und das ist die Stärke des Buches. Denn vielen Lesern werden Ereignisse und Personen der Kolonialgeschichte nicht ganz neu sein. Aber Bartholomäus Grill liefert eine gute Mischung aus Analyse und Reportage. Er schreibt mitreißend und anschaulich und transportiert immer wieder die Folgen der Kolonialzeit bis ins Jetzt.
Denn, so der Autor, die Kolonialzeit wirke bis heute in unseren Köpfen fort. Wir schauten weiterhin mit einem kolonialen Blick auf Afrika, ohne die tiefgreifenden Folgen der Kolonialzeit wahrhaben zu wollen. Das zeige sich in der Debatte um Migration aus Afrika. Und ebenso, wenn es um die Rückgabe kolonialer Raubgüter aus deutschen Museen gehe.
Bartholomäus Grill fordert deshalb einen postkolonialen Diskurs, der das "wir" und "ihr" überwindet. Ein Diskurs, der endlich in den europäischen Zivilgesellschaften geführt werden müsse sowie in den afrikanischen. Auch dort müsse die Debatte weiter vorangetrieben werden, sagt Bartholomäus Grill.
"Es geht also um eine radikale Selbstfindung. Letztendlich um die Dekolonialisierung des Bewusstseins, was die Engländer 'mindset' nennen. Der Einstellungen, der Wahrnehmungsweisen und so weiter. Also im Grunde eine zweite Befreiung der Kolonisierten."
Auf der Grundlage eines postkolonialen Diskurses sei es möglich, die vielfältigen Verflechtungen der afrikanischen und europäischen Geschichte neu zu betrachten und künftig Menschen aller Kulturen und Hautfarben einfach als Menschen wahrzunehmen.
Bartholomäus Grill: "Wir Herrenmenschen. Unser rassistisches Erbe. Eine Reise in die deutsche Kolonialgeschichte",
Siedler Verlag, 304 Seiten, 24 Euro.
Siedler Verlag, 304 Seiten, 24 Euro.