Kurt Vonnegut: Eigentlich habe ich einen konventionellen Roman schreiben wollen - offen gestanden rechnete ich gar nicht damit, so lange zu leben (lacht). Ich fand, ich hätte nun lange genug gelebt und viel genug geschrieben, und darf ich nicht bitte nach Hause gehen? Also schrieb ich zunächst einen konventionellen Roman, den ich einfach nur hasste, aber ich hatte schließlich einen Vertrag unterschrieben und musste einen Roman abliefern. Und dann sagte ich mir: In Ordnung, fang einfach noch mal von vorn an, und so ist "Zeitbeben" entstanden. Dieser Roman ergibt in den USA, wo alle meine Bücher lieferbar sind, wohl mehr Sinn als in Deutschland oder anderen europäischen Ländern, wo die wenigsten meiner Werke erhältlich sind, denn in den USA wird dieses Buch im Grunde wie ein letztes Kapitel eines sehr langen Romans gelesen. Ein bisschen ist der Roman wie der Fellini-Film "Achteinhalb", wo am Ende alle Schauspieler an der Kamera vorbeiparadieren. So ein Buch wollte ich mir einfach leisten. Ich bin jetzt 75, wahrlich alt genug, und da wollte ich meine Karriere nicht mit einem Buch beenden, das ich nicht mochte und selbst nicht verstand. Diesen Roman verstehe ich, er ist ein ziemlich egoistisches Projekt.
Dennis Scheck: Ein autobiographisches Werk ...
Vonnegut: Ja.
Keine Geschichten über Deutschamerikaner
Scheck: Dennoch haben Sie der Versuchung widerstanden, eine umfangreiche Autobiographie eines Deutschamerikaners zu schreiben ...
!!Vonnegut: Für Deutschamerikaner interessiert sich niemand. (lacht) Glauben Sie mir, für gewöhnliche Leser sind das die alleruninteressantesten Menschen. Es gibt keine Klischees über uns außer eines: dass wir langweilig sind. Wir stehen im selben Ruf wie die Schweizer, nämlich recht fade Menschen zu sein. Italiener gelten als spannend, tolle Liebhaber, Juden gelten als gescheit, Südstaatler sind romantisch und so weiter. Für die Deutschen aus dem Mittleren Westen interessiert sich aber niemand. Es gibt noch nicht mal Klischees über uns. Jeder vierte weiße Amerikaner stammt von Deutschen ab. Alle meine Vorfahren waren ausschließlich Deutsche. Aber alle meine Vorfahren kamen hierher, bevor es eine Freiheitsstatue gab, und sie wollten keine Europäer mehr sein. Interessant ist ja auch, dass es weder im Ersten noch im Zweiten Weltkrieg einen Fall von Landesverrat durch einen Deutschamerikaner gab. Als ich in deutsche Kriegsgefangenschaft geriet, hat man mich gefragt: Warum führst Du Krieg gegen Deine Brüder? Und mir wollte gar nicht in den Kopf, von was zum Teufel die da redeten. Die Deutschen, die hier einwanderten, und die deutschen Juden, die galten im Mittleren Westen einfach als noch mehr Deutsche. Die meisten davon waren Freidenker und liefen vor der Knute der Geistlichkeit weg. Aber es gibt keine Geschichten, die man über sie erzählen konnte. Die Italiener und Iren, die hierher kamen, waren arm, Bauern. Die Deutschen waren gebildet, viele sprachen schon Englisch. Sie hatten Geld. Zu den großen Verwerfungen in der amerikanischen Gesellschaft, von denen kaum einer je spricht, zählt der Groll der Anglos gegen die Deutschen, weil die Deutschen anders als die anderen Einwanderer wie die Slawen oder die Iren oder die Italiener sie quasi nicht um Erlaubnis baten, weder Arbeit noch Hilfe von ihnen wollten, sondern verdammt noch mal einfach eigene Symphonieorchester gründeten und eigene Banken. Die Anglos hielten das alles für ihr angestammtes Vorrecht und erwarteten ein gewisses Maß an Dankbarkeit von jedermann, der hierher kam. Das gibt es bis heute – diesen Groll kann man bis heute spüren.
Scheck: In "Zeitbeben" schrieben Sie, über Deutsche könne man kein "Vom Winde verweht" schreiben. Aber mit Dritten Reich und dem Kaiserreich wäre das dramatische Potential doch vorhanden ...
Vonnegut: Nur müsste man den Moment der Ernüchterung beschreiben, die Erkenntnis, dass der Kaiser verrückt ist oder dass Hitler verrückt ist, aber beschrieben aus der Perspektive von jemanden, der in seinem Herzen sehr stolz darauf ist, dass Deutschland zur Weltmacht aufsteigt, und der dann einen Sinneswandel durchmacht, der erkennt, dass nun die USA seine Heimat sind und dass diese Männer sich irren. Die Einwanderer aus Deutschland wollten in den USA reich werden, und das konnte man hier ja auch, wenn man Geschäftssinn hatte, sie wollten Land, und hier konnte man herrliches Land kaufen, hinzu kam aber auch, dass sie Deutschland eigentlich gar nicht so sehr mochten. Sie hassten den Adel und die religiösen Hierarchien, deshalb kamen sie hierher und wurden Amerikaner. Eine schöne Pointe ist ferner, dass unsere Oberbefehlshaber in beiden Weltkriegen deutscher Abstammung waren – General Pershing zum Beispiel, oder General Eisenhower, mein Oberbefehlshaber im Zweiten Weltkrieg, der nun wirklich so amerikanisch wie ein Hot-Dog-Wagen war. Können Sie sich vorstellen, dass wenn Eisenhower in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten wäre, man den gefragt hätte: "Warum führst Du Krieg gegen Deine Brüder?"
"Deutsche, auf die man stolz sein kann"
Scheck: Stellen Sie denn heute im Alter von 75 Jahren Wesenszüge in sich fest, die Sie für typisch deutsch halten?
Vonnegut: Und ob! Ich halte mich für das, was aus einem Deutschen wird, wenn er in Amerika lebt. Typisch deutsch an den Menschen, unter denen ich aufwuchs, war die große Bedeutung, die sie ihrer Musik, ihrer Dichtung beimaßen. Zum Glück gibt es ja auch in der Geschichte einige Deutsche, auf die man stolz sein kann. Aber danke, dass Sie fragen: Ich nehme mich schon als sehr deutsch wahr.
Scheck: Nun kann ich mir schon vorstellen, was in Ihnen vorging, als Sie 1944 als amerikanischer Kriegsgefangener zum ersten Mal nach Deutschland kamen. Sie haben eine, ironisch gesprochen, besondere Form deutscher Gastfreundschaft erlebt.
Vonnegut: Ja, aber ich hätte mir das um nichts auf der Welt entgehen lassen wollen. Ich habe so viel erlebt. Ich war an der Front, ich habe ein Gefecht mitgemacht, ich habe gesehen, wie es in Deutschland während des Krieges zuging. In Vorträgen und auch in meinen Romanen habe ich immer wieder erklärt: Niemand hat aus dem Feuersturm von Dresden einen Vorteil gezogen – bis auf einen einzigen Menschen. Niemand ist deshalb den Bruchteil einer Sekunde früher aus einem Konzentrationslager befreit worden. Kein einziger deutscher Soldat zog sich deshalb eine Mikrosekunde früher aus seiner Verteidigungsstellung zurück. Nur ein einziger Mensch auf der ganzen Welt hat einen Vorteil aus dem Feuersturm von Dresden gezogen, und wer ist dieser Mensch? Ich! Ich habe an jedem Toten fünf Dollar verdient (lacht). Ich habe mich mal mit dem Physiker Freeman Dyson unterhalten, der heute am Institute for Advanced Studies in Princeton lehrt und im Krieg in einer Schreibstube in der Royal Air Force diente. Ich habe ihn gefragt, weshalb zum Teufel die Briten Dresden bombardiert haben so kurz vor Ende des Krieges. Und er gab zur Antwort, der Impetus sei aus der Bürokratie erwachsen. Die Frage war: Wir haben nun all diese Flugzeuge, und was machen wir mit ihnen nun heute? Der Luftangriff auf Dresden war eine Idee der Briten, eine Untat der Briten, in "Schlachthof 5" habe ich das nicht geschrieben, weil ich ja ein amerikanisches Publikum erreichen wollte und wir Amerikaner Luftangriffe auf Dresden bei Tag flogen. Ich habe das immer wieder gesagt, dass nur ein Mensch von dem Angriff profitierte, und da hat mir nie jemand widersprochen.
"Ich leide an einem Überlebenden-Syndrom"
Scheck: Löst das heute in Ihnen Schuldgefühle aus oder ein schlechtes Gewissen?
Vonnegut: Das nicht – viele Freunde von mir sind im Krieg gestorben. Ich leide an einem Überlebenden-Syndrom, wenn man so will, wenn ich an all die guten Künstler denke, die ich kenne, die von ihrer Kunst nicht leben können und sich auch kein Renommee damit erwerben können. Die Erschaffung einer modernen Kultur muss man sich wie einem Angriff im Ersten Weltkrieg vorstellen: Da klettert eine ganze Generation im Morgengrauen aus den Gräben, und praktisch alle verenden im Stacheldraht, werden von MG-Salven niedergemäht oder ertrinken in Bombentrichtern, so gut wie keiner erreicht das Ziel. Ich bin einer der ganz wenigen, der das Ziel erreicht hat, und da schämt man sich schon ein wenig. Ich bin nur ein einfacher Soldat, als Mensch ja vielleicht ganz nett, aber da gab es Menschen, die wirklich Talent besaßen als Musiker oder Maler oder Schriftsteller, und die sind in so großer Zahl finanziell gescheitert.
Scheck: Wie erklären Sie sich das? Sie sind extrem populär hier in den USA und auch weltweit, in den USA erreichen Sie mit Ihren Büchern Millionen von Lesern, und diese Leser lesen doch nicht nur das eine Buch von Ihnen, es gibt doch offenbar noch ein Massenpublikum für qualitativ hochwertige Literatur – auch wenn es immer seltener funktioniert?
Vonnegut: Ich glaube, heute leben 280 Millionen Amerikaner in diesem Land. Für einen New-York-Times-Bestseller müssen Sie 200.000 Exemplare verkaufen. Daran sehen Sie ja, von welchem winzigen Bruchteil der Gesamtbevölkerung wir sprechen. Literatur auf Papier war immer eine elitäre Kunstform, weil sie ganz darauf setzt, dass der Leser selbst zum Performer wird. Literatur ist ungefähr so, als würde man ein Stück für Waldhorn komponieren und drückte diese Noten dem nächstbesten Menschen, der einem begegnet, in die Hand und fordert ihn auf, das nun zu spielen. Lesen ist nicht leicht.
"Gott sei Dank gibt es das Fernsehen!"
Scheck: Sind Sie denn heute, was Ihre Lebensspanne anlangt, eher optimistisch im Hinblick auf die Möglichkeiten der Literatur im Vergleich zu dem, wie Literatur in Ihrer Jugend betrachtet wurde?
Vonnegut: Eigentlich schon. Wie ich in "Zeitbeben" schreibe: Die meisten Menschen führen schreckliche Leben. Ich bin zum Beispiel nicht wütend aufs Fernsehen. Natürlich sind wahnsinnig gescheite Menschen wie ich und meine Freunde der Ansicht, dass das Fernsehen kompletter Schwachsinn ist, aber es hat so vielen Menschen dabei geholfen, sich die Zeit zu vertreiben, zum Beispiel Menschen im Gefängnis. 85 Prozent der Menschen in unseren Gefängnissen sind Analphabeten. Gott sei Dank gibt es das Fernsehen!
Scheck: Beneiden Sie denn das Fernsehen nicht um seine Fähigkeit, ein Massenpublikum zu erreichen, eine Fähigkeit, die die Literatur heute nur noch gelegentlich besitzt?
Vonnegut: Der amerikanische Maler Whistler, der in England malte, hat mal gesagt, wenn Sie Neid erleben wollen, verkehren Sie mit Malern! Das stimmt wirklich und gilt übrigens auch für Lyriker. Aber unter Romanciers herrscht wirklich kein Neid. Wenn da jemand phänomenalen Erfolg hat, löst das keinen Groll oder Neid aus. Warum das so ist, kann ich auch nicht erklären. Der grausame Initiationsprozess, ein veröffentlichungsfähiges Buch zu schreiben, macht uns alle zu Brüdern und Schwestern, weil es wie Sie wissen so verdammt schwer und unangenehm ist. Günter Grass hat mich mal gefragt, welcher Jahrgang ich sei. Ich antwortete 1922, worauf er sagte: Ist Ihnen klar, dass es in ganz Europa keine gleichaltrigen Männer gibt, mit denen Sie sich unterhalten können? In Europa wird man nach Jahrgängen eingezogen, in den USA nicht. Die amerikanischen Romanciers meines Jahrgangs 1922, wenn ich uns mal so nennen darf, wir sind die letzten, die noch von anderen Romanciers beeinflusst wurden. Uns haben noch Romane geprägt. Später kamen dann die Kinofilme, und jetzt das Fernsehen. Wir haben Bücher geschrieben, die in sich komplett waren. Heute sind Romane nur die eine Hälfte des Deals – wenn heute aus einem Buch nicht auch ein Film wird, gilt es als Flop. Wenn ich heute jünger wäre, würde ich es auch so machen. Da ist ja nichts Schlimmes dabei.
Begegnung mit Heinrich Böll
Scheck: Sie haben im Lauf Ihres Lebens PR gemacht ...
Vonnegut: Sogar sehr gute!
Scheck: ... und als Autoverkäufer gearbeitet. Würden Sie heute, wenn Sie noch mal von vorn beginnen müssten, sich noch einmal auf den Beruf des Autors einlassen?
Vonnegut: Ich würde heute nicht mehr heiraten. Man muss ja auch für den Unterhalt seiner Familie sorgen, und das ist heute mit Literatur furchtbar riskant. Andere Menschen gehen Berufen mit vorhersagbarem Einkommen nach, aber ich habe ja meinen Job bei General Electric aufgegeben, um Schriftsteller zu werden, obwohl ich damals eine Frau und zwei Kinder hatte, und das habe ich damals geschafft, weil es die Zeitschriften gab. Ich habe mit meinen Kurzgeschichten für die Zeitschriften so viel verdient, dass wir es uns sogar leisten konnten, nach Cape Cod zu ziehen. Aber heute wäre das nicht mehr möglich. Wenn ich heute noch mal von vorn anfangen müsste, würde ich wohl die Familie zugunsten eines Künstlerlebens aufgeben. Ich würde mir zutrauen, mich selbst irgendwie durchzubringen, aber wenn ich Frau und Kinder hätte, würde ich mich schämen. Heinrich Böll und ich haben uns angefreundet - er sprach zum Glück Englisch. Ich habe ihn nie gefragt, was er im Krieg erlebt hat.
Scheck: Er war in Russland.
Vonnegut: Ich weiß. Da gab es viel zu sehen. Er hat mir erzählt, dass er am Ende des Krieges plante zu den Amerikanern zu desertieren. Aber damals wurde man aufgehängt, wenn man dabei erwischt wurde. Wir traten mal gemeinsam in einer wirklich schlechten Sendung von der BBC auf. Und da habe ich ihn gefragt, was der Kardinalfehler im deutschen Nationalcharakter sei. Er sagte: Gehorsam.
Scheck: Heinrich Böll wurde zu einer Art moralischen Autorität in Deutschland. Würde Ihnen so eine Rolle auch gefallen?
Vonnegut: Nein. Das letzte, was er mir zu mir sagte, war: Ach Kurt, es ist so schwer, so schwer. Toller Abschiedssatz.
Scheck: Der Schriftsteller Kurt Vonnegut im Gespräch. Das Werk des 2007 im Alter von 84 Jahren gestorbenen Kurt Vonnegut liegt im Rowohlt Verlag und im Verlag Kain und Aber vor. Zum Einstieg empfehle ich Ihnen den Roman "Schlachthof 5 oder Der Kinderkreuzzug".