An einem kühlen, sonnigen Wintermorgen läuft Diego Longart die Strandpromenade in São Pedro de Estoril entlang, rund 15 Kilometer westlich von Lissabon. Er blickt auf den Ozean, wo ein paar Surfer auf ihren Brettern sitzen und auf die nächste Welle warten.
"Surfen habe ich noch nicht ausprobiert", sagt der 21-Jährige in einem fast fehlerlosen Portugiesisch und grinst. "Mir ist das Wasser hier einfach viel zu kalt." Longart ist an der karibischen Küste aufgewachsen, in einem Vorort von Caracas. Vor zwei Jahren verließ er Venezuela und brach in Richtung Europa auf:
"Der erste Winter hier in Portugal – das war hart für mich. Aber das ist ja gar nichts im Gegensatz zu der Kälte, die in Deutschland, Norwegen oder Holland herrscht. Das Klima ist eigentlich sehr gut in Portugal. Ich kannte das Land nicht. Und als ich herkam, sagte ich mir: Es ist ja wunderschön hier. Hier will ich bleiben."
"Das Leben ist mir zu kostbar. Ich wollte weg."
Der junge Mann mit den halblangen schwarzen Haaren setzt sich in ein Café direkt oberhalb des Strandes und blickt aufs Meer.
In Portugal fühle er sich wieder frei, erzählt er. Das sei in Venezuela ganz anders gewesen. Kurz nachdem Longart in Caracas geboren wurde, kam Hugo Chávez in Venezuela an die Macht. Zunächst schien alles noch gut zu funktionieren. Bis dann vor einem Jahrzehnt die Krise begann. Der Zerfall des sozialistischen Staates sei zunächst schleichend verlaufen, sagt Longart, doch nach dem Tod von Chávez im Jahr 2013 spitzte sich die Lage zu. Es gab Lebensmittelknappheit in den Läden und auf den Straßen nahmen Chaos und Gewalt zu.
"Als ich 16 war, wurde mein Onkel ermordet. Er war in ein Geschäft gegangen, um ein Türschloss zu kaufen, als die Täter den Laden überfielen. Sie erschossen ihn und raubten das Geschäft aus. Für mich war das der entscheidende Moment. Ich wollte nicht mehr in Venezuela bleiben. Das Leben ist mir einfach viel zu kostbar. Ich wollte einfach nur weg."
Diego Longart blieb noch, bis er seinen Schulabschluss hatte. Über die Hälfte seiner Mitschüler suchte wie er nach einer Überlebensmöglichkeit fern der Heimat.
Der Onkel ging in den 60er-Jahren den umgekehrten Weg
Nach Panama, Chile und Spanien sind sie ausgewandert – nur Longart ging nach Portugal. Denn es gibt in seiner Familie eine Verbindung in den Südwesten Europas. Seine Tante hatte einen Portugiesen geheiratet, der vor 50 Jahren unter umgekehrten Vorzeichen den Weg nach Südamerika gewählt hatte: Damals war Portugal eine Diktatur, und Venezuela eine Demokratie.
"Wenn wir unsere Tante besuchten, stand unser Onkel mittags in der Küche, kochte und hörte Fado: Und immer lief Amália Rodrigues. Das ist irgendwie an mir hängengeblieben. Mein Onkel ist außerdem ein großer Fußballfan. Er hatte einen Fernsehsender, über den er die portugiesische Liga verfolgen konnte, und wir schauten uns zusammen die Spiele vom FC Porto an – das ist sein Verein. Die waren damals richtig gut. Also wurde ich natürlich auch Porto-Fan."
Der Fußball erleichterte ihm dann auch die Integration in Portugal, wo in vielen Cafés und Bars häufig ein kurzer Smalltalk über den Ballsport reicht, um das Eis zu brechen. Als Diego Longart nach Lissabon kam, zog er zunächst zu seiner Tante, die zuvor alleine in die Heimat ihres Ehemanns aufgebrochen war.
Das neue Migrationsgesetz half ihm
Für Diego Longart war es nicht einfach, eine Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten. Er kam zunächst als Tourist ins Land und musste dann ein Jahr lang auf seine Papiere warten. Im Sommer 2017 verabschiedete Portugals Linksregierung ein neues Migrationsgesetz: Die Hürden für illegale Immigranten, eine Aufenthaltsgenehmigung zu beantragen wurden deutlich gesenkt. Und davon haben auch viele Venezolaner profitiert, die nicht Portugiesen sind oder von Portugiesen abstammen.
Mittlerweile trifft Longart immer mehr Landsleute in Lissabon, und viele arbeiten so wie er in einem der internationalen Call-Centers, die sich in Portugal in den vergangenen Jahren verstärkt niedergelassen haben. Der Job ist nichts Besonderes, sagt Longart, aber ihm gefällt das internationale Flair und die Tatsache, dass er jeden Tag Englisch, Spanisch und Portugiesisch spreche.
Er vermisst die lateinamerikanische Offenheit
Longart fühlt sich wohl in Portugal, aber etwas vermisst er schon: die lateinamerikanische Offenheit und das gegenseitige Vertrauen, die für ihn die Grundlagen sind, um engere Freundschaften zu schließen:
"Ich habe viele sehr nette Portugiesen kennengelernt. Der erste Kontakt ist immer einfach und alle sind sehr freundlich. Aber wenn es darum geht, eine richtige Freundschaft zu beginnen, dann ist das schwierig hier. Ich weiß auch nicht genau, woran das liegt. Die Leute scheinen ihren eigenen, kleinen Kreis zu haben, und mehr brauchen sie anscheinend nicht. Mein einziger richtiger Freund ist nicht Portugiese, sondern Engländer."
Für Longart ist das aber kein Grund, seine Zelte in Portugal wieder abzubrechen. Im Gegenteil: Er sagt, das Land sei in der kurzen Zeit schon zu einer zweiten Heimat geworden.
"Der Mensch lernt nur dann, wenn er gezwungen ist"
Es scheint, als habe der junge Mann bereits mit Venezuela abgeschlossen. Ja, sagte Longart, er könne sich nicht vorstellen, noch einmal nach Caracas zurückzukehren. Er hat andere Pläne. Er möchte Sprachen lernen und die Welt bereisen. Doch zunächst will er in Portugal Ingenieurwesen studieren. Dafür muss er eine anspruchsvolle Zulassungsprüfung in Portugiesisch bestehen. Für Diego Longart ist das jedoch kein Stolperstein, sondern nur eine weitere, notwendige Hürde auf seinem Weg in Portugal:
"Ich werde üben, üben, üben. So wie immer. Denn der Mensch lernt nur dann, wenn er gezwungen ist, zu lernen. Das halte ich für einen guten Vorsatz."