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Beantwortung wissenschaftlicher Kardinalfragen

Für die Beantwortung der Fragen "Hat Röntgenlicht Welleneigenschaften?" und "Wie sind Kristalle aufgebaut?" erhielt Max von Laue 1914 den Nobelpreis für Physik. Das Preisgeld teilte er mit seinen Mitarbeitern Friedrich und Knipping. Mit ihrer Entdeckung lassen sich heute zwei Dutzend weitere Nobelpreise in Verbindung bringen.

Von Mathias Schulenburg |
    Professor Max von Laue und seine Mitarbeiter Walter Friedrich und Paul Knipping werden schon geahnt haben, welche Bedeutung dem Umschlag zukam, den sie am Abend des 4. Mai 1912 gemeinsam in den Briefkasten der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München warfen.

    Wenn sie aber in die Zukunft hätten sehen können, wären sie vollkommen perplex gewesen: Mit ihrer Entdeckung lassen sich heute zwei Dutzend Nobelpreise in Verbindung bringen, und die damit einhergehende Summe aller Erfindungen und Erträge – die Mikroelektronik gehört dazu – lässt das Mondlandeunternehmen verblassen. Und das hatten die drei gefunden. Erstens:

    "Wie gewöhnliches Licht kann auch Röntgenlicht Welleneigenschaften zeigen."

    Dann kann es gebeugt werden, wie das Licht einer Laterne am Regenschirmstoff, da sieht man ein Kreuz. Und zweitens:

    "Kristalle bestehen aus regelmäßigen Stapeln identischer Baublöcke."

    Das konnte man den Beugungsmustern entnehmen, ähnlich, wie man vom Kreuz beim Regenschirmstoff darauf schließen kann, dass dieser aus kreuzweise gewebten parallelen Fäden besteht. Ein Kristall ist dreidimensional; millionenfach vergrößert, ähnelt er tatsächlich einem dieser sorgfältig arrangierten Orangenstapel beim Obsthändler. Den Orangen entsprächen im Kristall einzelne Atome oder Gruppen von miteinander verbundenen Atomen, also Moleküle.

    Beide Fragen – "Hat Röntgenlicht auch Welleneigenschaften?" und "Wie sind Kristalle aufgebaut'" – waren wissenschaftliche Kardinalfragen, ihre Beantwortung brachte Max von Laue 1914 den Nobelpreis für Physik ein. Das Preisgeld teilte er mit seinen Mitarbeitern Friedrich und Knipping.

    Die hatten nach Vorgaben von Laues einen dünnen Röntgenstrahl auf einen Kristall gelenkt und dahinter eine fotografische Platte gesetzt. Als die entwickelt worden war, zeigte sie ein regelmäßiges Punktmuster – mit der richtigen Theorie im Rücken Beweis einerseits für den stapelartigen Aufbau der Kristalle, andererseits für die Wellennatur der Röntgenstrahlen.

    Mehr noch: Aus dem Beugungsmuster ließ sich, nach gehöriger Verfeinerung der Technik, nicht nur die Anordnung der Baublöcke des Kristalls ableiten – im Orangenbild der regelmäßige Stapel –, sondern auch noch die Struktur der Baublöcke selber, der Orangeninhalt: die Segmente, die Kerne, feine Details.

    Die bislang spektakulärste Röntgenkristallstrukturaufklärung gelang 1953 an der Erbsubstanz DNA. Unlängst glückte ein vergleichbarer Coup: Die Entschlüsselung der Struktur eines Ribosoms; jener Zellmaschine – in einer Zelle millionenfach vorhanden –, die mit den Informationen in der Erbsubstanz DNA Proteine herstellt, den Stoff, der Lebewesen erst Form und Funktion verleiht.

    Dafür gab es drei Nobelpreise, davon einen für Ada Yonath, Direktorin am Weizmann-Institut in Israel, lange Jahre auch Leiterin der Max-Planck-Arbeitsgruppe Ribosomenstruktur beim DESY, einem Forschungszentrum für naturwissenschaftliche Grundlagenforschung in Hamburg, das über starke Röntgenlichtquellen verfügt. Schon einen Ribosomenkristall zu machen war alles andere als einfach, sagt Ada Yonath:

    "Das Ribosom ist schon mal nicht sehr stabil, es zerfällt sogar im Körper, muss ständig neu gebildet werden, und dann mussten wir es stabilisieren, weil es so zappelig ist, und es muss [für die Kristallstrukturanalyse] ja einen ordentlichen Stapel bilden. Tot durfte es aber auch nicht sein, wir wollten ja sehen, wie die Struktur funktioniert – also das war schon sehr trickreich, aber 20 Jahre Arbeit und wir hatten es."

    Wer ein bakterielles Ribosom so genau kennt, kann Stoffe präparieren, die nur die Bakterienribosomen lahm legen und nicht etwa die Ribosomen des Patienten, also nützliche Antibiotika entwickeln.

    Derzeit wird auch die Kristallstrukturaufklärung auf ein neues Niveau gehoben; am DESY bei Hamburg entsteht ein Röntgenlaser, der komplexe Strukturaufklärungen drastisch beschleunigen wird und damit die Entwicklung von Medikamenten, Nanosolarzellen, Lichtquellen, smarten Materialien und vielem Nützlichem mehr.