Ganz unrussisch fing Valery Gergiev im Graben an. Wie aus dem Nichts stieg die Melodie des Pilgerchors herauf, um die Klänge dann in warmen Farben aufblühen zu lassen. Auf dem Gazevorhang der Bühne sehen wir einen Film: die prächtige Wartburg inmitten der herrlichen Waldlandschaft von Thüringen. Die Kamera fliegt über die Berge hinweg, entdeckt eine Straße, einen altmodischen Kleinbus. Der Kleinbus erscheint real auf der Bühne, darin eine vergnügte Kleinkunsttruppe, ein Zwerg wie Oskar Matzerath in Matrosenoutfit plus Trommel, eine schrille Dragqueen, Tannhäuser in Clownskostüm und Venus als blonder Vamp.
Bei Burger King klauen sie das Essen, stehlen Benzin, plakatieren das Land mit anarchistischen Parolen: "frei im Wollen, frei im Thun, frei im Genießen", ein Wagner-Zitat aus dessen Revolutionsschrift von 1849. Aber als Venus kaltblütig einen Wachmann zu Tode fährt, will Tannhäuser aussteigen. Und hier kommt der erste Star des Abends ins Spiel: die Venus der Elena Zhidkova. Prächtig ist ihre Stimme, strahlend und dunkel zugleich, sicher geführt, biegsam und fest zugleich.
Plötzliche Wendungen
Mit vielen Überraschungen treiben Regisseur Tobias Kratzer und sein Team die Geschichte in ungewohnte Richtungen voran: Tannhäuser kehrt nicht zur Wartburg zurück, sondern ins Bayreuther Festspielhaus von heute, zu seinen ehemaligen Sängerkollegen. Die nehmen den Abtrünnigen kumpelhaft in ihren Künstlerkreis wieder auf, obwohl Tannhäuser seine frühere Freundin und Kollegin Elisabeth hatte sitzen lassen.
Doch zusammen beginnen sie im Festspielhaus Richard Wagners Oper "Tannhäuser" aufzuführen, in einem verstaubten Ausstattungstheater mit mittelalterlichem Kronleuchter und Säulengalerien ganz im Biedermeier früherer Wolfgang-Wagner-Zeiten. Mit Liveaufnahmen folgt die Kamera den Sängern durch die Räume hinter der Bühne, was auf eine Leinwand oberhalb der Bühne fürs Publikum in Schwarzweiß projiziert wird. Und hier kommt der zweite Star ins Spiel: die Elisabeth der Lise Davidsen. Eine Trompete in allen Lagen ist ihre Stimme, homogen und immer mit einem Glutkern versehen. Sie müßte allerdings noch das Leisesingen lernen.
Kleinkunst und Großkunst
Zum Sängerwettbewerb haben sich mittlerweile auch Venus, Oskar und die Dragqueen illegal ins Festspielhaus geschlichen. So treffen hier Kleinkunst und Großkunst aufeinander, Trash und elaborierte Kultur, E- und U-Musik, Anarchie und etablierte Institution. Genau diesen Konflikt will Regisseur Tobias Kratzer erzählen, aus dem Geist des Revolutionärs Richard Wagner. Wie ja auch Tannhäuser ein halber Revolutionär ist, hin- und hergerissen zwischen der radikalen Freiheit der Venus-Welt und der Wartburg-Welt aus Tradition, Verantwortung und Verbindlichkeit.
Konstruierter Konflikt
Mit vielen guten Ideen, Witz, Klamauk und zutiefst melancholischen und rührenden Momenten fantasiert Kratzer seine Geschichte. Er nimmt dafür aber manche Ungereimtheiten in Kauf, sogar Fehler. Auch dem Dirigenten Valery Gergiev gelingt vieles nicht mehr. Wenn es kompliziert wird, gerät manches aus den Fugen.
Und die Inszenierung von Tobias Kratzer ist zwar anspielungsreich: Der Plastikhase auf dem Autodach erinnert an das Hasenmotiv in Christoph Schlingensiefs "Parsifal"-Inszenierung in Bayreuth und die Trash- und Videoästhetik an die Arbeiten von Frank Castorf. Doch bei allem Zeichenaufwand konstruiert die Regie einen Konflikt, den es gar nicht so recht gibt. Die realen Probleme wie politische, soziale und klimatische Verwerfungen auf globaler Ebene rührt Kratzer nicht an. Dieser "Tannhäuser" wirkt letztlich wie eine Spiegelfechterei - aber mit Unterhaltungswert.