Ann-Kathrin Büüsker: Über die Entwicklung in Chemnitz und die Entwicklung der Diskussion auf Bundesebene möchte ich nun mit Dietmar Bartsch sprechen, Fraktionsvorsitzender der Partei Die Linke im Bundestag. Guten Morgen.
Dietmar Bartsch: Guten Morgen! - Ich grüße Sie.
Büüsker: Herr Kretschmer hat ja gestern richtig Gegenwind bekommen vor Ort. Wären Sie da gerne an seiner Stelle gewesen?
Bartsch: In der Politik geht es nicht immer darum, was man sich wünscht. Aber man muss in jedem Fall sich dem stellen. Ich war gestern in Leipzig, ich werde morgen in Dresden und in Chemnitz sein, und ich glaube, da ist die Bundespolitik genauso gefordert, dass wir dort hingehen müssen, uns diesen Dingen stellen. Denn eins ist doch klar: Überall, in Sachsen, in Berlin, aber in ganz Deutschland muss es aufhören mit der Selbsttäuschung. Wir haben eine Entwicklung - und das jetzt auf Chemnitz zu reduzieren, wäre falsch -, die höchst, höchst problematisch ist, und das müssen wir zumindest zur Kenntnis nehmen.
Büüsker: Warum dauert es dann aber so lange, bis sich die Bundespolitik tatsächlich mal nach Chemnitz bewegt? Franziska Giffey (SPD) ist heute die erste aus der Bundesregierung, die vor Ort sein wird.
Bartsch: Ja, das finde ich völlig richtig. Ich bedauere das sehr, dass von Herrn Seehofer die ersten Tage nichts zu hören war als Innenminister und Verfassungsminister. Wenn Frau Giffey jetzt die erste ist - morgen gibt es eine Demonstration in Chemnitz, zu der bereits aufgerufen worden ist, von der Linken bis zur CDU, die für ein Chemnitz steht, was anerkannt ist, was weltoffen ist. Dort wird von der Bundesregierung nach meiner Kenntnis auch niemand anwesend sein. Ich finde das höchst problematisch und das ist ein Wegducken. Das muss endlich aufhören. Denn Herr Bedford-Strohm, den Sie zitiert haben, sagt, wir haben eine schleichende Verschiebung des Grundkonsenses unserer Gesellschaft. Da ist man vielfach gefordert, nicht nur Regierung, auch Gerichte.
Was dort abgelaufen ist, ist nicht akzeptabel. Wir müssen trotzdem mit den Bürgerinnen und Bürgern dort reden. Chemnitz ist eine Stadt von 250.000 Einwohnern oder noch mehr. Bei der Demonstration waren 1200, davon viele, die zugereist waren. Wir müssen dort schon differenzieren. Wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass gestern ob hier in Berlin-Neukölln 5000 oder in Münster 1000 demonstriert haben für eine andere Entwicklung. Das will ich ernst nehmen und da müssen wir aber die Auseinandersetzung führen. Und was mindestens genauso wichtig ist: Der Rechtsstaat muss sich als solcher bewähren.
"Bin dagegen, es auf Chemnitz zu reduzieren"
Büüsker: Herr Bartsch, vielleicht gehen wir auf die einzelnen Punkte gleich noch ein.
Bartsch: Gerne.
Büüsker: Ich würde gerne aber trotzdem noch mal nachfragen. Wenn Sie das für so wichtig halten, mit den Menschen zu reden, warum fahren Sie erst morgen hin?
Bartsch: Ich kann Ihnen das gerne sagen. Ich habe eben gesagt, ich war vorgestern bereits in Leipzig. Es geht nicht nur um Chemnitz. Selbstverständlich müssen wir in dieser Frage unterwegs sein. Wir haben dort nicht in Sachsen ein besonderes Problem, aber viele sind dort zugespitzt. Ich fahre am Sonnabend nach Chemnitz und habe in der Zeit Termine auch in Sachsen.
Ich bin dagegen, es auf Chemnitz zu reduzieren, aber hier gibt es ein Symbol und bei aller Wichtigkeit von Dietmar Bartsch ist hier die Bundesregierung gefragt. Sie vertritt dieses Land. Ich frage mich im Übrigen auch, wo die SPD-Vorsitzende ist, die ansonsten ja für einen neuen Kurs steht. Die haben dort anwesend zu sein, egal was passiert.
Büüsker: Ist jemand, der mit Menschen demonstriert, die den Hitler-Gruß zeigen, rechts?
Bartsch: Entschuldigen Sie! Das kann uns beiden auch passieren, dass wir auf einer Demonstration sind, und plötzlich zeigt jemand den Hitler-Gruß. Deswegen sind wir beide ja nicht rechts. Das wäre wirklich unsinnig. Aber eines ist doch ganz klar: Straftaten müssen in Deutschland geahndet werden. Und wir beide würden doch eines machen: Uns von diesem Menschen distanzieren und mit dem nicht weiter demonstrieren. Deswegen: Wer wirklich Menschen bedroht und verletzt, wer die öffentliche Ordnung stört, wer den Hitler-Gruß zeigt, das alles muss geahndet werden, und zwar zügig, und zwar mit den Mitteln des Rechts.
Wir haben nur im Moment - wissen Sie, das ist doch das Fatale. Wenn der Haftbefehl, den es dort gibt, von einem Justizbeamten veröffentlicht wird. Wenn ein LKA-Beamter so handelt, wie wir das alle in dem Film gesehen haben: "Sie dürfen mich nicht ins Gesicht filmen". Dann ist offensichtlich in den Behörden ein Problem vorhanden. Die Entwicklung in Sachsen, die besondere Entwicklung dort ist auch Resultat des Versagens der dort Regierenden.
Nun ist Herr Kretschmer da nicht so lange im Amt, aber zumindest seine Vorgänger tragen dort eine Mitverantwortung. Wir alle tragen eine Mitverantwortung. Das müssen wir zunächst mal akzeptieren und dann beginnen, zwingend zu handeln. Es ist so dringend notwendig, dass wir diese Verschiebung des Grundkonsenses nicht zulassen, dass wir darum kämpfen, dass die bürgerlichen Werte - und das sage ich als Linker - in unserem Lande wieder gelten.
Bartsch: Ergebnis des Sparens bei Polizei und Justizbehörden
Büüsker: Herr Bartsch, Sie sprechen von einem Staatsversagen auf sächsischer Ebene?
Bartsch: Das ist richtig. Es gibt dort ein Versagen. Wissen Sie, dort wird im Netz mobilisiert zu einer Demonstration. Das ist jetzt nicht so was ganz Neues. Und wenn die Verantwortlichen dort nicht erkennen, dass dann eine entsprechende Präsenz der Polizei notwendig ist, und dass man dann dort natürlich nicht pauschal die Demonstranten alle zu Rechtsradikalen macht, das will ich überhaupt nicht. Aber dass es die gegeben hat, dass es diese Straftaten gegeben hat, das muss geahndet werden.
Und es muss natürlich eins auch noch mal ganz klar gesagt werden, dass die Täter, die dort den jungen Mann umgebracht haben, der wohl wahrhaftig kein Rechter war, die sich jetzt das zunutze machen, die müssen natürlich entsprechend genauso zur Verantwortung gezogen werden. Die Täter, diese beiden offensichtlichen - auch das muss ermittelt werden -, da muss genauso der Rechtsstaat in aller Konsequenz gelten. Wenn ich dort lese - ich weiß nicht, inwieweit das stimmt -, welches Versagen es dort wiederum gegeben hat, dann bin ich wirklich einigermaßen ratlos wie andere. Aber diese Ratlosigkeit muss aufhören.
Wir haben hier ein Ergebnis, dass das Sparen bei der Polizei, das Sparen bei den Justizbehörden, dass das sich jetzt negativ auszahlt. Wir müssen wirklich da mal drüber nachdenken. Sachsen ist immer so vorbildlich, was Verschuldung betrifft. Na wunderbar! Wenn das Land auseinanderfällt, haben wir dort offensichtlich große Fehler gemacht.
Büüsker: Sie reden jetzt von einem auseinanderfallenden Land, von einem Staatsversagen. Das ist genau das Narrativ, das sich die Rechten und gerade auch die Rechtsextremen immer wieder zu eigen machen, von dem Sie sprechen, gegen das Sie sich wehren wollen. Wenn Sie dieses staatsversagen ansprechen und benennen, tragen Sie dann nicht zu einer Verschiebung des Diskurses bei, die Sie ja eigentlich verhindern wollen?
Bartsch: Nein. Ich glaube, sagen was ist, ist eine Tugend der Linken, die ganz oben stehen muss. Wenn wir nicht über die Situation reden und über Ursachen reden. Ich möchte nicht permanent den Bezugspunkt etwa AfD in der Politik haben. Wir müssen zum Beispiel mit der Union darum streiten, was die richtigen und die besten Wege sind. Ich möchte, dass auch über die in Chemnitz vorhandenen sozialen Probleme - eben wurde gesagt Verkehrsanbindung -, dass darüber geredet wird und dass die Menschen nicht nur das Gefühl haben, dass sie wissen: Wir alle in der Politik haben unseren Auftrag verstanden.
Ich kenne die Chemnitzer Bundestagsabgeordneten alle, ob das Herr Wanderwitz ist oder Michael Leutert von meiner Partei. Ich weiß, wie sie sich für die Stadt und für die Region engagieren. Aber es ist offensichtlich so, dass es einen Teil der Menschen gibt, die dieses nicht goutieren, die das nicht ausreichend finden, und es ist so, dass einige Rechtsextreme sich das zunutze machen. Aber wir müssen diesen Kampf annehmen. Es gibt keine Alternative. Und eins ist doch klar: Ich lasse mir meine Sprache der Auseinandersetzung mit der Bundesregierung, der Auseinandersetzung mit der sächsischen Landesregierung weder von der AfD, noch von Rechtsextremen verbieten. Die Position und auch die Wortwahl, die ich wähle, die ist links und die soll auch links bleiben.
"Staatsversagen ist selbstverständlich zu benennen"
Büüsker: Aber was ist denn eine linke Wortwahl?
Bartsch: Sie haben ja jetzt Worte genannt, die das Narrativ der Rechten bedienen.
Büüsker: Staatsversagen ist linke Wortwahl?
Bartsch: Wenn der Staat versagt, dann muss man es Staatsversagen nennen. So schlicht ist das. Und da können wir nicht sagen, na ja, da gab es Fehler. Nein, es gab Versagen, und dieses Versagen liegt teilweise in der Vergangenheit. Ich finde, dass man dort ganz klar benennen kann, wenn eine solche Demonstration mit derartigen Straftaten stattfindet, dann ist das auch ein Versagen des Staates, der Behörden. Dieses ist zu benennen. Wenn man das nicht benennt - ich gehe im Übrigen davon aus, dass das auch in Sachsen so gesehen wird. Ich finde im Übrigen, das was der Innenminister Sachsens dort anbietet - ich kenne den Mann nicht. Wenn ich es nett formuliere, ist es defensiv. Man kann auch da von Versagen reden. Es muss dort entschieden werden und Die Linke vor Ort muss auch entscheiden, ob sie findet, dass dieser Mann tragbar ist. Aber Staatsversagen ist selbstverständlich zu benennen, wenn der Staat versagt.
Büüsker: … sagt Dietmar Bartsch, Fraktionsvorsitzender der Partei Die Linke im Deutschen Bundestag. Ich danke Ihnen herzlich für das Gespräch heute Morgen hier im Deutschlandfunk.
Bartsch: Ich danke Ihnen. Einen schönen Tag!
Büüsker: Ihnen auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.