Jürgen Zurheide: Frau von Weizsäcker, was steht in Ihrer Petition, was ist die Kurzfassung?
Weizsäcker: Die Kurzfassung der Petition ist eigentlich ganz simpel. Wir plädieren für eine humane Flüchtlingspolitik, für einen menschlichen Umgang mit Schicksalen von Flüchtlingen. Wir appellieren an die Regierungen in der EU, sich nicht abzuschotten gegenüber Flüchtigen, und wir fordern oder wünschen uns von den Kirchenleitungen stärkere, kräftigere, mutigere Worte, auch Worte, bei denen es nicht um Rücksichtnahme auf politische Situationen geht.
Überrascht über großen Zulauf für die Petition
Zurheide: Wir kommen gleich noch zu weiteren Einzelheiten. Erst mal das ganze Verfahren ist auch für Kirchenkreise ungewöhnlich. Sie haben das im Internet gemacht. Ich habe es gesagt, ich habe vorhin noch mal reingeschaut, wir waren bei knapp 90.000 Unterzeichnern. Ist das für Sie viel, ist das wenig, wie muss man das einordnen?
Weizsäcker: Das ist für uns viel. Wir haben das ja ungefähr vor zwei Wochen gestartet und waren doch selbst überrascht, was für einen großen Zulauf diese Petition bekommen hat. Dass wir so viele Unterzeichner finden würden, also das war eine Überraschung. Wir finden das toll. Das zeigt uns aber auch, dass wir einen Kern getroffen haben, dass wir etwas zum Ausdruck bringen, was vielen Menschen auf der Seele liegt und was sie zum Ausdruck gebracht haben möchten.
"Unsere Zielrichtung sind die Kirchenleitungen"
Zurheide: Sie haben gesagt, vor allen Dingen die Kirchenführungen wollen Sie ansprechen. Protestanten und Katholiken oder nur eher Protestanten? Sie sind alle drei - neben Ihnen ist da noch Sven Giegold, der Grüne-Europaabgeordnete, und Ansgar Gilster -, sind die drei Initiatoren neben Ihnen Protestanten oder auch Katholiken? Wie ist da Ihre Zielrichtung?
Weizsäcker: Unsere Zielrichtung sind die Kirchenleitungen. Da unterscheiden wir nicht zwischen protestantischen und katholischen Kirchenleitungen. Sie richten sich selbstverständlich an beide.
Erstmals stellt sich EKD-Ratsvorsitzender dem Publikum
Zurheide: Und wie ist die Reaktion bisher?
Weizsäcker: Die Reaktion ist auf protestantischer Seite, die wir besser beurteilen können, weil wir selber dazugehören, wirklich phänomenal. Zunächst war eine kleine Zurückhaltung zu spüren, weil viele auch berechtigterweise gedacht haben, ich tue ja sehr viel, ich äußere mich doch sehr deutlich, und dann hat doch vor wenigen Tagen Bischöfin Ilse Junkermann von der "Mitteldeutschen Zeitung" als erste leitende Geistliche der evangelischen Kirche unterschrieben, und nun hat auch Präses Manfred Rekowski auch unterschrieben. Das finden wir sehr toll. Das sind die ersten beiden, die das unterschrieben haben. Was auch für uns fast unerwartet war: Der Ratsvorsitzende Bedford-Strohm wird sich Ende August einer Internetdiskussion stellen, an der sich jeder beteiligen kann, und schon jetzt gibt es ungefähr 300 Anmeldungen dafür. Also das ist ganz neu, das hat es noch nie gegeben, dass ein EKD-Ratsvorsitzender sich auch sozusagen Fragen, kritischen Fragen, vor so einem öffentlichen Publikum stellt.
"Unter unseren Unterstützerinnen sehr viele Katholiken"
Zurheide: Und Stichwort Katholiken? Das kann ich Ihnen natürlich jetzt nicht ersparen. Wie ist da die Reaktion?
Weizsäcker: Nein, das können Sie mir nicht ersparen, aber da ... Ich habe von katholischer Seite bisher nichts gehört, also dass sozusagen leitende Geistliche sich geäußert hätten. Wir haben allerdings unter unseren Unterstützerinnen sehr viele Katholiken.
Begrüßen eines künftigen Einwanderungsgesetzes
Zurheide: Kommen wir noch mal jetzt zu den Inhalten. Sie sagen - und das ist einer der Kernsätze –, die Europäische Union braucht Humanität und Ordnung in der Flüchtlingspolitik. Da würde ich sagen, da haben Sie mit Herrn Söder ja jetzt einen neuen Fan. Der hat das die Tage auch gesagt, oder lächel ich dabei zu Recht?
Weizsäcker: Ja, man darf hoffentlich auch mal lächeln, damit man nicht ganz untergeht in dem Schlamassel. Wir brauchen Humanität, das ist ganz klar, weil es um einzelne Schicksale geht. Man braucht natürlich auch Ordnung, soweit es um die Organisation geht. Man muss ja auch bei dem ganzen Thema unterscheiden zwischen Flucht und Migration, und was wir begrüßen, ist, dass es nun ein Einwanderungsgesetz geben wird, auch in Deutschland ...
Organisieren, dass sich Menschen und Arbeitsplätze finden
Zurheide: Wird es das geben? Sind Sie da noch …?
Weizsäcker: So heißt es ja, und wie das aussehen wird, das wissen wir auch nicht. Das müssen Sie Frau Merkel fragen, nicht mich. Das weiß ich dann doch auch nicht, aber es ist natürlich wünschenswert, um Migration auch, wenn man so will, auch zuzulassen und dann aus deutscher Sicht auch so zu organisieren, dass sich Menschen und Arbeitsplätze, sagen wir mal, so finden. Das ist so der Ordnungsbereich. Bei der Flüchtlingsfrage muss doch die Humanität an allererster Stelle stehen.
Verrohung im Sprachgebrauch von Politikern
Zurheide: Jetzt gibt es natürlich viele in unserer Gesellschaft, die sagen, na ja, das haben wir jetzt lange genug gehabt, wir brauchen im Moment etwas mehr Ordnung. Das ist ja auch ein Teil der Debatte, wobei ich dann schon hinzufügen würde: Natürlich, die Debatte hat sich verselbstständigt, und auch mit Begriffen ist sie weitergeführt worden, dass es eine Art Verrohung gibt. Das hat die Kanzlerin ja gestern auch noch mal beklagt. Wie sehen Sie das?
Weizsäcker: Also diese Verrohung sehe ich auch ganz, ganz deutlich. Die Kanzlerin hat ja auch gesagt - und das sehe ich ganz genauso -, Sprache ist Ausdruck des Denkens, Sprache kann spalten, und das sehe ich ganz genauso. Also wenn wir sprechen - nicht wir, Sie und ich -, sondern Politiker von Asyltourismus sprechen, als wäre das eine Ferienreise, statt Flucht aus Not, oder wenn das Wort von der Anti-Abschiebeindustrie fällt, als wären das nicht Leute, die Flüchtlingen helfen wollen und so weiter, und wenn es darum geht, Grenzen zu schützen und nicht Menschen zu schützen, wenn von einer Flüchtlingswelle die Rede ist, von einer Flüchtlingskrise, und wenn man dann auch noch hört, dass der Innenminister sich öffentlich freut, dass an seinem 69. Geburtstag genau 69 Menschen abgeschoben werden, dann ist das Wort Verrohung eigentlich noch milde ausgedrückt.
"Warum seid ihr eigentlich anderer Meinung"
Zurheide: Jetzt sage ich, Sie denken so, die Unterzeichner denken so, es gibt eine breite Bewegung, auch in Bayern sieht man das ja an den aktuellen Wahlumfragen, dass es da Zuspruch gibt, aber Sie können ja nicht negieren, dass es auch einen ganz erheblichen anderen Teil in der Bevölkerung gibt, der wahrscheinlich sagt, jetzt reden die beiden Gutmenschen da wieder über irgendetwas. Wie wollen Sie denn jene Menschen erreichen und überzeugen, die im Moment nicht mehr so sehr auf die Humanität schauen? Das ist ja die spannende Frage.
Weizsäcker: Ja. Für mich ist ganz klar, um diese Menschen erreichen zu können, gilt es, nicht zu spalten, also nicht zu sagen, ihr habt unrecht, wir haben recht. Das finde ich vollkommen falsch. Was ich absolut notwendig finde, ist, die Menschen, die anderer Meinung sind, zu fragen, warum seid ihr eigentlich anderer Meinung. Menschen, die sagen, ich habe Angst, also meine Kinder kriegen keinen Arbeitsplatz, wir finden keine Wohnung…
Aggression oder Abwehr: "Ich will das durchbrechen"
Zurheide: Also wenn ich Sie da unterbrechen darf, gehen Sie mit mir in meine Heimat oder einen Teil meiner Heimat, in Essen, im Essener Norden, da werden Sie genau viele Menschen finden, die das sagen, was Sie gerade ansprechen, und das sind reale Ängste oder sind auch reale Ängste, richtig?
Weizsäcker: Ganz genau, es sind reale Ängste. Das Seltsame ist nur, dass die realen Ängste der eigenen persönlichen Situation umschlagen in Aggression oder Abwehr von Flüchtlingen, die man im Zweifel gar nicht kennt. Verstehen Sie, ich will das durchbrechen, dass man nicht zuerst sagt, ja, die Menschen da und da sind eben ausländerfeindlich. Man muss schauen, warum äußern sie sich denn kritisch, warum äußern sie sich vielleicht sogar ausländerfeindlich, und dann kommt man zu dem Punkt, den Sie gerade von Essen gesagt haben. Sie haben ihre Situation, die ist schwierig, die muss man ernst nehmen, die muss man auch angehen. Es ist nur nicht sozusagen Thema unserer Petition. Ich bin nur ganz dagegen, zu sagen, ihr, die ihr euch abschotten wollt - also jetzt nicht die Politiker, sondern die Bevölkerung -, ihr seid schlecht, und wir, die wir ein offenes Herz haben wollen, wir sind gut. So ist das nicht.
Zurheide: Was wünsche ich Ihnen, viel Glück. Diese kommentierte Bemerkung sei am Ende dann gestattet, Frau von Weizsäcker. Herzlichen Dank für das Gespräch.
Weizsäcker: Herzlichen Dank!
Zurheide: Heute Morgen. Die Petition läuft im Internet, wer sich das anschauen will, kann es tun. Danke schön, auf Wiederhören!
Weizsäcker: Herzlichen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Anmerkung der Redaktion: Durch einen Kürzungsfehler im Vorspann dieses Beitrag wurde der Evangelische Kirchentag als Initiator der Petition benannt. Petitionsstarter waren aber nur die folgenden drei Mitglieder des Kirchentagspräsidiums: Beatrice von Weizsäcker, Sven Giegold und Ansgar Gilster.