Tagelang fiel die Asche der verbrannten Bücher auf Sarajevo herab. Am 25. August 1992 bombardierten serbische Milizen die National- und Universitätsbibliothek von Bosnien und Herzegowina. Angestellte bildeten eine Menschenkette, um wenigstens die kostbarsten Bücher aus dem brennenden Gebäude herauszuholen.
"Die Bibliothek geriet nicht versehentlich ins Kreuzfeuer eines Regionalkrieges, sondern wurde gezielt von serbischen Truppen anvisiert, die nicht nur militärische Vorherrschaft, sondern die Auslöschung der muslimischen Bevölkerung anstrebten. Kein anderes Gebäude der Umgebung wurde getroffen – die Bibliothek war das einzige Ziel."
Richard Ovenden, Bibliothekar und Direktor der Bodleian Library an der Oxford University, entfaltet in seinem fesselnden Buch "Bedrohte Bücher" das Panorama einer in der Menschheitsgeschichte scheinbar nie endenden Wissensauslöschung. Er beginnt mit dem 10. Mai 1933, als Tausende zu einem Feuer auf Berlins Hauptstraße Unter den Linden strömten.
"Junge Männer in Nazi-Uniformen standen um das Feuer herum und hoben den Arm zum Hitler-Gruß. Die Studenten waren eifrig bemüht, sich bei der neuen Regierung einzuschmeicheln, und diese Bücherverbrennung war eine sorgfältig inszenierte Publicity-Aktion."
Repressive Regime beschneiden Bildungsmöglichkeiten
Der Autor seziert in 15 leicht lesbaren Kapiteln die Methoden und Motive derjenigen, für die Übergriffe auf Texte Teil einer bewussten politischen Strategie sind. Die serbische Miliz etwa nahm auch lokale Archive, Grundbücher und sogar Grabstätten ins Visier. Nichts sollte mehr auf eine multikulturelle Bevölkerung hindeuten. Das sei typisch für repressive Regime, so Ovenden. Sie beschränkten Vielfalt und Meinungsaustausch.
"So begann das Regime von Recep Tayyip Erdoğan in der Türkei im August 2019, die mit seinem Gegner Fethullah Gülen verbundenen Bücher zu vernichten. Bislang wurden 300 000 Exemplare aus Schulen und Bibliotheken entfernt."
Anstoß für das Buch habe die Entrüstung darüber geliefert, dass in jüngster Zeit die Angriffe auf Bibliotheken und Archive zugenommen haben. Dabei seien sie weit mehr als nur Literaturlager. Durch die Aufbewahrung von Rechtsdokumenten und Staatsbürgerschaftsregistern stützen sie auch die Rechte der Bürger.
"Die Enthüllung, dass das britische Innenministerium die sogenannten Landkarten, die das Eintreffen von Migrantinnen und Migranten der ‚Windrush-Generation‘ in Großbritannien dokumentierten, 2010 vernichtet hatte, belegt die Wichtigkeit von Archiven."
Immer gibt es Menschen, die Übergriffe verhindern
Denn diese Dokumente hätten Betroffenen den Anspruch auf die britische Staatsbürgerschaft beweisen können. Gesammeltes Schriftgut sei bedroht, seit es Bücher auf Pergament und Tierhäuten gibt, sagt Ovenden. Und immer auch gibt es Menschen, die Übergriffe zu verhindern versuchen. Sie sind die Helden, denen er ein Denkmal setzen möchte. Eines der Kapitel handelt von der "Papierbrigade": Juden, die im Ghetto von Wilna gezwungen wurden, beim Aufspüren jüdischer Bücher zu helfen.
"Einer der Ghettoeinwohner, Gershon Abramovitsh, der vor dem Krieg als Bauingenieur tätig war, baute achtzehn Meter unter der Erdoberfläche einen Bunker mit eigener Belüftung, Stromversorgung und sogar einen Tunnel, der in einen Brunnen außerhalb des Ghettos führte."
Der Respekt des Autors vor dem Mut der Bücherretter ist in den vielen liebevoll geschilderten Anekdoten spürbar. Unweigerlich fragt man sich, wie wohl die Welt heute aussehen würde, wenn noch mehr Tragödien hätten verhindert werden können. Ovenden blickt zurück bis zum Bibliotheksbrand von Alexandria, erzählt von der Öffnung des Stasi-Archivs und endet bei Facebook und Twitter.
"Diese Unternehmen haben völlig andere Motive als die Institutionen, die der Gesellschaft traditionell Wissen zugänglich gemacht haben. Wenn Unternehmen wie Google Milliarden Buchseiten digitalisieren und online verfügbar machen und wenn Firmen wie Flickr kostenlos Speicherkapazitäten im Internet bereitstellen, welchen Zweck erfüllen dann noch Bibliotheken?"
Tech-Unternehmen sollen unser Gedächtnis finanzieren
Traditionelle Wissensspeicher, warnt Ovenden, sind heute besonders anfällig für politisierte Angriffe. Sie werden von der öffentlichen Hand vernachlässigt oder gleich geschlossen. Die Regierungen sollten nicht wegschauen, sondern dagegenhalten, etwa mit einer "Gedächtnissteuer".
"Man könnte von den Technologiekonzernen, die an uns allen so viel verdienen und so wenig an regulären Unternehmenssteuern bezahlen, verlangen, dass sie den Bereich finanzieren, den sie mit ihrer Tätigkeit untergraben: das gesellschaftliche Gedächtnis."
Der Albtraum einer ausgelöschten Vergangenheit stehe uns unmittelbar bevor, meint Ovenden, wenn jedes Jahr historisch relevante Textnachrichten von Politikern nicht dokumentiert werden. Ganze Websites verschwinden nach nur wenigen Betriebsjahren. Da wären auch noch Cyberangriffe, die Bibliotheksserver zum Absturz bringen. Oder "Fake News" und manipulierte Datensätze.
"Je länger wir nachhaltige Bemühungen hinauszögern, die großen Social-Media-Plattformen zu archivieren, umso mehr wird unsere Gesellschaft geschwächt. Denn dadurch verlieren wir ein Gespür für den Reichtum menschlicher Interaktionen und sind nicht mehr imstande zu begreifen, wie die sozialen Medien unsere Gesellschaft beeinflussen und prägen."
Die Botschaft von Ovenden ist entwaffnend einfach: Wenn Wissen und Wahrheit auf dem Spiel stehen, dann sind Bibliotheken und Archive die beste Verteidigung. Er betritt zwar mit seinem sorgfältig recherchierten Manifest kein neues Terrain, ordnet aber sein Material zu einer stets einleuchtenden Argumentation, getragen von einer ansteckenden Begeisterung für die Schätze, die er selbst hütet - eine persönlichere Liebeserklärung an die Freiräume schaffende Kraft der Buchstaben wird man so schnell nicht finden.
Richard Ovenden: "Bedrohte Bücher. Eine Geschichte der Zerstörung und Bewahrung des Wissens",
aus dem Englischen von Ulrike Bischoff,
Suhrkamp Verlag, 416 Seiten, 28 Euro.
aus dem Englischen von Ulrike Bischoff,
Suhrkamp Verlag, 416 Seiten, 28 Euro.