"Ich bin in einer patriarchalen Gesellschaft aufgewachsen. Der Intellekt stand immer im Vordergrund, Emotionen wurden unterdrückt. Als ich später eine andere Seite in mir entdeckte: die Intuition, - da eröffnete sich mir eine neue Dimension: Es war die Erfahrung, die der Hinduismus als "Nicht-Dualität" bezeichnet, als "Advaita". Diese Erfahrung, die hinduistische und christliche Mystiker beschreiben, führt über die Enge des Verstandes hinaus und lässt dich erkennen, dass alles von einem großen Ganzen umfangen ist. "
Das sagt Bede Griffiths, der im Mai 1993 starb, in einem seiner letzten Interviews. Mehr als ein halbes Jahrhundert zuvor, 1931, hat eine Nacht in London den Lebensweg des Mystikers entscheidend geprägt: Der junge Engländer trägt zu dieser Zeit noch seinen Geburtsnamen Alan. Er lehnt den Lebensstil moderner Industriegesellschaften ab und ist auf der Suche nach Orientierung.
Nach einem Literatur- und Philosophiestudium in Oxford, versucht er mit Freunden auf dem Land, eine alternative Lebensgemeinschaft aufzubauen. Als sie scheitert, ist der 25jährige Aussteiger verzweifelt und beschließt, eine ganze Nacht betend zu verbringen:
"Am schlimmsten war der Kampf gegen den Verstand"
"Ich kniete nieder und begann zu beten. Natürlich hatte ich mit dem Schlaf zu kämpfen. Aber am schlimmsten war der Kampf gegen den Verstand, der mir sagte, dass das, was ich tat, völlig irrational war. Ein vernünftiger Mensch macht so etwas nicht. Ich hatte mit der ganzen äußeren Welt zu kämpfen, um meinen Verstand zu durchbrechen und mich einer Dunkelheit zu öffnen. Schließlich verschwand das Licht der Vernunft. Aber nun war gar kein Licht mehr zu sehen."
Der Anglikaner Alan Griffiths weiß in diesem Moment noch nicht, dass er einen Prozess durchlebt, den mittelalterliche Mystiker wie Meister Eckhart oder Johannes vom Kreuz als "tiefe Nacht der Seele" beschrieben haben.
"Diese Nacht ist für die Sinne bitter, für den Geist ist sie entsetzlich. Doch sie ist eine gnadenvolle Einwirkung, welche die Seele von ihren gewohnheitsmäßigen Unvollkommenheiten läutert. Es ist eine mystische Erfahrung, in der Gott zum Lehrer der Seele wird."
So Johannes vom Kreuz und Meister Eckhart schrieb:
"Das Licht deiner Vernunft muss zu nichts werden. Dann kann Gott mit seinem Licht in dich hinein und in dir leuchten, und er bringt alles mit, was dir ausgegangen ist, und mehr."
Alternativer Lebensstil und spirituelle Tiefe
Für Alan Griffiths wird die Nacht in London zu einem Schlüssel-Erlebnis. Gegen Morgen erhält er – nach eigenen Aussagen – die erleuchtende "Eingebung": Er beschließt, ein Retreat, also einen Kurs zur Selbstbesinnung, zu machen und kommt in intensiveren Kontakt mit der katholischen Kirche. Wenig später lernt er das Benediktiner-Kloster Prinknash Abbey kennen und findet dort – zumindest vorerst – was er sucht: einen alternativen Lebensstil und spirituelle Tiefe. 1932 tritt er der Gemeinschaft als Novize bei und erhält den Mönchsnamen "Bede".
20 Jahre später leitet Bede Griffiths das Kloster als Prior. Der regelmäßige Wechsel von Gebet und Arbeit ist für ihn selbstverständlich geworden. Die Suche nach der letzten Wahrheit hat eine feste Form bekommen. Doch gleichzeitig wächst in dem Benediktiner ein Unbehagen:
"Ich hatte begonnen, herauszufinden, dass in der westlichen Welt und ihrer Kirche etwas fehlte: Wir leben in Europa nur die eine Hälfte unserer Seele, die bewusste, die rationale Seite. Ich sehnte mich danach, die andere Hälfte meiner Seele zu entdecken."
Auf der Suche in Indien
Der fast 50jährige Ordensmann macht sich noch einmal auf die Suche. Er lernt den indischen Benediktiner Benedict Alapatt kennen, vertieft sein Wissen in asiatischer Philosophie und ergreift 1955 die Gelegenheit, mit Alapatt nach Indien zu reisen:
"Ich glaubte, Indien könnte uns in den westlichen Kirchen helfen, die Innerlichkeit neu zu entdecken. Denn der Geist des Ostens schien mir intuitiv offen für die verborgene Kraft, die Mensch und Natur durchdringt."
In Südindien angekommen, begegnet Bede Griffiths einer überwältigenden Fülle von Sinneseindrücken: leuchtende Reisfelder und weite Palmenhaine beeindrucken ihn ebenso wie Jahrtausende alte Tempelanlagen und die Hingabe hinduistischer Gläubiger an ihre Religion.
"Der Hinduismus hat ein tiefes Empfinden für das Heilige. Alles in der Natur ist heilig: die Tiere, die Bäume, das Wasser. In Europa hat man das Gefühl dafür heute oft verloren. In der Spiritualität Indiens versucht man hingegen, das Heilige sichtbar zu machen, zu leben. Wir Inder haben diese Weisheit des Hinduismus im Blut. Bede Griffiths war als Katholik fest in seinem Glauben verankert, aber er hatte zugleich viel Sinn für den Reichtum des Hinduismus."
… erinnert sich der indische Benediktiner George Nelliyanil. Der Hinduismus, zu dem sich traditionell rund 90% aller Inder bekennen, ist eine Religion voller Mythen, Götter und Geister. Eine bunte Bilderwelt. Doch es gibt auch die Jahrtausende alte hinduistische Philosophie der Upanishaden: Sie bezeichnet Gott als "Quelle", als Urgrund, aus dem alles Irdische hervorgeht:
"Aus ihm strömt die uralte Weisheit, niemand hat ihn erfasst, es gibt kein Bild von ihm, seine Gestalt ist nicht sichtbar. Doch die, die ihn mit dem Geist als im Herzen wohnend erkennen, - sie werden unsterblich."
Inspiriert von dieser Vision sieht Bede Griffiths seine eigene, christliche Glaubensüberzeugung nach und nach in einem neuen Licht. Gegen Ende seines Lebens wird er sagen:
"Gott ist auch im christlichen Verständnis keine Person. All unsere Begriffe von Gott – wie Vater, Sohn und so weiter – sind nur Projektionen. Jenseits all dieser rationalen Begriffe ist Gott auch für uns einfach der Ursprung, die Quelle, das Eine. Und von diesem Einen geht das aus, was wir "Schöpfung" nennen. Das Göttliche ist daher – auch für den christlichen Mystiker – in allem Lebendigen gegenwärtig: in jedem Atom, in jedem Molekül, in jedem Lebewesen, in jedem von uns."
"Tische, Stühle, Gabeln und Teller sind unnötig"
In Indien behält Bede Griffiths zunächst den ihm vertrauten benediktinischen Lebensstil bei. Dann denkt er um.
"Unsere Mahlzeiten nahmen wir Mönche damals am Tisch sitzend ein, mit Gabeln, Messern und Löffeln. Unsere Zellen waren mit hölzernen Betten ausgestattet, einem Tisch, einem Stuhl und einem Regal. Doch schrittweise entdeckte ich, dass alle diese Gegenstände für die Inder im Nachbarort unerhörter Luxus waren. In Indien schrumpfen die menschlichen Bedürfnisse auf ein Minimum: Tische, Stühle, Gabeln und Teller sind unnötig. Eine Mahlzeit am Tag mit Reis und Gemüse gilt als ausreichend. Man sitzt am Fußboden und isst mit der rechten Hand. Ein Bananenblatt ist der Teller."
Bede Griffiths zieht sich zehn Jahre lang in ein kontemplatives Kloster im südindischen Bundesstaat Kerala zurück. In den 60er Jahren und erfährt er von einem Projekt im benachbarten Tamil Nadu: Dort haben die französischen Benediktiner Henri le Saux und Jules Monchanin begonnen, eine Gemeinschaft aufzubauen, die sich ganz dem interreligiösen Dialog widmet: den Saccidananda-Ashram. Hier lebt auch der indische Mönch John Martin:
"Der Ashram wurde gegründet, um die Gotteserfahrung des Hinduismus und des Christentums in Austausch zu bringen. Der Name des Ashrams ist ein Symbol dafür: Saccidananda-Ashram. Das ist der hinduistische Name für alles Göttliche. Der christliche Name lautet: Ashram der "Heiligen Trinität": "Sat" steht für den Vater, "Chid" für den Sohn und "Ananda" für den "Heiligen Geist". Auf diese Weise haben die Gründer des Ashrams versucht, symbolisch die Erfahrung Gottes im Hinduismus und im Christentum zu verbinden."
Der Ashram liegt am Ufer des breiten Flusses Kavery in einem Palmenhain namens "Shantivanam". Auf Deutsch: "Wald des Friedens". Inmitten der unberührten Natur fühlt sich Bede Griffiths am Ziel seiner Suche.
"Bede Griffiths war ein Guru"
1968 übernimmt er die Leitung der kleinen Gemeinschaft und bemüht sich, den Ort in allen Details so zu gestalten, dass er in Einklang mit der Umgebung steht. Die Mönche tragen nur einfache Saris, essen am Boden sitzend und schlafen auf Strohmatten. Mit Spenden, die Bede Griffiths erhält, fördert er im angrenzenden Dorf ein Altenheim und eine Weberei und schafft damit eine Lebensgrundlage für mittellose Dorfbewohner. Sein langjähriger Assistent Swami Christodas erinnert sich:
"Bede Griffiths war ein Guru, in dem Sinn, dass er in allem, was die Leute von seinem Leben sahen, ein Lehrer war, ein erleuchteter Mensch. Ihn interessierten weder Geld noch Macht noch schöne Kleider. Aber er war immer glücklich."
Griffiths richtet den Ashram ganz auf das spirituelle Leben der Bewohner aus. Parallelen zwischen indischen und benediktinischen Gepflogenheiten – wie etwa regelmäßige Gebetszeiten – kommen ihm dabei zu Gute:
"Die Stunde vor Sonnenaufgang und vor Sonnenuntergang ist in Indien die traditionelle Zeit der Meditation. Diese stille Gemeinschaft mit Gott bildet für jeden einzelnen die Grundlage des Lebens. Und das Gebet der Gemeinschaft – zu dem wir im Ashram dreimal am Tag zusammenkommen – ist wie ein Überfließen davon."
Amtlicher Segen von der katholischen Kirche
In der Liturgie der Gebetsstunden verbindet Bede Griffiths bald schon katholische und indische Elemente. Ein zähes Ringen mit den Kirchenverantwortlichen von Tamil Nadu ist die Folge. Doch das Zweite Vatikanische Konzil hat wenige Jahre zuvor die katholische Kirche für den Austausch mit nicht-christlichen Religionen geöffnet. Jahrhundertelang waren die Vorstellungen des Hinduismus und anderer Religionen als Irrlehren abgetan worden. Trotzdem erhält Bede Griffiths für seine neuen Liturgien schließlich den amtlichen Segen.
"Wir beginnen stets mit Gesängen aus dem Sanskrit. Das ist sehr wichtig. Es ist eine heilige Sprache, die ihre eigene Schönheit und Kraft hat. Es folgen Lesungen aus verschiedenen hinduistischen Schriften: den Veden, den Upanishaden, der Bhagavadgita. Abends kommen die Texte des großen tamilischen Mystikers Kabir und anderer Heiliger zum Tragen. Danach gehen wir zu Psalmen und biblischen Texten über. Wir öffnen uns so für alle religiösen Traditionen der Welt."
Unter der Leitung von Bede Griffiths verbreitet sich der Ruf von Shantivanam nach und nach über die Grenzen Indiens und der katholischen Kirche hinaus. Der Ashram entwickelt sich zu einem spirituellen Zentrum für Besucher aus aller Welt, gleich welcher Glaubensrichtung oder Nation sie angehören. Dabei ist er in seinen Gedanken den Vorstellungen der meisten Christen weit voraus, so etwa, wenn er erklärt:
"Die Ansicht, Jesus Christus wäre der einzige Weg, war einfach nur eine geschichtliche Illusion. Erst jetzt merken wir, dass die Erfahrung Jesu einzigartig und wunderbar ist, dass sie aber nicht der einzige Weg ist, auf dem Gott erfahren wurde. Darüber kann es wirklich keinen Zweifel geben. Ich denke, das Zweite Vatikanische Konzil hat damit aufgeräumt."
In einem seiner letzten Interviews erklärt der Benediktiner:
"Jenseits aller Unterschiede zwischen unseren Religionen gibt es eine grundlegende Wahrheit, die wir alle teilen. Solange wir an der Oberfläche bleiben, sehen wir nur die Unterschiede, und der Hinduismus scheint Meilen weit weg vom Christentum oder vom Islam. Aber wenn wir in jeder Religion in die Tiefe gehen, uns auf ihr Zentrum zu bewegen, dann kommen wir uns automatisch näher. Denn alles entspringt in diesem Zentrum – und alles läuft auf dieses Zentrum zu!"
Unter Hindu-Gelehrten gewinnt Bede Griffiths viele Freunde. Zu ihnen gehört Swami Nitiananda, der im südindischen Tapovanam ebenfalls einen Ashram leitet.
"Die Mystik ist der Punkt, an dem sich die Religionen treffen. Um die Mystik zu respektieren, muss man verstehen, was sie ist: Es geht in ihr um die unmittelbare Erfahrung Gottes. Und warum sollte Gott parteiisch sein, nur die Angehörigen einer Religion lieben und alle anderen in die Hölle schicken? Ein engstirniges Dogma bringt gebildete Menschen dazu, sich komplett von der Religion abzuwenden, und die Gesellschaft gerät ins Wanken."
Schlaganfall als Erleuchtungs-Erfahrung
1990 trifft Bede Griffiths unvermittelt ein Schlaganfall. Der Mystiker akzeptiert ihn als eine Art Erleuchtungs-Erfahrung, die seine Sehnsucht nach dem Göttlichen beantwortet:
"Was geschah, verstehe ich so: Meine linke Gehirnhälfte und das gesamte rationale System in mir wurden praktisch niedergeschlagen und die rechte Gehirnhälfte, die intuitive und emotionale Seite wurde dadurch geöffnet. So habe ich erfahren, was man in der hinduistischen Mystik "Advaita" nennt, "Nicht-Dualität". Es bedeutet, dass alle Grenzen wegbrechen, die die Dinge voneinander trennen. Ich kann fühlen, wie alles im Mysterium des Einen geborgen ist, in einer allumfassenden Liebe. Diese Erfahrung gibt es in der Mystik aller großen Religionen. Es ist letztlich eine universelle Einsicht."
Bede Griffiths ist nach dem Schlaganfall, so sagt er, "auf den Tod vorbereitet". Aber sein Körper erholt sich. Erst 1993 setzt ein zweiter Schlaganfall seinem Leben ein Ende. Sein Assistent, der Benediktiner Christodas, erinnert sich:
"Am dritten Tag haben wir seinen Körper dann in einer Prozession zur Beerdigung getragen. Und plötzlich wurde es dunkel und vom Fluss, vom Kavery, kam ein starker Wind, sodass die Blätter von den Bäumen fielen. Und alle, die das gesehen haben, sagten: Seht, nun geht Father Bede! Nun geht sein Geist! Die Leute hatten ein starkes Empfinden dafür, dass er ein Heiliger war, und ein großer Mann, der eins war mit der Natur."
Bis heute kommen Menschen aus aller Welt nach Shantivanam, um dort das Grab von Bede Griffiths zu besuchen oder Menschen anderer Religion kennenzulernen.
Zu Lebzeiten hatte Bede Griffiths dafür gesorgt, dass sich Shantivanam der benediktinischen Kongregation von Camaldoli anschloss. So erhielt der Ashram einen festen kirchlichen Status und Unterstützung. Der Mystiker war überzeugt, dass spirituell orientierte Gemeinschaften dieser Art dem Christentum Zukunft geben, und er riet seinen Nachfolgern:
"Wir sind alle Pilger auf der Suche nach Wahrheit. Wir dürfen nie vergessen, dass das göttliche Mysterium, die letzte Wahrheit, unsere Begriffswelt übersteigt. Wollen wir zu dem Mysterium gelangen, das jenseits von Worten und Gedanken, von Leben und Tod liegt, müssen wir über die Begriffe hinausgehen! Will die Kirche heute wieder aufleben, muss sie neue Ausdrucksformen finden."