Der Abend hatte für Fred Dewilde ausgelassen begonnen. Ein Wiedersehen mit drei Freunden, ein Freitagabend mit krachender Rock-Musik von den Eagles of Death Metal.
"Es war erst ein ganz normales Konzert, wir haben uns amüsiert, haben Bier getrunken. Und plötzlich sind wir in einer ganz anderen Welt. Plötzlich waren wir mitten in einem Krieg."
Eine Szene, mit der der 49-jährige Grafiker niemals gerechnet hätte. Nicht in Paris.
"Sie haben schon geschossen als sie reinkamen. Sie töteten die ersten Personen, auf die sie trafen. In dem Moment begreift man einfach nicht, dass man sich gerade in einem Massenmord befindet."
"Blase der Menschlichkeit"
Fred Dewilde, der sich diesen Namen als Pseudonym zugelegt hat, hat mit schwarzem Stift auf 15 Seiten das Unfassbare gezeichnet. Die Hölle, in der sich die eben noch feiernden Konzertbesucher im Bataclan plötzlich wiederfanden. Im Comic sind es vier Gestalten, die ihre Kalashnikovs abfeuern, gezeichnet als Skelette mit Totenköpfen. Bilder von Menschenhaufen – Lebende, Verletzte und Tote. Fred Dewilde hat seine Freunde in der Masse verloren und liegt plötzlich am Boden neben Élisa. Die junge Frau kann sich nicht bewegen. Sie ist am Gesäß verletzt. Einer der Terroristen steht ist nur wenige Meter neben ihnen. Zusammen stellen sie sich tot, um ja nicht aufzufallen. In einer "Blase der Menschlichkeit", so nennt es Fred Dewilde, überstehen sie die unendlich langen Minuten gemeinsam.
"Alle Überlebenden haben genau das Gleiche mit ihren Nachbarn gemacht, jemand, mit dem sie einen Kontakt haben konnten, einen Blick, ihn einfach reden hören konnten. Diese Blase der Menschlichkeit war fundamental. Es war der Versuch, menschlich zu sein. Die Terroristen waren tot. Sie waren das extreme Gegenteil von dem, was wir beide waren. Wir waren das Leben, sie waren der Tod."
Nichts ist mehr wie zuvor
Dass er am Ende unverletzt dort heraus kam, ist für Fred Dewilde ein Wunder. Danach ist für ihn nichts mehr wie zuvor. Er kann sich auf nichts mehr konzentrieren, erträgt keinen Lärm, macht eine Psychotherapie. Betäubt sich mit Kaffee, Zigaretten, Filmen und Serien, um nicht ständig die Bilder und Geräusche aus dem Bataclan im Kopf zu haben.
"Das Ganze lief wie ein Film vor meinem inneren Auge ab. In Dauerschleife. Immer dann, wenn ich gerade nichts vor meinen Augen hatte, kamen die Bilder zurück. Als der Comic fertig war, war das eine riesige Erleichterung. Und nun, wenn ich das Bataclan sehe, sehe ich viel mehr den Comic als alles andere."
Drei Monate lang zeichnete Fred Dewilde SEIN Bataclan. Den letzten Strich machte er am Freitag, den 13. Mai, zufällig genau ein halbes Jahr nach dem Anschlag. Einmal ist Fred Dewilde seitdem ins Bataclan zurückgekehrt. Im Oktober, zusammen mit anderen Überlebenden. Mit einigen von ihnen will er auch den Jahrestag des 13. November verbringen.
"Für mich ist es ein symbolisches Datum, das bedeutet, dass wir weiter machen müssen, weil es ein Jahr her ist. Ich hätte mir gewünscht, dass dieses Datum auch nach den Gründen fragt, warum und wie es zu dieser Situation kommen konnte. Man darf nicht vergessen, dass es Franzosen waren, die andere Franzosen getötet haben. Und das bedeutet, dass Frankreich ein großes Problem hat. Man muss um jeden Preis verhindern, dass das noch einmal passiert."