Beethoven: 7. und 8. Sinfonie
Am Mikrofon begrüßt Sie dazu Ludwig Rink. Heute soll es um Beethoven gehen, seine beiden Sinfonien Nr. 7 und Nr. 8, eingespielt vom Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR unter Leitung seines Chefdirigenten Roger Norrington. 1987 war Roger Norrington einer der ersten gewesen, der die Grenzlinien historischer Aufführungspraxis vom Barock in Richtung Klassik verschob, indem er nun auch Beethovens Sinfonien aus dem Blickwinkel dieser Praxis beleuchtete und sie mit seinen London Classical Players auf historischen Instrumenten aufführte. Vor diesem Hintergrund kann man zurecht erwarten, dass er auch einem gestandenen Rundfunk-Sinfonieorchester wie dem aus Stuttgart nicht "seinen" Beethoven lässt, wie er durch langjährige Praxis im Repertoire ist, sondern auch da Neues, Überraschendes, Ungewohntes ans Tageslicht bringt. * Aus: Sinfonie Nr. 8 F-Dur 2. Satz: Allegretto scherzando Schon dieser 2. Satz aus Beethovens 8. Sinfonie zeigt mit großer Deutlichkeit, worauf es Norrington ankommt. Klarheit, Durchsichtigkeit stehen im Vordergrund, kein Detail wird zur Nebensache, alles erscheint überlegt und sinnvoll in den größeren Zusammenhang eingebettet. Selten hört man die typisch beethovenschen Akzente so genau und überzeugend ausgeführt, selten wirken die Gewichtungen zwischen den einzelnen Stimmen und Gruppen derart natürlich. Mit großem Gespür entdeckt Norrington dabei in der Partitur das zu Beethovens Zeit Neue, Gewagte, Ungewohnte und Unerhörte. Dies herauszuarbeiten und darzustellen ist sein Ziel, darauf kommt es ihm an, nicht auf säuselnden Schönklang und eingeebnete Widersprüche. Wenn man hört, wie er das Besondere an Beethoven definiert, kann einem fast bang werden. "Bei Beethoven will ich viel vom Klassizismus hören", sagt er, "viel Gefahr und auch Leidenschaft. Beethoven ist ein Sonderfall: sehr klassisch, nicht typisch für das 19. Jahrhundert, sehr aggressiv, sehr dramatisch. Also muss man bei Beethoven viel verstehen und viel riskieren. Man kann ihn nicht angenehm spielen, er ist nicht liebevoll. Beethoven kann ganz schön langweilig sein, aber auch total spannend...es gibt noch viel zu entdecken!" * Aus: Sinfonie Nr. 7 A-Dur, 4. Satz Allegro con brio Der Beifall hier am Ende von Beethovens 7. Sinfonie zeigt es: Auch bei der neuen Aufnahme handelt es sich einmal mehr um einen Konzertmitschnitt - echte ausgefeilte Studioaufnahmen werden vor allem im Bereich der größer besetzten Orchestermusik immer seltener, das können sich Schallplattenfirmen in heutigen Zeiten kaum noch leisten. Aber in diesem Fall ist Wehklagen darüber nicht angebracht, denn die Musiker des Stuttgarter Radio-Sinfonieorchesters kamen im Spätsommer 2002 bestens präpariert auf die Bühne der Stuttgarter Liederhalle, als sie im Rahmen des Europäischen Musikfestes an fünf Abenden sämtliche neun Sinfonien Beethovens aufführten. Und trotz dieser umfangreichen Gesamtschau hatte Norrington die Musik offensichtlich bis in die Details hinein neu erarbeitet. Besonders auffällig ist die Wahl der Tempi: Bei der Freilegung der historischen Substanz wurden hier, deutlich hörbar, gerade die Temporelationen der einzelnen Sätze zueinander neu festgelegt. Vergleicht man die Dauern dieser Sätze mit anderen Einspielungen von so unterschiedlichen Musikern wie Furtwängler, Karajan, Böhm, Masur, Gardiner oder Haitink, so stellt man nicht selten Abweichungen von 30% und mehr fest, wobei Norrington nicht unbedingt immer der schnellste, sondern oft, wie beim eben gehörten Satz, eher einer der langsamsten ist, der jede Einzelheit, jede Dissonanz, jede Neuheit im beethovenschen Komponieren hellwach, immer hörend, mit hoher Intensität auslotet. Aber auch deutlich schnellere Tempi im Vergleich zum Durchschnitt finden sich: Der Trauermarsch der Siebten, anderswo mit dunklem Pathos mehr als neun Minuten lang geradezu zelebriert, erscheint bei Norrington viel leichter, fast tänzerisch, und dauert gerade einmal sechseinhalb Minuten. Damit stellt Norrington die Frage neu, warum bei Beethovens Siebter drei Sätze voller Kraft, orgiastischer Rhythmik, voller Übermut und Raserei von einer solchen Klage unterbrochen werden. Das Uraufführungspublikum stellte sich diese Frage nicht, denn es traf sich, dass diese Sinfonie Teil eines Benefizkonzertes war, bei dem es um "patriotische Unterhaltung" zugunsten frischgebackener bayerischer und österreichischer Kriegsinvaliden ging. Doch Beethoven hatte die Musik bereits zwei Jahre zuvor fertiggestellt, und da marschierte die "Grande Armée" noch mit Hurra in Russland ein und jeder dachte wohl eher an siegreiche Helden als an Invalidität und Tod. Peter Schleuning wagt daher im Beiheft zur CD die These, dass eher Persönliches als Politisches bei der Frage nach dem Trauermarsch eine Rolle gespielt haben könnte und verweist auf den Brief an die "Unsterbliche Geliebte" aus dem gleichen Jahr 1812, der vom Glück, von den Problemen und vom Unglück einer großen Liebe spricht.... * Aus: Sinfonie Nr. 7 A-Dur, 2. Satz: Allegretto Das Konzept, ans Chefdirigentenpult eines auf modernen Instrumenten spielenden Rundfunk-Sinfonieorchesters einen Maestro zu berufen, der von der historischen Aufführungspraxis kommt, trägt im Falle von SWR Stuttgart und Norrington reiche Frucht. Zur Kompetenz im groß besetzten romantischen Repertoire und zum allen Rundfunkorchestern eigenen Bereich der Moderne gesellt sich hier zunehmend die Fähigkeit, auch spezialisiert historisch musizieren zu können. In diesem Falle bedeutet dies nicht automatisch die Verwendung historischer Instrumente: nur manche Bläser und die Pauken sind hier aus Beethovens Zeit. Aber die ganze Herangehensweise an die vertrauten Partituren ist von den neuen historischen Erkenntnissen geprägt: von der Phrasierung, der Artikulation und Dynamik über die Tempowahl bis hin zum viel vibrato-ärmeren Spiel. Ergebnis ist in der Tat ein neuer, spannender Beethoven, vorgetragen mit Dramatik, Überschwang und Kraft, aber auch mit viel Esprit und Humor. * Aus: Sinfonie Nr.8 F-Dur, 4. Satz "Allegro vivace" Die Neue Platte - heute mit Ludwig van Beethovens Sinfonien Nr. 7 und 8, die bei Hänssler als fulminante Live-Mitschnitte erschienen sind, mit dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR unter der Leitung von Roger Norrington. Im Studio verabschiedet sich Ludwig Rink.