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Baruch Kimmerling: Politizid. Ariel Sharons Verbrechen gegen das palästinensische Volk

Der israelische Soziologe Baruch Kimmerling schöpft gern neue Begriffe, um seine zukunftsweisenden Thesen zu formulieren. So nannte er seine Studie über die israelische Gesellschaft des Jahres 2001 "Das Ende der Achusalim-Herrschaft". Achusalim steht für Ashkenasi (europäischstämmige), säkulare, alteingesessene und sozialistische Zionisten, zu denen sich auch der renommierte Soziologe an der Hebräischen Universität zählt. In seiner Studie schlug Kimmerling einen israelischen Rückzug aus den besetzten Gebieten vor und eine Wandlung Israels von einem jüdischen zu einem binationalen Staat ähnlich wie Belgien oder Kanada. Er forderte sogar die Annullierung des Rückkehrgesetzes, das jedem Juden die Einwanderung nach Israel ermöglicht. Und er verlangte die Integration und Einbürgerung palästinensischer Flüchtlinge in Israel im Rahmen von Familienzusammenführungen. Mit diesen Thesen positionierte er sich außerhalb des zionistischen Konsens. Auch für seine neuen, bahnbrechenden Thesen erfand Kimmerling einen Begriff – "Politizid", eine Abkürzung für "politischer Genozid". Der Untertitel seines neuen Werkes lautet: "Ariel Sharons Krieg gegen das palästinensische Volk".

Igal Avidan |
    Mit Politizid meine ich einen Prozess, an dessen Ziel das Ende der Existenz des palästinensischen Volkes als soziale, politische und wirtschaftliche Größe steht. Dieser Prozess kann auch eine teilweise oder vollständige ethnische Säuberung des ‚Landes Israel’ beinhalten. Diese Politik wird das Wesen der israelischen Gesellschaft unausweichlich zerstören und die moralische Basis des jüdischen Staates im Nahen Osten untergraben. So gesehen wird das Ergebnis ein doppelter Politizid sein – das Ende der Palästinenser, aber auf lange Sicht auch das Ende der jüdischen Gemeinschaft.

    Der Politizid an den Palästinensern, so Kimmerling in seiner Anklageschrift, wird unter anderem durch Mord, lokal begrenzte Massaker, Eliminierung der Führung und der intellektuellen Elite sowie künstlich erzeugte Hungersnöte realisiert, und zwar nicht nur durch Sharon. Vielmehr begann dieser Prozess bereits vor über hundert Jahren mit der Einwanderung der ersten Zionisten nach Palästina im Jahre 1882. Beweise für seine These liefert er allerdings nicht.

    Hat die zionistische Bewegung also von vornherein gesündigt, in dem sie die Juden als eine Nation definierte und deren Rettung vor den Pogromen in Ost-Europa im Land ihrer Vorfahren propagierte? Begann die zionistische Sünde möglicherweise erst im Jahre 1920, als die Araber in Palästina durch Mordangriffe gegen Juden klarstellten, dass sie dieses Land als das ihre betrachten und die jüdische Einwanderung erbarmungslos bekämpfen werden? Oder liegt die Stunde Null der zionistischen Erbsünde in der Gründung des Staates Israel im Jahre 1948? Dass dieser Krieg, in dessen Rahmen über eine halbe Million Palästinenser ihre Heimat verloren, viele durch Vertreibung, auch mit einer Ausradierung der jüdischen Souveränität hätte enden können - und das nur drei Jahre nach dem Holocaust –, darüber ist sich auch Kimmerling klar:

    Dies war ein totaler Krieg, und sollten die Araber ihn gewinnen, so erwartete man, dass sie nicht nur einen Politizid ausüben, sondern die Juden in Palästina vernichten würden.

    Zu Recht erkennt Kimmerling, dass die Angst der Juden, eine Minderheit im eigenen Lande zu werden, einer der Hauptfaktoren für die israelische Sicherheitsdoktrin ist. Angst, Misstrauen und Verachtung prägten auch Sharons Grundeinstellung gegenüber den Arabern, die er fast nur als kriegerische Feinde auf dem Schlachtfeld erlebte.

    Ein Jahr vor Sharons Geburt war sein Heimatdorf von arabischen Aufständischen zerstört worden. Im Jahr 1929 (als er ein Jahr alt war) erwartete man einen weiteren Angriff, der zwar nicht kam, dessen Erwartung aber dennoch tiefe Spuren in den Erinnerungen der Familie hinterließ und Sharon in zahllosen Familiengesprächen immer wieder vergegenwärtigt wurde. Während des arabisch-palästinensischen Aufstands von 1936 bis 1939 war Sharon noch ein Kind, aber die Ereignisse jener von Angst geprägten Jahre hinterließen auch Spuren bei ihm.

    Sharons militärische Aktionen wurden von seinem Weltbild geprägt, wonach Israel diejenigen Araber, die seine Existenz nicht anerkennen, einschüchtern müsse, um in Sicherheit zu leben. Diese Doktrin setzte er als Kommandant der Spezialeinheit 101, die Vergeltungsaktionen in Ägypten und Jordanien führte, erfolgreich durch. Man wollte bewaffnete palästinensische Eindringliche – damals hießen sie Fedajin – abschrecken. Kimmerling beschreibt die Folgen dieser ungewöhnlichen Operationen auf das Oberkommando:

    Sharon ging bei seinen Aktionen (jedoch) weit über das hinaus, was von seinen Vorgesetzten geplant, angeordnet und akzeptiert wurde. Er rechtfertigte dies mit unerwartetem Widerstand der Feinde, unvorhersehbaren Schwierigkeiten und Hindernissen auf dem Schlachtfeld, oder er erklärte, er habe versucht, das Leben israelischer Soldaten zu retten und keine Verwundeten oder Toten zurückzulassen. Letztendlich führten Sharons ausgedehnte Aktionen aber zu einer höheren Zahl von Toten, nicht nur unter den Arabern, sondern auch unter den israelischen Soldaten.

    Diese Behauptung bestreiten jedoch mehrere Historiker, die darauf verweisen, dass in den sechs Monaten der Existenz dieser Einheit kein einziger ihrer Soldaten ums Leben kam. Dennoch wurde sie aufgelöst, nachdem bei einer Operation im Dorf Kibiya 67 Palästinenser ums Leben kamen, vor allem Frauen und Kinder: Soldaten sprengten Häuser, ohne sicherzustellen, dass sie unbewohnt waren. Bestraft wurde Sharon keinesfalls, eher befördert. Sein neuer Schutzpatron war Premierminister David Ben-Gurion.

    Sharons zweite Runde gegen die Palästinenser war zugleich sein Versuch, einen neuen Nahen Osten zu schaffen. Kimmerling beschreibt ausführlich diesen Libanon-Feldzug, mit dem er die Syrer und die PLO aus dem Libanon vertreiben und gewaltsam ein christliches Regime in Beirut einsetzen wollte, mit dem Israel einen Friedensvertrag hätte unterzeichnen sollen. Aus dieser Machtposition heraus wollte Sharon schließlich den Palästinensern in den besetzten Gebieten die Autonomie diktieren. Diese grandiosen Pläne endeten jedoch abrupt mit der Ermordung des libanesischen Präsidenten Bashir Gemayel und dem Massaker christlicher Milizen in den palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und Shatila.

    Letztlich hinderten Sharon nur zwei Umstände an der Umsetzung seiner großen Vision – amerikanischer Druck und die öffentliche Meinung in Israel. Diese wurde eindeutig nicht nur durch die grausamen Geschehnisse in Sabra und Shatila beeinflusst, sondern auch durch die zahlreichen Kriegsopfer und durch den Eindruck, dass die Regierung das ungeschriebene Gesetz verletzte, dass die Armee nur einen Krieg führen durfte, der durch Mehrheitsbeschluss abgesichert war. Sharon lernte seine Lektion gut, wie wir anhand seiner politischen Rückkehr im Jahr 2000 noch sehen werden.

    Kimmerling meint 2001. Dies ist nur einer von mehreren ärgerlichen Fehlern in diesem Buch. Zum Beispiel war Alexander Haig US-Außenminister und nicht Innenminister, wie es hier heißt; Kibbutzim sind keine Siedlungen, da sie sich im Kernland Israel befinden. Auch die Übersetzung aus dem Englischen lässt stellenweise zu wünschen übrig.

    Was Kimmerling als Sharons politischen Ruin darstellt, waren acht bedeutsame Jahre zwischen 1984 und 1992, in denen er als Industrie- und später Bauminister den Siedlungsbau in dichtbevölkerten palästinensischen Gebieten enorm forcierte. Die Zahl der Siedler in der Westbank stieg von 5.000 auf 105.000.

    Dass auch die palästinensischen Selbstmordanschläge und Arafats stillschweigende Förderung des Terror Sharon an die Macht brachten, erkennt Kimmerling zu Recht. Er schreibt auch Ehud Barak Schuld zu. Der damalige Ministerpräsident setzte den Siedlungsbau fort, ließ palästinensische Häftlinge nicht frei und führte die Verhandlungen nach der Basartaktik. Nach dem Scheitern des Camp David Gipfels glaubten die terrorisierten Israelis nicht mehr an einen Frieden mit Arafat. Sie wollten den Palästinenserführer in die Knie zwingen. Daher wählten sie Sharon, dessen Autobiographie nicht zufällig "Krieger" heißt.

    Gibt es einen neuen Sharon? Daran glaubt Kimmerling nicht. Er gesteht jedoch zu, dass Sharon aus seinem Libanonfeldzug gelernt hat, Legitimation im Inland und im Ausland zu suchen. Diese fand er beim US-Präsidenten George W. Bush, beim Chef der Arbeitspartei Shimon Peres und zuletzt bei der Zentrumspartei Shinui. Sharons Politizid ist nicht mehr in vollem Gang, wie Kimmerling am Ende des Buches feststellte.