Das Gespräch mit William Gaddis führte Denis Scheck 1996 in Köln.
Denis Scheck: An den Anfang unseres Gesprächs möchte ich die beiden Romane von William Gaddis stellen, die letztes Jahr in Deutschland veröffentlicht wurden und auf große Resonanz stießen: die Kapitalismussatire "JR" und "Letzte Instanz", eine Satire über die Justiz und jene kuriose Passion der Amerikaner, sich gegenseitig vor den Kadi zu zerren. Die Lektüre der ersten zwanzig Seiten dieser Romane ist verglichen worden mit dem Eindruck, ein Hörspielstudio zu betreten, in dem einige Schauspieler ihren Text proben. Nun weiß ich, dass Sie gerade an einem Hörspiel arbeiten. Ein anderes Wort für Radio ist Empfänger, und dieser Begriff könnte uns als eine Metapher für unser Gespräch dienen. Ist William Gaddis ein Empfänger von Stimmen, ein Sammler der Alltagssprache, ein Archivar, der die "New York Times" mit der Schere in der Hand liest?
William Gaddis: Die New York Times ist meiner Ansicht nach eine ziemlich oberflächliche Zeitung, ich verlasse mich da eher auf andere Quellen - auf das wirkliche Leben zum Beispiel. Und wenn ich noch etwas anfügen darf: Vor vierzig Jahren habe ich in meinem ersten Roman über einen Mann geschrieben, dessen Frau ganz scharf auf die Bekanntschaft von Künstlern ist. Der Mann sagt dazu: "Dieses Verlangen, den neuesten Dichter kennenzulernen, dem neuesten Romancier die Hand zu schütteln, sich ein Stück vom neuesten Maler zu krallen - woher stammt das? Was wollen sie von einem Menschen, das sie nicht aus seinem Werk erhalten können? Was erwarten sie? Was bleibt von einem Menschen übrig, wenn er sein Werk geschaffen hat? Was ist ein Künstler außer den Schlacken seines Werks? Das menschliche Wrack im Schlepptau des Werks? Was bleibt nach der Arbeit von dem Menschen außer einigen hingestammelten Entschuldigungen?" Und ein halbes Jahrhundert später sitzen wir jetzt hier, und Sie können sich selbst überzeugen, was übrig bleibt: das menschliche Wrack.
Scheck: Man hat Sie einmal einen Law-and-disorder-Schriftsteller genannt. Können Sie sich damit identifizieren?
Gaddis: Ordnung und Unordnung ist sicher eines meiner zentralen Themen. Dostojewskij ist übrigens in meinen Augen der größte Romancier aller Zeiten. Mit jeder Figur, die er in ein Zimmer treten lässt, werden wir mit einer Leidenschaft konfrontiert. Er selbst quälte sich mit der Vorstellung, in einem chaotischen Universum zu leben, einem Universum ohne Sinn, und damit sind wir bei der Religion - diese Qual hat ihn sein Leben lang begleitet. Ich dagegen kann mich ganz gut damit abfinden, dass unser Universum völlig chaotisch ist, dass unser Dasein keinerlei Sinn hat und so weiter. Ich glaube, man spricht da von einer Aporie, das kontingente Universum im Gegensatz zur Welt des Absoluten. Dostojewskij konnte glaube ich die Vorstellung einer Welt ohne das Absolute, ohne irgend etwas nicht aushalten, und doch war ihm klar, dass es so war - das hat ihn fast in den Wahnsinn getrieben. Also, diese Faszination von Ordnung und Unordnung hat mir auch in meinem letzten Buch, "Letzte Instanz", das Thema Justiz vorgegegeben. Das Zivilrecht - und mich interessiert nur das Zivilrecht, nicht das Strafrecht - das Zivilrecht stellt einen Versuch dar, unser Zusammenleben als vernünftige Menschen zu regeln, ohne dass wir unsere gegenseitigen Rechte verletzen. Doch inzwischen hat zumindest in Amerika das eigentliche Ziel des Rechts, nämlich Ordnung herzustellen, zu völliger Unordnung geführt, denn jeder verklagt jeden, und dann gibt's eine Gegenklage, und dann geht's in die Berufung, und dabei sind riesige Geldsummen im Spiel. Das hat zu der Unordnung beigetragen, in der wir heute meiner Ansicht nach leben. Vielen Dank - und weiter geht's.
Scheck: Vielleicht sollte man mal den ersten Satz von "Letzte Instanz" zitieren. Da heiß es: "Gerechtigkeit? Gerechtigkeit gibt's im Jenseits, hier auf Erden gibt's das Recht." Ich habe nie eine kürzere Absage an den amerikanischen Traum gelesen. Können Sie mit dieser Interpretation leben?
Gaddis: Ich muss gestehen, dass ich auf diesen Satz im Verlauf einer recht schwierigen Scheidung gekommen bin. Ich beschwerte mich da bei meinem Anwalt und sagte: "Also das kann doch nicht sein, das ist doch nicht gerecht!" Und der antwortete: "Gerechtigkeit gibt's im Jenseits, hier auf Erden gibt's das Recht."
Scheck: Noch mal zurück zum Dialog- oder Polylog-Roman. Die französische Schriftstellerin Nathalie Sarraute hatte dagegen starke Vorbehalte, sie fand, er rücke die Literatur "in gefährliche Nähe zur Domäne des Theaters". Kommt das Ihren Idealen beim Schreiben nahe?
Gaddis: Eigentlich glaube ich, dass dieser Vorgang zwischen dem Leser und der gedruckten Seite stattfinden muss. Aber ich glaube immer noch, dass es beim Schreiben um etwas geht, was zwischen der Seite und dem Leser stattfindet. Heute gibt es diesen ganzen Zirkus der Lesungen. Der englische Lyriker Philip Larkin spricht davon, dass man mit Gedichten nicht viel Geld verdienen kann, aber sehr viel Geld damit, Dichter zu sein. In Amerika ziehen die meisten Schriftsteller, die ich kenne, durch die Lande und geben eine Lesung nach der anderen. Nun muss ich einräumnen, daß zwischen Poesie und Prosa ein Unterschied besteht, da gibt's die Tradition der Barden und so weiter. Ich war mal mit Allen Ginsberg in Russland. Wenn ich Dichter wäre und jemand von mir verlangte, Gedichte vorzusingen, würde ich aus der Haut fahren. Aber Ginsberg hat die ganze Zeit gesungen, Walt Whitman, und das hat den Leuten gefallen. Aber in meinen Augen eignet sich Prosa nicht zum öffentlichen Vortrag, sie soll zwischen dem Leser und der Buchseite bleiben. In diesem Zusammenhang fällt mir Charles Dickens ein. Der hatte es auch mit dem Theaterspielen. Für den war Schreiben etwas, das ganz eng mit dem öffentlichen Vortrag zusammenhing. Und Oscar Wilde hat dann ja auch eine entsprechende Bemerkung zu der Szene mit dem Tod der kleinen Nell gemacht. Dickens pflegte diese Szene offenbar vorzutragen: "Sie war tot. Die liebe, sanfte, geduldige, edle Nell war tot. Ihr kleiner Vogel, ein armes zerbrechliches Ding, das ein Fingerdruck zermalmt hätte, trippelte flink in seinem Käfig herum, und das starke Herz seiner kindlichen Herrin lag auf Ewigkeit still und reglos." Oscar Wilde sagte nun, jeder der vom Tod der kleinen Nell lesen könne, ohne lauthals loszulachen, müsse ein Herz aus Stein haben. Das bringt meine Haltung zu all dem recht gut zum Ausdruck.
Scheck: Ein übersetztes Buch nimmt ein neues Leben an, wenn es in einer fremden Sprache erscheint - wird es dadurch sozusagen verjüngt?
Gaddis: Nach allem, was ich höre, findet das Buch seine Leser. Und das macht mich in jeder Sprache froh. Herman Melville hat einmal gesagt, in Amerika gebe es nur ein halbes Dutzend Kritiker, und die Hälfte von denen schlafe. Das ist jetzt ungefähr hundertfünfzig Jahre her. Melville teilte mit Hawthorne den Wunsch, Erfolg zu haben, er wollte gelesen werden, und war dann entsetzt von der Aussicht auf echte Popularität, dass einen die Massen umarmen. Diese Tradition, dieser Zwiespalt, setzt sich in meinen Augen bis heute fort. Nicht dass ich Gefahr liefe, irgend jemandem Leser abzuwerben - aus irgendeinem Grund fällt mir heute immer der Name Stephen King ein. Aber ich glaube, Sie verstehen, was ich meine. Lassen Sie moch noch etwas hinzufügen, was ich ganz interessant finde. Es gibt ein Publikum, das bereits da ist, und manche populäre Romanciers schreiben für dieses Publikum. Bei "literarischen Büchern" - das ist auch so ein Neologismus - gibt es kein Publikum, bis es einen Leser gibt, und dieser Leser und der Autor stimmen dann entweder überein oder tragen einen Konflikt aus. Diese Unterscheidung hat meiner Ansicht nach viel mit dem zu tun, um was es in Amerika heute geht - Hollywood ist überall, wir sind ein Unterhaltungsvolk, wir wollen unterhalten werden, und zwar passiv unterhalten. Soviel also dazu.
Scheck: Aber sehen Sie diese Schlacht um die ernste Literatur im Gegensatz zu dem, was Sie Unterhaltung nennen, nun als verloren an?
Gaddis: Ja, es war von Anfang an eine verlorene Schlacht. Es geht nur darum, wie man das Spiel spielt oder die Schlacht schlägt. Verloren hat man von Anfang an. Und ganz besonders in jenem Bereich, den Sie ansprechen. Also mit einem Wort: Ja.
Scheck: Am Anfang Ihrer Karrriere stand ein anderer Roman, ein Roman, der noch nicht ins Deutsche übersetzt ist - "The Recognitions". In meiner Ausgabe umfasst der Roman knapp 1000 Seiten, das erste Kapitel trägt die Überschrift "The First Turn of the Screw", das verweist natürlich auf Henry James, und dann gibt es noch ein Motto auf Deutsch, von niemand Geringerem als von Goethe, es stammt aus Faust Zweiter Teil: "Was gibt es denn?//Es wird ein Mensch gemacht." Das scheint ja nun ein überaus ambitioniertes Buch zu sein. Haben Sie versucht, mit ihrem ersten Buch den großen amerikanischen Roman zu schreiben?
Gaddis: Mit 27, 28 will man das natürlich. Ich wollte das größte Buch aller Zeiten schrieben. Ich erinnere mich noch an meine erste Kritik im "New York Times Book Review". Da stand zu lesen: "Mr. Gaddis beliebt es, ein Spiel zu spielen mit den wenigen Lesern, die sein Buch möglicherweise finden mag." Und in diesem Ton ging das weiter. Sich das Ziel zu setzen, ein Meisterwerk zu schreiben, gefiel dem Rezensenten nicht. Der Roman war damals nicht gerade ein Erfolg, aber er hat überdauert. Das ist mein Motto: Überdauern ist alles. Ich habe einen Freund, Larry Gagothian, den Kunsthändlern. Vor ein, zwei Jahren habe ich zu ihm gesagt: Mein Gott, Larry, es sterben so viele Schriftsteller. Und er sagte: Ja, aber es sterben auch viele Leser. Daran muss ich oft denken.
Scheck: Wollen wir uns nun dem zweiten Roman zuwenden, aus dem wir heute etwas hören werden: "In letzter Instanz" (... Es folgt eine Lesung) Hans Zischler las aus "Letzte Instanz". Davor hörten Sie ein Gespräch mit William Gaddis. Das Werk des 1996 im Alter von 75 Jahren gestorbenen William Gaddis liegt im Rowohlt und bei btb vor. Zum Einstieg empfehle ich Ihnen den Roman "Letzte Instanz" aus dem Deutschen von Nikolaus Stingl.
William Gaddis: Letzte Instanz
Aus dem Amerikanischen von Nikolaus Stingl
Rororo, 720 Seiten, 12,00 Euro
Aus dem Amerikanischen von Nikolaus Stingl
Rororo, 720 Seiten, 12,00 Euro