Wütende Bürger schreien Politiker zusammen. Polizeibeamte in grünen Westen schirmen sie ab. Szenen wie diese häufen sich in Großbritannien. Betroffen: Vertreter aller Parteien. Die einen, weil sie den Brexit nicht liefern, die anderen, weil sie ihn nicht wollen. Der Mob: In der Regel Brexit-Befürworter, Bürger, die 2016 für den Austritt gestimmt haben. Die sich betrogen fühlen. Die die Nase voll haben von der Politik. Seit dem Referendum hat sich das Klima im Land vergiftet. Vor allem weibliche Unterhaus-Abgeordnete werden beleidigt, verunglimpft, mit dem Tode bedroht. Rund um die Uhr. Viele von ihnen treten bei der Dezember-Wahl genau deswegen nicht mehr an. Heidi Allen von den Liberaldemokraten ist eine von ihnen:
"Man wird jeden Tag angegriffen. In E-Mails, in den sozialen Medien, Leute schreien Dich auf der Straße an. Es ist absolut brutal geworden. – Ich dachte, ich halte das aus. Aber letzte Woche habe ich eine besonders ekelhafte Mail bekommen. Und da dachte ich: Wisst Ihr was? Niemand muss sich so etwas an seinem Arbeitsplatz gefallen lassen."
Die Mail bezog sich darauf, dass Heidi Allen einmal abgetrieben hat. Leicht vorstellbar, wie sehr unter der Gürtellinie sie formuliert war. David Lidington von den Tories hat oft mit betroffenen Parlamentskolleginnen gesprochen. Er zählt besonders gebräuchliche Beleidigungen auf:
Auch Familienangehörige werden bedroht
"Antisemitisch, frauenfeindlich, rassistisch. Menschen, bei denen so etwas eingeht, haben verständlicherweise Angst." - Und es geht nicht allein um die Politiker, sondern auch um ihre Familien."
Anna Soubry kämpft nach ihrem Austritt bei den Tories als unabhängige Abgeordnete gegen den Brexit:
"Meiner 85jährigen Mutter wurde ein Brief nach Hause geschickt, in dem ihre Sicherheit bedroht wurde. Mein Partner hat eine Trauerkarte bekommen, in der stand: Jetzt, wo Deine Freundin tot ist, holen wir Dich. Das wurde ihm nach Hause geschickt."
Die Angreifer wissen also, wo Anna Soubrys Familie wohnt. Und so geht es vielen im Parlament. Die Angst wächst. Zumal es im Brexit-Krieg schon ein Todesopfer gegeben hat. Kurz vor dem Referendum hatte ein Mann die Labour-Abgeordnete Jo Cox auf offener Straße angeschossen und auf sie eingestochen. Der Mörder rief dabei: "Britain first!". Jo Cox‘ Parteifreundin Paula Sherriff macht für die steigende Gewaltbereitschaft in Großbritannien auch den Premierminister verantwortlich. Mit seiner Sprache radikalisiere er das Land, klagte sie Boris Johnson kürzlich im Parlament an:
Boris Johnsons hat zur Radikalisierung beigetragen
"Wir stehen hier unter dem Schild unserer verstorbenen Freundin. Viele von uns werden jeden Tag mit dem Tod bedroht oder beleidigt. Und die zitieren oft Ihre Worte, Premierminister: Aufgabe, Betrug, Verräter. Ich bin das so satt. Wir müssen unsere Sprache mäßigen. Und als allererster muss der Premierminister das tun."
Tatsächlich gehören diese Worte zu Johnsons Standardrepertoire, wenn er beteuert, mit dem Brexit den Volkswillen umsetzen zu wollen. In seiner Antwort an Paula Sherriff setzte er noch einen drauf:
"Humbug: Das sagt der politische Führer Großbritanniens, wenn gewählte Abgeordnete um ihr Leben fürchten und ihn bitten, nicht noch mehr Öl ins Feuer zu gießen?"
Nicht allein das Parlament revoltierte. Boris Johnsons Schwester Rachel ging Tags darauf im Fernsehen mit ihm ins Gericht:
"Mein Bruder benutzt Worte wie Kapitulation – als ob diejenigen, die dem geheiligten Willen des Volkes im Weg stehen, gehängt, gestreckt, geteert und gefedert gehörten. Und ich finde, das ist eine sehr verwerfliche Sprache."
Aber eine, die zur Spaltung des Landes für oder gegen den Brexit passt. Die regierungsnahe Presse schreibt, wie Boris Johnson redet. Beide großen Parteien haben sich im Streit über das Thema radikalisiert. Johnson wie Jeremy Corbyn sind polarisierende Persönlichkeiten. Es ist nicht die Zeit der Zwischentöne oder politischen Kompromisse. Und Besserung ist nicht in Sicht. In Großbritannien hat gerade der Wahlkampf begonnen.