Im "Beethoven-Projekt", dem neuen Ballett von John Neumeier, geht es zu wie in so vielen seiner einhundertneunfünfzig – ca – Ballette zuvor. Im Zentrum steht ein Genie, ein waches, agiles, dann wieder zauderndes, sich unter dem Flügel auf der Bühne zusammenkauerndes Genie. Ach, musikalische Hochbegabung, Du bescherst den Betroffenen so viele Nachteile. Ach, denkt man als Bildungsbürgerin im behaglichen Staatsopernparkettsessel – irgendwie ist es ja auch ganz gut, so bürgerlich zu sein, diese Künstler haben es ja auch wirklich nicht leicht.
Aber schön sind sie. Traumhaft angezogen, wahnsinnig schöne Oberkörper die Männer, man kann kaum glauben, dass man vom Tanzen solche Oberkörper kriegt.
Magische Täuschung
Alles andere hat man schnell vergessen. Westen und Kniehosen bringen etwas Beethoven-Zeitgefühl in ein ansonsten gefühliges, tanztheaterhaft dahinplätscherndes Ballett. Eine Beethoven-Nummerncollage ist das, in der Broadway-hafter Überschwang sich mit dem Unters-Klavier-Kauern nahezu übergangslos abwechseln.
Das Hamburgballett ist wirklich ein Phänomen. Es ist wie eine der magischen Täuschungen in Harry Potter – wie die Illusion von etwas Gutem, wie die Projektion schöner Träume, Bilder von etwas, das wir uns im tiefsten Inneren wirklich wirklich wünschen – aber eben nur eine Täuschung.
Trivialer Ansatz
Denn John Neumeier ist nicht Goethe, nicht John Updike oder Philipp Roth, auch nicht Joanne K. Rowling, sondern so etwas wie die Rosamunde Pilcher des Balletts. Pilcher schreibt Trivialromane, das Sentimentale ist ihr alleiniges Thema, Schicksal, Drama, Happyend. Neumeier zieht sich mit dem Schaffen Beethovens zurück und entscheidet dann, welche Werke er zu choreografieren gedenkt – hier sind es die Eroica-Variationen, Kammermusik, dann das Prometheus-Ballett und schließlich die Eroica.
Verglichen mit den paar Wörtern und dramaturgischen Tricks, die Pilcher beherrscht, um mit 200 Seiten Liebesgeschichte Millionen zu verdienen, managt Neumeier ein paar schwierige Arbeitsschauplätze mehr. Seine Compagnie ist groß und tanzt sein post-neoklassisches Gefühls-Auf-und-Ab fantastisch. Die Tänzer des Hamburgballetts sind technisch unglaublich gut. Und unter ihnen sind interessante Persönlichkeiten. Eigentlich kann man nur raten, warum sie es besser finden in Hamburg zu tanzen als irgendwo, wo sie ein breiteres, wirkliches Repertoire tanzen könnten.
Schweres Künstlerschicksal
Aber dann darf man nicht vergessen, dass Tänzer nicht sehen, worin sie tanzen und nach ganz anderen Kriterien entscheiden, wo sie arbeiten.
Jedenfalls ist John Neumeier jemand, der Bestseller choreografiert, in denen es um große Gefühle geht und in denen mal endlich klar wird, wie schwer und tragisch es ist, ein Künstler zu sein. Und das macht er eben nicht als Hollywood-Regisseur von "Titanic" oder als Schriftsteller von Liebesgeschichten, sondern als Choreograf. Und er meint das ganz, ganz ernst. Im Programmheft erklärt er, er hätte die Mittelohrentzündung, an der er nach Proben zu seinem neuen Ballett "Beethoven-Projekt" erkrankte, womöglich aus Überidentifikation mit dem im Alter ertaubten Beethoven bekommen.
Ja vielleicht. Vielleicht verliert man auch den Überblick, vor lauter Introspektion.